Lernen durch Schrecken

Ulrich Woelk im Gespräch mit Katrin Heise · 07.01.2010
Negative Utopien, sogenannte Dystopien, seien "ein Abbild ihrer jeweiligen Zeit", findet der Autor Ulrich Woelk. Romane wie "1984" zeigten mögliche Entwicklungen in der Gesellschaft auf und wollten dadurch - wie Utopien - die Welt zum Besseren bekehren. Zugleich hätten die Dystopien eine hohe Anziehungskraft, sagt Woelk.
Katrin Heise: Während Utopien das Bild einer idealen Gesellschaft entwerfen, tun Negativutopien, Dystopien, das genaue Gegenteil. Sie beschreiben eine fiktive Gesellschaft, in der das Positive ins Negative pervertiert ist, die totale Überwachung des Einzelnen zum Beispiel. Das Individuum ist machtlos, ist entrechtet gegenüber einem übermächtigen Staat. Das sind oft wiederkehrende Elemente von Dystopien und sie spiegeln die Ängste der Zeit.

Negativ-Utopien in Filmen und Literatur, zusammengetragen hat sie für uns Tobias Wenzel. Und mit angehört hat es sich hier der Autor Ulrich Woelk, ausgezeichnet mit dem aspekte-Literaturpreis und mehreren Stipendien. Sein letzter Roman hieß "Joana Mandelbrot und ich". Ulrich Woelk hat sein Arbeitsleben allerdings im technischen Bereich begonnen, als Physiker mit der Chaostheorie und Astrophysiker mit Doppelsternen. Herr Woelk, ich grüße Sie recht herzlich!

Ulrich Woelk: Ja, guten Tag!

Heise: Guten Tag! Es ist immer wieder – wir haben es auch gerade gehört – die Überwachung, die Steuerung des Menschen, das ist so eines der zentralen Themen dieser Negativutopien. Warum?

Woelk: Ja, ich glaube, dass Dystopien, also negative Utopien, im Grunde genommen genauso wie Utopien ein Abbild ihrer jeweiligen Zeit sind, in der sie entstehen, und offenbar werden in diesen negativen Utopien alle unsere Ängste, die uns umtreiben, zusammengefasst oder in gewissem Sinne wie durch ein Vergrößerungsglas betrachtet. Und wenn wir in unserer Zeit mal schauen, was denn von dem, was wir uns wünschen, einer der, sagen wir mal, Hauptbegriffe ist, dann wäre da wohl die Freiheit zu nennen. Die Freiheit ist extrem wichtig, wenn Sie sich die Werbung angucken, überall wird damit geworben, dass Produkte frei machen, dass wir frei sein sollen, dass wir frei leben sollen, dass wir Individuen sein sollen.

Und offenbar ist aber doch das Gefühl, das wir gar nicht so frei sind, wie wir vielleicht glauben, zu sein, doch sehr ausgeprägt, und ich denke, in Dystopien – also jetzt in den angesprochenen, in dem kleinen Bericht angesprochenen – steht das doch sehr im Zentrum, dass genau das, was wir glauben, zu sein, dass wir das nicht sind.

Heise: Andere zentrale Themen sind ja zum Beispiel Stammzellenforschung, künstliche Befruchtung, die Technik gerät außer Rand und Band und übernimmt letztendlich dann die Macht. Spricht das für zunehmende Technikskepsis?

Woelk: Am Anfang einer neuen Technik gibt es ja immer verschiedene Phasen, also, es gibt zunächst so eine Begeisterung, dann gibt es so die Ablösung, dann treten die Kritiker der Technologie auf den Plan. Wir haben nun im letzten Jahrhundert, denke ich, so viele Technologien auch scheitern sehen, oder die negativen Auswirkungen von Technologien erfahren müssen, dass heute eben die Kritik immer sehr schnell dabei ist, also, dass wir schnell dazu neigen, zunächst die gefährliche Seite einer neuen Technologie zu sehen.

Und die Medien sind natürlich sehr schnell, das heißt also, wenn wir die Filme, die Filmindustrie betrachten, dann ist sie natürlich ganz schnell dabei, solche eher zunächst mal emotionalen Gefühle, die wir der neuen Technik entgegenbringen, gleich in Geschichten zu bringen und uns sozusagen zu präsentieren.

Heise: Sie haben vorhin ein Stichwort gesagt, nämlich das Stichwort Freiheit, dass Freiheit für uns etwas sehr Erstrebenswertes ist. Ich würde sagen, eine andere Sache – und die kontrastiert da vielleicht ein bisschen mit – ist unser Sicherheitsbedürfnis. Und da sind wir dann wieder bei der Überwachung vielleicht.

Woelk: Das, kann man ja sagen, ist ja der klassische Widerspruch und selbst Diktaturen haben ja immer damit geworben, dass sie sozusagen ihre Bürger eigentlich frei machen, nämlich in Sicherheit leben lassen und dadurch ihm sozusagen einen Freiraum schaffen, was aber de facto nie funktioniert hat. Und heute ist es eben so, dass wir in einer, ja, ich weiß nicht, ob man das so sagen kann, einer Art Diktatur der Freiheit leben. Das heißt also, jeder muss frei sein und es gibt auch nicht mehr den großen Bruder, von dem wir denken, wenn wir ihn bekämpfen würden, würde sich das System vielleicht ändern, sondern dadurch, dass alle frei sind, entsteht gewissermaßen ein System einer Diktatur von Unterhaltungsindustrien, von Marktmechanismen, denen wir uns gar nicht mehr entziehen können und wir sehen aber nur noch: Alle in dem System handeln im Grunde genommen frei.

Heise: Jetzt gab es Dystopien, Negativutopien aber ja auch schon vorher. Also, wir haben Aldous Huxley angesprochen, wir haben Orwell angesprochen. Welche Gefühle verarbeiteten die? Das waren politische Systeme, die da Angst auslösten.

Woelk: Na ja, das ist eben genau der Unterschied. In den 40er-Jahren war natürlich der Stalinismus für Orwell, das ist ja bekannt, ein ganz negatives Beispiel, vor dem er in gewissem Sinne warnen wollte. Da hätte genau das stattgefunden, dass sozusagen die Dystopie eine Angst in der jeweiligen Zeit konkretisiert. Und heute ist es eben so: Das diktatorische Gespenst ist zurzeit in der Weltgeschichte nicht da, hat sich aufgelöst und das heißt, was wir jetzt sozusagen als Angstgespenst vor Augen geführt kriegen, ist eine Art Diktatur der Freiheit, wie ich es schon sagte, das heißt also, dadurch, dass alle frei handeln, gar keine wirklich glückliche Gesellschaft entsteht, sondern sonderbarerweise eine Art Zwangssystem, dem sich dann auch wieder keiner entziehen kann.

Heise: In unserer Reihe über Utopien geht es heute um die Negativutopie, die Dystopie, mein Gast ist der Autor Ulrich Woelk. Das heißt doch, wenn ich Sie richtig verstehe, dass quasi die Dystopien unserer Zeit eigentlich ein Spiegel sind dessen, dass wir, ja, generell von negativen Gefühlen eigentlich bestimmt sind?

Woelk: Ich würde nicht sagen, dass wir generell von negativen Gefühlen bestimmt sind. Die Hoffnung, dass es sozusagen besser wird oder eigentlich, dass es uns doch ganz gut geht, ist immer konkret und ist an sich auch immer da. Ich glaube, der Sinn der Dystopie ist gar nicht so sehr verschieden von dem der Utopie. Die Utopie möchte ja uns sozusagen eine bessere Welt vor Augen führen, damit wir danach streben, eine solche bessere Welt irgendwie zu erreichen.

Die Dystopie stellt uns gewissermaßen eine schlechtere Welt vor Augen, will aber ja auch, dass wir das als mahnendes Beispiel nehmen, um schlussendlich wieder eine bessere Welt zu erreichen. Das heißt also, die Strategie ist anders. Beide eigentlich, sowohl die Utopie als auch die negative Utopie, sind auf eine bestimmte Weise appellativ, das heißt, sie appellieren an unser, man könnte sagen, zunächst sogar Gewissen, etwas zu tun, dass es nicht so kommt, wie es möglicherweise kommen würde, wenn man nichts tun würde. Es ist immer der Versuch, dem Menschen zu zeigen: Du musst was tun, du musst deine Welt gestalten.

Heise: Das heißt, Utopisten beispielsweise zeichneten sich ja durch den visionären Blick über den Tellerrand hinaus aus, waren wegweisend. Gilt das also für Negativutopiker auch?

Woelk: Ja, ich glaube schon. Das Schöne ist ja, dass wir trotzdem sehen, dass viele der negativen Utopien so nicht eingetreten sind, also, wenn wir jetzt Orwell nehmen, würde man ja sagen, gut, letztlich, es ist nicht eingetreten, wir haben eben keinen totalen Überwachungsstaat oder zumindest haben wir ihn noch nicht, es gibt ja immer noch die Möglichkeit, dass es kommt. Das wissen wir nicht so genau, eben durch andere, technische ...

Heise: Oder bestimmte Systeme, die sich als Überwachungsstaat ...

Woelk: Ja, eben dadurch, dass wir ... Wir brauchen sozusagen, das ist die Erfahrung der Gegenwart, wir brauchen den großen Bruder nicht, um einen Überwachungsstaat zu installieren, sondern wir tun es möglicherweise ohne großen Bruder, wir tun es freiwillig, weil wir wiederum ... unser Sicherheitsbedürfnis uns dazu treibt, alles und jeden zu überwachen. Und das ist, glaube ich, im Moment die aktuellste aller Dystopien, dass diese Systeme sich so verselbstständigen, dass wir sozusagen durch den Wunsch, unsere Freiheit zu behalten, genau unsere Freiheit verlieren.

Heise: Also auch Sozialkritik der Jetztzeit. Muss ein Autor von so Negativutopien, muss das ein Skeptiker sein, oder ein Verzweifelter vielleicht sogar?

Woelk: Nein, das glaube ich nicht. Ich glaube, dass man trotz allem ein optimistischer Mensch sein kann und trotzdem die ... sozusagen die möglichen Fehlentwicklungen sehr genau sehen kann. Ich sagte ja schon: Es ist vielleicht sogar ... der Wunsch steckt ja oftmals dahinter, auf Fehlentwicklungen aufmerksam zu machen und das tut man ja vielleicht nur, weil man eigentlich noch den Glauben daran hat, dass man es aufhalten kann.

Heise: Wird das Publikum eigentlich durch Dystopien überhaupt noch irritiert?

Woelk: Das Eigenartige ist ja, dass wiederum auch diese Dystopien, ich sage mal, einen hohen Marktwert haben, das heißt also, wenn man sich die großen Filme anguckt, mit denen richtig viel Geld eingespielt wird, dann sind es ja in der Regel dystopische Filme. Ich habe jetzt "Avatar" noch nicht gesehen, aber wenn ich das richtig verstanden habe, geht es ja auch darum, dass sozusagen eine paradiesische Welt in Schutt und Asche geschlagen wird. Und es scheint ja auch ein großer kommerzieller Erfolg zu sein.

Also, das ist ja ganz eigenartig, dass wir sozusagen, was unsere Wahrnehmung angeht, eher auf den Schrecken gucken als auf das Gute und vielleicht aber dadurch, dass wir auf den Schrecken gucken, stärker lernfähig sind, weil das Negative mitunter stärker im Gefühl oder im emotionalen Gedächtnis bleibt als das Positive.

Heise: Über düstere Sozialkritik im Gewande der Negativutopie sprach ich mit dem Autor Ulrich Woelk. Ich danke Ihnen recht herzlich, Herr Woelk!

Woelk: Ich danke auch!