Leslie Jamison: "Die Klarheit"

Der Mythos des betrunkenen Genies

Zu sehen ist ein Mann im Schatten, der ein Bierglas austrinkt.
Leslie Jamison beschreibt in ihrem Buch wie sie zur Alkoholikerin wurde. © dpa/ picture-alliance/ Britta Pedersen
Von Susanne Billig · 16.11.2018
In „Die Klarheit“ beschreibt Leslie Jamison die Flucht in und aus ihrer Alkoholsucht. Dabei räumt sie mit dem populären Bild des trunkenen Talents auf - und mit ihrer eigenen Verklärung von dem Rausch verfallenen Schriftstellern.
Ihr einziger Gedanke ist das Trinken: Bier, Wein, Cocktails, Schnaps. Heimlich zu Hause, öffentlich auf der Straße, torkelnd, sich übergebend, in Säuferbars und auf Intellektuellenpartys, mit Lovern im Bett und allein vor dem Schreibtisch, bis zur Bewusstlosigkeit, jahrelang. "Es war, als werfe man einen Stein in einen Brunnen und hörte ihn nie unten aufschlagen."

Chronik einer Alkoholsucht

In ihrem Buch "Die Klarheit" erzählt Leslie Jamison sprachgewaltig die Chronik ihrer Alkoholsucht. Schon mit Anfang zwanzig greift sie zur Flasche und gerät schnell in deren Sog. Gelegenheiten und Mittrinkende findet sie als junge Frau immer. Es dauert Jahre bis Leslie Jamison sich eingesteht: Das Trinken überrollt ihr Leben, wenn sie es nicht schafft, die Reißleine zu ziehen.
Gleichzeitig verklärt die junge Schriftstellerin, ebenso wie ihre schreibenden Freundinnen und Freunde, den Alkohol-Drogenkonsum ihrer künstlerischen Vorbilder: Jack London, Ernest Hemingway, Jean Rhys, Patricia Highsmith, Billie Holiday, Stephen King, David Foster Wallace, Raymond Carver schufen Großartiges – und soffen wie die Löcher. Was bleibt vom Rausch des Schreibens, wenn man nüchtern wird?

Sich selbst zurücknehmen

Sehr viel, erklärt Leslie Jamison heute. Ihr Buch wendet sich gegen den Mythos des Genies im Drogenrausch und nähert sich bewusst solchen Lebensgeschichten, in denen die Abwendung vom Alkohol dem künstlerischen Schaffen eine neue Dimension verleiht.
Der große amerikanische Autor Raymond Carver wird so zu einem zweiten Helden dieses Buches, weil in seine Literatur mit der Abstinenz eine spannende neue Bescheidenheit einzog, die weite Räume öffnete für Empathie, Ehrfurcht vor dem Leuchten der Natur und die schlichte Bereitschaft zu tun, was getan werden musste. Einfache Dinge: Schneeschippen, Rechnungen bezahlen, einen Freund anrufen, Verantwortung in der Familie übernehmen.
Sich selbst zurückzunehmen – das ist unumgänglich, wenn es darum geht, sich in der Nüchternheit sicher zu verankern, begreift Leslie Jamison. Wie Raymond Carver, wie David Foster Wallace gelingt ihr das bei den Anonymen Alkoholikern, denen ihr Buch ein großartiges Denkmal setzt. Immer wieder kehrt die Autorin zu den AA-Treffen zurück, bis heute und ganz gleich in welcher Stadt sie sich aufhält.

Es geht um Selbsterkenntnis

Stets sind es unspektakuläre Straßen, kleine Kirchen, Stuhlkreise unter kalten Deckenlampen im unteren Stockwerk, wo Menschen bei schlechtem Kaffee zusammensitzen, um dasselbe Schicksal zu teilen und Wert darauf zu legen, sich voneinander nicht zu unterscheiden. Nicht um Aufklärung und Selbsterkenntnis geht es, versteht die Autorin, sondern um Hingabe. Was hier heilt, ist die schiere Hartnäckigkeit mit der man, auch wenn der Trost sich oft in klischeehaften Sätzen entlädt, einander Anteilnahme schenkt.
Was für ein Buch! Gebildet, persönlich, frei von Rührseligkeit und Larmoyanz, hochpolitisch, denn es verliert nie aus dem Blick, wie tief der westliche "Krieg gegen die Drogen" im Sumpf von Rassismus und Armutsverleugnung steckt. Und über allem schwebt Leslie Jamisons erhabene Sprache.
Mehr zum Thema