Donnerstag, 18. April 2024

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Dokumentation "Der Letzte der Ungerechten"
Scheherazade im Ghetto Theresienstadt

Von Hartwig Tegeler | 06.05.2015
    Claude Lanzmann (l) und Benjamin Murmelstein in einer Szene von "Der Letzte der Ungerechten"
    Claude Lanzmann (l) und Benjamin Murmelstein in einer Szene von "Der Letzte der Ungerechten" (Koch Media / dpa)
    Der unfreiwillige jüdische Funktionär im Ghetto Theresienstadt: Im Bild der Scheherazade aus dem Märchen von 1001 Nacht beschreibt sich Benjamin Murmelstein. Jemand, der überlebt, weil er Märchen immer weitererzählt. Auch Murmelstein gibt zu, dass er als sogenannter "Judenältester", "eine Figur, die man aufgebaut hat, um sie dann umzubringen, bis man sie nicht mehr gebraucht hat."
    Murmelstein konzediert, dass auch er, wie Scheherazade, immer Märchen erzählt hat über diesen Ort, den Adolf Eichmann als "Modell Ghetto" bezeichnete.
    "Der Führer schenkt den Juden eine Stadt".
    Claude Lanzmann schildert dieses Leben in einer Geisterwelt, wie er sagt, im Prolog zu seinem Film "Der Letzte der Ungerechten".
    "Für die Toten reicht ein Leichenwagen nicht aus. Man transportiert 30 Leichen auf einmal auf einem großen Anhänger. Der Bestattungsritus, stets kollektiv für 30 bis 40 Tote, vollzieht sich viermal täglich in einer Baracke nahe der Schranke."
    Benjamin Murmelstein gelang es als "Judenältester", das Ghetto bis in die letzten Kriegstage zu erhalten und so mehr als 120.000 Juden vor der Vernichtung zu retten. Auch dies ist sein Selbstbild:
    "Ach wissen Sie, wer zwischen Hammer und Amboss ist, der kann manchen Streich abfangen. Das heißt, dass der Schlag, der von oben kommt, nicht zum Amboss kommt. Aber er erwischt alle Schläge, ihm bleibt kein Schlag erspart."
    Doch Murmelstein war unter den Holocaust-Überlebenden heftig umstritten. Murmelstein, der Kollaborateur! War er verantwortlich für die Listen derjenigen, die von Theresienstadt nach Auschwitz deportiert wurden? Die Frage schwingt immer mit im Film. Im Interview mit Lanzmann weicht der damals 70 Jahre nie aus, sucht neben der Beschreibung der Abläufe im Ghetto immer wieder diese Bilder der Selbstvergewisserung. Scheherazade oder das der Marionette, die selber die Fäden ziehen muss:
    "Da waren Sachen, nicht wahr, zum Weinen, zum Lachen, besonders, wenn man jung und gesund ist. Und man immer gehofft hat, so und so viel Leute heraus zu kriegen."
    Gegen Ende des Films tritt Claude Lanzmann dann allerdings aus der Rolle des allein um Fakten ringenden Interviewers heraus:
    Lanzmann: "Etwas stört mich."
    Murmelstein: "Na?"
    Lanzmann: "Wenn man Sie sprechen hört, hat man nie das Gefühl, dass Theresienstadt, dass Tausende umkamen und dass wieder Tausende nach Auschwitz deportiert wurden. Es gibt kein menschliches Gefühl in Ihrem Reden über Theresienstadt."
    Murmelstein: "Der Chirurg, der sich während einer Operation dazu hinreißen lässt, über den Kranken zu weinen, bringt ihn um."
    Indem Claude Lanzmann Murmelstein faktisch rehabilitiert - er rettete, soweit Rettung möglich war -, relativiert der Filmemacher aber einfache moralische Kategorien und entwirft eine bedrückende historische Vergegenständlichung dieses Satzes des Philosophen Theodor W. Adorno, dass es kein richtiges Leben im falschen geben kann. Denn mit dem Wissen desjenigen, der alles gesehen hat, was der Mensch ist, wischt Murmelstein und damit mit ihm der Filmemacher Claude Lanzmann jede Gedenktage-Andacht oder jeden Erinnerungs-Kitsch vom Tisch.
    Murmelstein, der Überlebende, sagt in "Der Letzte der Ungerechten" - ein Film, dreieinhalb Stunden lang und, ob Sie es mir glauben oder nicht, unfassbar spannend:
    "Alles hat es gegeben. Schauen Sie, es gibt einen Roman, 'Die Freunde', da heißt es: Wenn man in 100 Jahren sagen wird, die Insassen der Gettos waren lauter Heilige: Keine größere Lüge wird es geben, denn es waren Märtyrer, aber nicht jeder Märtyrer ist ein Heiliger."
    Claude Lanzmann konfrontiert uns in diesem Meisterwerk des Dokumentarfilms, das gleichberechtigt steht neben seinem Opus Magnum "Shoah", mit einer unangenehmen Wucht von moralischer Komplexität. Weil es im Kern um die Frage geht: Wie hat das Überleben in der Hölle der Vernichtungsmaschinerie der Nazis ausgesehen? Und mit der Frage zwingt uns Claude Lanzmann etwas auf, was wir nicht wissen wollen. Weil, wenn wir die Antwort bereit sind zu hören, durchdrehen müssen.