Lesart – kurz und kritisch

Fromme Muslime unterwegs in die Gegenwart

Der Vorsitzende des Zentralrats der Muslime in Deutschland, Aiman Mazyek.
Der Vorsitzende des Zentralrats der Muslime in Deutschland, Aiman Mazyek. © picture alliance / dpa / Oliver Berg
Von Ernst Rommeney · 06.08.2016
Die Ethnologin Susanne Schröter beobachtete Wiesbadener Muslime, der Verbandsvorsitzende Aiman Mazyek wirbt für ein zeitgemäßes Islamverständnis und der Schriftsteller Zafer Şenocak versucht den Glauben seines frommen Vaters zu verstehen.
Sie ist der Spur einer neuen muslimischen Frömmigkeit gefolgt, mit der Moscheen, Schulen, Nachbarschaft und Kommunalpolitik gleichermaßen unbeholfen umgehen: Susanne Schröter leitet als Ethnologin das Frankfurter Forschungszentrum Globaler Islam. Über zwei Jahre lang hat sie in Wiesbaden 15 Moscheegemeinschaften und ihre städtische Umgebung beobachtet.
Sie traf auf Anhänger einer Religion, die politisch unter Verdacht steht, weil eine strenggläubige, kulturell fremde Lebensweise sich ständig an Alltag und Einstellungen der Mehrheitsgesellschaft reibt, sich deshalb unablässig zu rechtfertigen hat und oft nur Vorurteile zu bestätigen vermag.
Entsprechend häufig begegnete ihr Enttäuschung über einen aussichtlosen Dialog, ebenso unduldsame Besserwisserei wie lavierende oder abwiegelnde Antworten. Weswegen die Wissenschaftlerin allen Beteiligten, vor allem Lehrern, Integrationspolitikern und Kirchgemeinden, empfiehlt, sich mehr als bisher inhaltlich auseinanderzusetzen, dabei keinesfalls unangenehmen Kontroversen aus dem Wege zu gehen.
Cover von Susanne Schröter: "Gott näher als der eigenen Halsschlagader". Fromme Muslime in Deutschland
Cover von Susanne Schröter: "Gott näher als der eigenen Halsschlagader". Fromme Muslime in Deutschland© Campus Verlag

Jugend fordert Identität und Konsequenz im Glauben

Obschon die Vereine – nach Herkunft, Orthodoxie und Offenheit – eine Vielfalt religiöser Richtungen abbilden, würden sie intern in ihrem jeweiligen Gemeindeleben gerade nicht vielfältige Deutungen religiöser Tradition und Quellen spiegeln.
Das Bedürfnis, sich zurückzuziehen und im Islam einer bewusst ausgewählten Gruppe Halt und Identität zu finden, konkurriert offensichtlich mit der Einsicht, sich gegenüber der Nachbarschaft öffnen zu müssen, oder dem Wunsch, zumindest gemeinsam mit anderen Muslimen eine einheitliche islamische Kultur zu leben.
Während die Älteren eher in Tradition gefangen seien, forderten die Jüngeren Wissen und Konsequenz im Glauben ein – und würden zuweilen erzwingen, salafistische Prediger einzuladen, die Vorstände wiederum in Erklärungsnot brächten.

Aktive Frauengruppen und muslimische Seelsorger

Genauso weiß sie von Engagement zu berichten, vom Ehrgeiz, eine angemessene Moschee zu errichten, von hoch aktiven Frauengruppen, von muslimischer Seelsorge für ältere Menschen und von Jugendarbeit mit muslimischen Pfadfindern.
Susanne Schröter schrieb am Beispiel Wiesbaden das Protokoll kommunaler, schulischer, gesellschaftlicher und religiöser Integrationsarbeit, beladen voller Probleme, die allerdings christlichen Gemeinden – noch dazu mit historischem Gedächtnis – nicht völlig fremd sein sollten.

Susanne Schröter: "Gott näher als der eigenen Halsschlagader". Fromme Muslime in Deutschland
Campus Verlag, Frankfurt/New York 2016
402 Seiten, 34,95 Euro, auch als ebook

Dass solcher Art Probleme durchaus gemildert und gelöst werden könnten, will Aiman Mazyek noch einmal zu erklären versuchen – und das mit dem Blick in Geschichte, Koran und Verfassung. Er äußert sich nicht nur als Vorsitzender des Zentralrates der Muslime, sondern auch als Sohn einer syrisch-deutschen Familie mit hugenottischem Migrationshintergrund.

Muslim-Sein ist ein 24-Stunden-Job

Und nimmt sich dabei die Unverständigen vor – gleichermaßen unter seinen christlichen wie muslimischen Nachbarn. Denn Muslim-Sein sei ein 24-Stunden-Job, nicht nur durch Beten und im Alltag, sondern auch beim Umgang mit Nichtmuslimen. Bei denen verwahrt er sich allerdings auch, Anderen vorzuschreiben, wie sie ihre Religion zu interpretieren haben.
Er ist es leid, ertragen zu müssen, dass sein Glaube als Sündenblock für kriminellen Terror herhalten müsse. Andererseits verlangt er mehr muslimische Selbstkritik – sowohl zur Haltung, gesellschaftliche Veränderungen könnten herbeigebombt werden könnten, als auch zu religiöser Inquisition gegenüber Andersgläubigen. Ihn verbittert dabei, dass es an Trennschärfte zwischen Terroristen und friedlichen Muslimen mangelt.
Cover von Aiman Mazyek: Was machen Muslime an Weihnachten? Islamischer Glaube und Alltag in Deutschland
Cover von Aiman Mazyek: Was machen Muslime an Weihnachten? Islamischer Glaube und Alltag in Deutschland© C. Bertelsmann Verlag

Kulturen nicht gegeneinander ausspielen

Denn historisch sei der Islam eine fortschrittliche Religion, die bahnbrechende Erkenntnisse hervorgebracht habe, weil sie gleichermaßen für Vernunft und Wissenschaft, Barmherzigkeit und Menschenwürde eintrete. In Europas Erbe würde sich abend- und morgenländische Tradition verbinden, weshalb er es ablehnt, Kulturen gegeneinander auszuspielen, von ihm beispielhaft in der Begriffskette "Alhambra, Aprikose, Algebra" ausgedrückt.
Er erwartet von den Muslimen hierzulande, ihren Glauben aus der Vergangenheit in die Gegenwart zu holen, in Gebeten und Predigten über ihr Leben in Deutschland nachzudenken. Umgekehrt verlangt er, dass Muslime nicht länger ausgegrenzt werden und ihre Organisationen einen Status analog zum Staatskirchenrecht erhalten.

Aiman Mazyek: Was machen Muslime an Weihnachten? Islamischer Glaube und Alltag in Deutschland
C.Bertelsmann Verlag, München 2016
320 Seiten, 16,99 Euro, auch als ebook

Dass der Islam aus vergangener Größe, nicht aber für die Zukunft lebe, beschäftigt auch den Schriftsteller Zafer Şenocak. Ein gläubiger Mensch habe den Widerspruch auszuhalten, mit einem Fuß im 7. und mit dem anderen im 21. Jahrhundert zu leben.

Wenn der Sohn sich für den frommen Vater schämt

Als Kind schämte er sich für seinen Vater, der als frommer Akademiker zum Außenseiter in der gutbürgerlichen Gesellschaft wurde – zu Zeiten, als in der Türkei Religion noch einen schweren Stand hatte. So wanderte er mit seiner Familie Ende der Sechziger Jahre nach Deutschland aus.
Heute nach seinem Tod nähert sich ihm der skeptische Sohn in Mutmaßungen über dessen Glauben. Und er erkennt, es sei die humanistische Bildung, die den koranliebenden Vater von jenen gefährlichen Zeitgenossen unterscheide, die engstirnig allein aus religiösen Quellen lebten.
Cover von Zafer Şenocak: "In deinen Worten. Mutmaßungen über den Glauben meines Vaters"
Cover von Zafer Şenocak: "In deinen Worten. Mutmaßungen über den Glauben meines Vaters"© Verlag Babel Tulay

Auf der Spur eines gläubigen Intellektuellen

Den Sohn fasziniert der Scharfsinn des Vaters. Beide verbindet die Liebe zur Poesie. Und so lässt sich der Schriftsteller darauf ein, den Text des Koran durch Lesen und Hören so zu erleben, dass er die Gedankenwelt des gläubigen Intellektuellen zu verstehen vermag.
Ein sehr persönliches Buch über das Geheimnis, dass der Koran zwar in vielen Sprachen gedeutet, aber in keine aus dem Arabischen übersetzt werden könne.

Zafer Şenocak: In deinen Worten. Mutmaßungen über den Glauben meines Vaters
Verlag Babel Tulay, München 2016
166 Seiten, 15,80 Euro

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