Letzter Ausweg Kriminalität

31.05.2011
Alle Hoffnungen der Familie ruhen auf Kingsley, dem Erstgeborenen. Doch ohne Beziehungen findet man in Nigeria keine Stelle. Hier kommt Onkel Boniface, genannt "Cash Daddy", ins Spiel - er ist mit Internetbetrug sagenhaft reich geworden.
"Nigeria ist ein Land, in dem Milch und Honig fließt, bloß dass die Milch in Flaschen ist und der Honig in Gläsern" – diese Lebensweisheit bekommt Kingsley von seinem Vater mit auf den Lebensweg, aber leider nicht die Anleitung zum Öffnen der Flaschen und Gläser. Kingsley ist der Opara, der Erstgeborene seiner Familie. Seine Eltern haben studiert, Bildung ist für sie das Wichtigste auf der Welt. Doch nach glücklichen Zeiten ist der Vater krank geworden. Von der kleinen Rente des ehemaligen Staatsangestellten kann die Familie kaum überleben. Alle Hoffnungen ruhen auf Kingsley, der sein Studium als Chemieingenieur mit Auszeichnung abgeschlossen hat. Doch ohne ein "longleg", ohne Beziehungen, findet er bei den großen Ölfirmen keine Stelle. Als sich dann auch noch seine Verlobte einem vermögenderen Heiratskandidaten zuwendet, bricht Kingsleys Welt zusammen.

Da kommt der jüngere Bruder seiner Mutter ins Spiel. Onkel Boniface wird von allen nur Cash Daddy genannt. Er ist sagenhaft reich. Sein Vermögen hat er als 419er erworben. Der § 419 steht im nigerianischen Strafgesetzbuch für Betrug und Gefährdung des Staatswohls, wird aber inzwischen als Kürzel für Internetbetrug verstanden. Per E-Mail werden "Mugu", also Weiße oder Westler, gebeten zu "helfen": "Werter Freund, ich bin die Witwe des ehemaligen Staatspräsidenten und habe Millionen Dollar bei einer Sicherheitsfirma in Europa deponiert. Leider komme ich nicht direkt an das Geld, Wenn Sie mir behilflich sind, erhalten Sie 40 % …" Natürlich werden, bevor die Provision fließt, immer neue Gebühren fällig. Die Cyberkriminellen haben eine unerschöpfliche Erfindungsgabe. Kingsley lehnt diese kriminellen Machenschaften ab, doch nach dem Tod seines Vaters hat er als Opara für die Jüngeren zu sorgen. Und die vielen Luxusartikel, große Autos und extravagante Partys sind schließlich auch nicht zu verachten.

Adaobi Tricia Nwaubani weiß, wovon sie spricht. Aufgewachsen im nigerianischen Bildungsbürgertum hat sie Freunde, die zu 419ern wurden. Mit viel Witz und einer Portion Zynismus geht sie der Frage nach, was ein intelligenter junger Mann in Nigeria für Chancen hat: Soll er klug, integer und arm oder reich und kriminell sein? In diesem spritzig geschriebenen Roman erfährt der Leser viel über die rasanten Veränderungen des aufstrebenden afrikanischen Landes, das vom Erdölreichtum und bitterer Armut eines Großteils der Bevölkerung geprägt ist. Nwaubani vermittelt aber auch, wie fantasievoll und optimistisch sich junge Nigerianer ihrem Schicksal stellen und dass bei allen moralisch verwerflichen Taten ihr Patriotismus und die Verantwortung der Familie gegenüber bleibende Werte sind.

Ein aufklärender, nachdenklich stimmender und zugleich ausgesprochen unterhaltsamer Roman, der als bester afrikanischer Debüt-Roman mit dem Commonwealth Writer’s Prize 2010 ausgezeichnet worden ist.

Besprochen von Birgit Koß

Adaobi Tricia Nwaubani: Die meerblauen Schuhe meines Onkels Cash Daddy
Aus dem Englischen von Karen Nölle
dtv, München 2011
495 Seiten, 14,90 Euro
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