Lernen im Lockdown

"Jetzt Präsenzunterricht wäre der blanke Wahnsinn"

79:01 Minuten
Der Zwölfjährige Gymnasiast Julius löst am Computer in seinem Zuhause seine Schulaufgaben, die ihm seine Lehrer für jeden Tag über den Schulserver geschickt haben. Wegen des Corona-Virus bleiben in der Hansestadt alle Schulen und Kitas geschlossen.
Im Homeoffice sind Schülerinnen und Schüler auf digitale Lernplattformen angewiesen, aber die funktionieren oft nicht. © picture alliance / Ulrich Perrey
Von Timo Grampes · 24.01.2021
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Präsenz-, Hybrid- oder doch Fernunterricht? Seit März haben Schulen und Kultusminister scheinbar kaum etwas gelernt. Lehrer, Eltern und Kinder sind am Limit. Experten fordern eine bessere digitale Infrastruktur und einen solidarischeren Lockdown.
"Die Schulen, die gut durch die Krise gekommen sind, sind die, die nicht auf die Ansagen von den Kultusminister*innen warten, sondern sagen, klasse, da gibt es eine Regelungslücke, wir machen da jetzt mal was und gucken, was passiert", sagt Armin Himmelrath, Bildungsjournalist beim SPIEGEL. "Es wäre hilfreich, wenn so viele Entscheidungen wie möglich an die Schulen vor Ort delegiert würden, oder die Schulen sich das nehmen."
In einem hochkomplexen System wie Schule sei es wichtig, genau hinzuschauen und die beste Lösung für die Bedürfnisse der jeweiligen Klientel zu finden. "Das kann heißen, dass die eine Schule Hybridunterricht in geteilten Klassen macht, die andere an Präsenzunterricht festhält."

Quarantäne belastender als ein Lockdown

Menno Baumann, Professor für Intensivpädagogik an der Fliedner-Fachhochschule in Düsseldorf, sieht das ganz anders: "Jetzt die Schulen in den Präsenzunterricht zu schicken, wäre der blanke Wahnsinn, weil wir dann ein Quarantäne-Ping-Pong-Spiel spielen würden." Und die Unberechenbarkeit der Quarantäne sei für Familien sogar noch belastender als ein gut strukturierter Lockdown.
Daher plädiert Baumann zusammen mit Kolleg*innen in einem gerade erschienenen Papier an die Kanzlerin für eine sogenannte Null-Fälle-Strategie, also dafür, die Infektionen auf Null zu bringen. Und zwar mit einem deutlicheren Lockdown, der sich für die Zivilbevölkerung gar nicht anders anfühlen würde, gezielten Maßnahmen und einer guten Teststrategie. Von Schulschließungen könne man ohnehin nicht sprechen. "Sie Schulen sind nicht zu, sie sind nur anders."
Menno Baumann, Sonderpädagoge
Der Sonderpädagoge Menno Baumann unterstützt die sogenannte Null-Fälle-Strategie.© privat
Wichtig sei, dass auch psychosoziale Faktoren Kriterien für Notbetreuung würden. "Familien mit psychisch instabilen Erwachsenen, in denen Sorge besteht, dass Kinder Gewalt erfahren, die nicht die notwendige technische Ausstattung haben oder wo es besonderer sprachlicher Förderung bedarf, müssen besonders unterstützt werden." Natürlich müsse für eine gute Infrastruktur für Digitalunterricht, guten Support für Schüler*innen und Eltern gesorgt werden. Das sei über den Sommer und Herbst versäumt worden.
Mehr Klarheit und eine Strategie, die auch Lehrer*innen mehr Planungssicherheit gäbe, wünscht sich auch Bob Blume, Gymnasiallehrer in Baden-Württemberg, Blogger und Autor, der sich als "Netzlehrer" auf Youtube und Twitter für neue Modelle des digitalen Lernens einsetzt.
"Wenn man die Entscheidungen der Ministerpräsidenten liest, kommt man sich vor wie in einer Kafka-Parabel. Oft muss man dreimal lesen, dass man überhaupt versteht, was das für das eigene Handeln bedeutet." Für Blume ist es unverständlich, warum Epidemiologen und Virologen bei den Beratungen konsultiert würden, aber anscheinend keine Bildungsexperten zu Rate gezogen worden seien.
Netzlehrer Bob Blume in seinem virtuellen Klassenraum.
Hilfe suchen viele Schülerinnen und Schüler auf Youtube, sagt Netzlehrer Bob Blume.© Thomas Clemens
"Es ist eine Katastrophe", berichtet Max, dessen Tochter wie alle Berliner Schulkinder zwei Wochen vor dem offiziell verhängten Lockdown nur noch zu Hause lernen durfte. Und zwar ohne, dass Lernplattformen funktionierten oder Lehrer sich kümmerten. Stattdessen suche die Tochter nun Hilfe auf Youtube. "Es ist erschütternd, dass wir in einem Hightechland wie Deutschland konstatieren müssen, dass die pädagogischen Aufgaben an die Eltern abgeschoben werden", bestätigt Max' Frau Camilla. "Wir befinden uns im Steinzeitalter."
"Es ist Aufgabe der Schulleiter, dass Lehrer für das digitale Unterrichten fit gemacht werden und die entsprechende Technik zur Verfügung gestellt wird", sagt Netzlehrer Blume. Hier sei oft Hilfe zur Selbsthilfe die einzige Lösung. Die selbstorganisierten Mikrofortbildungen, die es an einigen Schulen gegeben habe, seien ein guter Start. Aber das müsse langfristig angelegt werden.

"Das ist doch ein Armutszeugnis!"

Bildungsjournalist Armin Himmelrath hat die Hoffnung aufgegeben, "dass vonseiten der Kultusministerkonferenz der große Wurf kommt". Das Festhalten an der Idee, nach dem Lockdown einfach wieder zum Präsenzunterricht zurückzukehren, sei nicht hilfreich. "Wir müssen Schule verändern, sie verändert sich von selbst, ob wir wollen oder nicht."
"Was haben diese Kultusminister seit dem ersten Lockdown getan bis jetzt", fragt sich Claire Funke. "Das ist doch ein Armutszeugnis!" Auf ihrem Blog "Mama streikt" berichtet sie über ihren herausfordernden Alltag als alleinerziehende Mutter eines Kitakindes und eines 13-jährigen Schülers. Sie ist nicht nur wütend und besorgt um die Bildungschancen ihrer Kinder. Persönlich ist sie am Limit:
Gerade solche Aussagen zeigten, wie zentral es sei, die Beziehungsarbeit zwischen Lehrern und Klasse aufrechtzuerhalten, sagt Netzlehrer Blume. "Digitalunterricht verstärkt die Charaktereigenschaften von Lehrern und Schülern." Wer ohnehin gut selbstorganisiert lernen könne, profitiere jetzt, anderen fehlte der Austausch mit Gleichaltrigen und der direkte Kontakt mit Lehrern umso stärker.
Wichtig sei jetzt, anzuerkennen, dass die Situation sich nicht so schnell ändere, auch nach Februar nicht. Daher müssten jetzt langfristige Konzepte her, um dem Pingpong-Spiel von Woche zu Woche ein Ende zu setzen.
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