Leselust am Grauen

Rezensiert von Michael Böhm · 12.12.2010
Der Literaturwissenschaftler Peter-André Alt erkundet in seinem Buch die "Ästhetik des Bösen" der modernen europäischen Literatur. Er zeigt auf, wie sich das Amoralische, Abseitige oder Perverse in der abendländischen Literatur von ihren Anfängen bis heute grundlegend verändert hat.
Vielleicht kennt der eine oder andere diesen blutrünstigen Text: den 1991 erschienenen Roman "American Psycho" von Breat Easton Ellis: In ihm lässt der Autor den New Yorker Investment-Banker Patrick Bateman kühl erzählen, wie er tagsüber teure Restaurants und Sportklubs besucht, mit Damen der Gesellschaft flirtet und des Nachts eine zweite Karriere als Serienmörder verfolgt: Wie er, seine zumeist weiblichen Opfer, barbarisch vergewaltigt und foltert, wie er sie häutet und ausweidet und im stilvollen Ambiente seines Penthouses verzehrt.

"American Psycho", das von 1995 bis 2001 auf dem Index der "Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Medien" stand, ist für den Literaturwissenschaftler Peter-André Alt "eines der beunruhigendsten Bücher" der letzten 20 Jahre: In ihm seien Sadismus und Mord nicht mehr Elemente einer dunklen Zone innerhalb der Wirklichkeit, sondern gingen befremdlich einher mit luxuriösen Bars und Kokspartys, mit Anzügen von Valentino und Schuhen von Allen Edmonds.

Das Böse erscheine darin auf den Nullpunkt reduziert, es lasse sich nicht mehr greifen, sondern nur noch als diffuser Dauerzustand der Welt erfassen: Selbst die Moral werde in diesem Roman außer Kraft gesetzt, denn kein Verbrecher werde darin überführt. Tatsächlich erkennt in "American Psycho" ein Taxifahrer Batemen als den Mörder seines Kollegen: Doch will er nur dessen Geld und seine Rolex. Das Böse eingemeindet in eine bunte Warenwelt, die keinen Blick mehr dafür hat – nach Alt ist das die konsequenteste Stufe der "Ästhetik des Bösen".

In einer fulminanten Studie beschreibt er, wie sich das Amoralische, Abseitige oder Perverse in der abendländischen Literatur von ihren Anfängen bis heute grundlegend verändert hat: Wie es sich früher im biblischen Luzifer-Mythos verkörpert, später bei Kleist aus Leidenschaften erwächst, noch später bei Baudelaire aus Langeweile entsteht und heute in Texten wie "American Psycho" unter einer schillernden Oberfläche hervorbricht.

Alt greift in seinem Buch die geläufige These auf, wonach sich eine eigenständige "Ästhetik des Bösen" erst gegen Ende des 18. Jahrhunderts herausgebildet habe: Die rationalistische Kritik der Aufklärung am Aberglauben habe das Böse von seinen Hörnern, Hahnenfedern und Pferdefüßen befreit und in das Innere des Menschen verlagert – und so der modernen Kunst und Literatur verfügbar gemacht.

Tatsächlich erscheint schon Goethes Mephisto nicht mehr als hässliche "Spottgeburt von Dreck und Feuer", sondern als Figur, die vom Guten kaum zu unterscheiden ist: als Lebemann, Dandy, ja als Psychologe. Im "Faust" weiß er sehr genau um die Rolle des Teufels in der Neuzeit, wenn er sagt:

"Er ist schon lang ins Fabelbuch geschrieben; allein die Menschen sind nicht besser dran. Den Bösen sind die los, die Bösen sind geblieben".

Die Psychoanalyse erkannte im Bösen die verdrängten Triebe des modernen Menschen. Bücher, in denen Leopold von Sacher-Masoch über die Lust zu schmerzhafter Unterwerfung schrieb oder Joris-Karl Huysman über Gewaltorgien bei satanischen Messen sind ihr bis heute willkommene Analyseobjekte.

Alt weiß den Weg des Bösen in der Literatur lehrreich und überzeugend darzustellen, immer wieder erfreut dabei, dass seine Beschreibungen nicht nur verständlich, sondern auch spannend sind: Seine Sprache ist zwar akademisch und höchst präzis, doch flüssig und gut lesbar – und vor allem in einem Stil verfasst, der kein Stroh drischt.

Im 20. Jahrhundert verließ das Böse den menschlichen Körper, in den es die Aufklärung gesteckt hatte. Es manifestierte sich nunmehr auch in Räumen und Landschaften: Etwa in den Kriegsbeschreibungen von Ernst Jünger oder Curzio Malaparte, wo Felder durch Granaten zerfurcht, mit Fleisch gedüngt und von Blut begossen werden oder gefrorene Pferdeköpfe aus vereisten Seen herausragen. Für Alt hat nicht zuletzt der Einfluss Nietzsches den Weg zu einer solchen Ästhetisierung des Bösen geebnet.

Doch während das Böse in den pornographischen Texten des Marquis de Sade seinen Kampf mit der Moral ausficht, bei Dostojewski oder Camus als Prüfung erscheint und selbst bei Jünger noch immer hässliches Ornament ist, in einer ansonsten harmonischen, kosmischen Ordnung, verliert es seinen Kontrast in einem Roman wie "American Psycho". Gutes und Böses sind dort nicht mehr vorhanden – das Böse erscheint nivelliert, aufgegangen im Guten.

Hier schlage denn auch, so Alt, die Stunde des Lesers, der immer noch um die Moral wisse und nur deshalb die Ästhetik des Bösen genießen könne:

"Literarische Werke, die programmatisch Grenzen verletzen, um das Böse zu zeigen, restituieren die Schranken, die sie zunächst beseitigen."

Aber – ist das Böse automatisch ästhetisch oder schön, wenn es nunmehr nur noch unsere moralische Entrüstung provoziert? Vor allem dann, wenn es vielleicht schockieren muss, um auf dem großen Markt von Film und Literatur überhaupt noch wahrgenommen zu werden. Für Nietzsche jedenfalls resultierte wirkliche, tiefe Kultur nur aus polarer Spannung. Alt lässt es jedoch unkommentiert, wenn er schreibt, dass das Böse in "American Psycho" keine Tiefe mehr habe, kein Gegenbild zum Alltag mehr liefere, sondern nur den Rhythmen seiner automatisierten Bewegungen gehorche. Über eine Frage lässt dieses interessante Buch seinen Leser also im Unklaren: Was eine gute Ästhetik des Bösen ist.

Peter-André Alt: Ästhetik des Bösen
C.H. Beck, München 2010
Buchcover: "Ästhetik des Bösen" von Peter-André Alt
Buchcover: "Ästhetik des Bösen" von Peter-André Alt© C.H. Beck