Lepenies: Die Deutschen hielten sich immer für das Kulturvolk par excellence

Moderation: Gabi Wuttke · 09.08.2006
In seinem gerade erschienenen Buch "Kultur und Politik - Deutsche Geschichten" schlägt Wolf Lepenies einen historisch-kritischen Bogen zum Verständnis der Deutschen als Kulturnation. Damit hätten sie als spät entstandene Nation ein Minderwertigkeitsgefühl kompensiert, sagte der Soziologe in Deutschlandradio Kultur. Am 8. Oktober wird ihm der Friedenspreis des deutschen Buchhandels verliehen.
Wuttke: Die Deutschen, das Volk der Dichter und Denker. Für den Soziologen Wolf Lepenies, dem im Oktober in der Paulskirche der Friedenspreis des Deutschen Buchhandels verliehen wird, durfte auch bei diesem immer wieder gern genommenen Etikett der fatale deutsche Hang zur Kultur sichtbar werden. Gestützt auf große Namen, die sich mit dem deutschen Nationalcharakter beschäftigt haben, hält Wolf Lepenies in seinem neuen Buch "Kultur und Politik" fest: "Das Bürgertum hat sich von Kultur und Religion zu politischem Desinteresse verführen lassen, in einem Maße wie nirgendwo sonst." Guten Morgen, Herr Lepenies!

Lepenies: Guten Morgen, Frau Wuttke!

Wuttke: Warum, um mit Ihren Worten zu sprechen, spielen die Deutschen mit einem gehörig Maß an Arroganz die Rolle des europäischen Außenseiters und Lehrmeisters?

Lepenies: Das hat zwei Gründe: Die Deutschen sind sehr spät zur Nation geworden, sind sehr viel später ein Nationalstaat geworden als beispielsweise Frankreich oder England und sie haben aus diesem Gefühl des Zuspätkommens das Bedürfnis entwickelt zu kompensieren. Und diese Kompensierung für die zu spät kommende Politik haben sie lange Zeit in der Kultur gefunden.

Wuttke: Inwiefern?

Lepenies: Sie haben sich als das Kulturvolk par excellence definiert. Sie haben unterstellt, dass Nationen wie England und Frankreich bestenfalls über so etwas wie Zivilisation verfügen, aber die Deutschen so etwas wie ein Kulturprivileg haben. Ich muss allerdings dazusagen, mein Buch ist ja ein historisches Buch, dieses Problem wird schwächer und schwächer nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges und es verschwindet im Grunde mit dem Aufgehen Deutschlands in Europa. Also heute ist die Dramatik dieses Problems gewaltig gesunken.

Wuttke: Und zu Beginn der Zeit, in der Sie anfangen, sich dieses Bild zu entwickeln, warum ist es die Sentimentalität, die politisches Handeln degradiert hat? Wie führen Sie das aus?

Lepenies: Ja es ist ja nicht nur die Sentimentalität. Es ist ja auch eine gehörige Arroganz, die dann erhebliche Folgen hat nach der Weimarer Republik beispielsweise im Dritten Reich. Aber im 19. Jahrhundert ist es etwas, ich habe es ja in meiner Dissertation eher mit Melancholie bezeichnet, das ist eben noch nicht der Machtverlust, sondern das Gefühl des Bürgertums, nicht zum richtigen Zeitpunkt an die Macht kommen zu können, und das wird kompensiert mit Melancholie, mit dem Rückzug in Innerlichkeit, mit Natur, Verklärung und Ähnlichem. Das sind alles Kompensationsbegriffe, die sich das Bürgertum schafft und sich dann davon in einem gewaltigen Schub befreit, und das beginnt mit der Reichsgründung 1870/ 71.

Wuttke: Und wo stehen wir jetzt? Haben wir jetzt das richtige Verhältnis zwischen Politik und Kultur?

Lepenies: Na ich möchte ja nicht als Richter auftreten in diesen Angelegenheiten und jetzt den Deutschen eine Note geben. Ich will nur darauf hinweise, dass wenn sich heute ein deutscher Dichter oder Kulturproduzent oder auch Politiker hinstellen würde und sagen würde, wir Deutschen sind eigentlich das Kulturvolk par excellence und schaut euch doch die Engländer und die Franzosen an, die haben nichts als Zivilisation. Die Folge wäre doch nur brüllendes Gelächter. Man würde sich lächerlich machen damit. Aber so etwas hat man formulieren können in Deutschland lange, lange Zeit.

Wuttke: Jürgen Kaube hat Sie in der "FAZ" kritisiert, in seiner Rezension Ihres Buches. Ihn verwundert so heißt es, dass Sie genau den Gestus gewählt haben, den Sie bedauern. Sie kreisten in Ihrer Kritik an den Deutschen als Intellektueller allein um die deutschen Intellektuellen.

Lepenies: Nein, ich kreise ja nicht nur um die deutschen Intellektuellen. Es ist zwar ein Buch, das heißt "Deutsche Geschichten", aber Frankreich spielt eine große Rolle, England vielleicht eine etwas geringere und Amerika ganz gewiss. Außerdem ist dieses Buch nicht nur ein Buch, das sich mit Kultur beschäftigt, sondern sehr stark auch mit Politik. Wenn Sie etwa an die Passagen denken über den großen Theologen Niebuhr. Wer die liest, wird sehen, dass das Ganze auch ein politisches Buch ist, auch die Auseinandersetzung mit Günter Grass über die Frage, ob die Deutschen nach 1989 eigentlich als Kulturnation hätten überleben sollen oder können, ist eine eminent politische Frage.

Wuttke: Sie haben gesagt, es stünde Ihnen nicht zu, Noten zu verteilen. Aber wie wichtig ist in Ihrem Buch auch die Moral? Kann man sagen, es ist doch ein wenig auch eine Moralpredigt?

Lepenies: Ich habe das Buch nicht als eine Moralpredigt verstanden. Es ist, ich wiederhole mich, ein historisches Buch. Es beschreibt zunächst einmal Dinge. Aber es ist vielleicht geprägt von einem Bedauern darüber, das ich ja mit vielen Historikern teile, dass durch diese Kulturüberschätzung die deutsche Geschichte vielleicht an einigen Stellen Wendungen genommen hat, die unter anderen Bedingungen sich hätten verhindern lassen. Insofern sehe ich das nicht als eine Moralpredigt, sondern eher als ein Buch, das geprägt ist von einem Engagement den Problemen gegenüber, die ich beschreibe. Aber ich wüsste nicht, wem ich hier welche Moral predige.

Wuttke: Wolf Lepenies zu Gast im Radiofeuilleton. Herr Lepenies, Wissenschaft, Kultur und Politik zusammenzubringen, daran bastelt eine Interessengemeinschaft, die als Gelehrte bezeichnet wird, sich selbst als Heilige Allianz bezeichnet, und die der Politik in Deutschland ein unabhängiges Beratergremium liefern möchte. Zunächst einmal, wie wirkt der Name Heilige Allianz auf Sie?

Lepenies: Ich habe von der Heiligen Allianz viel profitiert. Insofern habe ich mit dem Begriff kein Problem und ich sollte vielleicht auch sagen, dass in den Kreisen der Wissenschaft dieser Begriff immer in Anführungszeichen gedacht und auch sehr ironisch benutzt wird. Heilige Allianz ist einfach die Vereinigung der Repräsentanten der großen deutschen Wissenschaftsorganisation, eher übrigens ein informeller Zusammenschluss, der nach meiner Erfahrung sehr viel Gutes getan hat und der vor allem sehr effizient arbeitet, wenn man weiß, wie man sich mit dieser Gruppe verständigt. Aber Sie spielen ja an auf die Idee einer Gründung der Nationalakademie, und dazu gäbe es aus meiner Sicht Positives und vielleicht auch eher etwas Kritisches zu sagen.

Wuttke: Das wäre?

Lepenies: Ich glaube, man muss zwei Dinge unterscheiden. Das eine ist die Außenvertretung der deutschen Wissenschaft. Die Frage, ob die deutsche Wissenschaft nicht nach außen mit einer Stimme sprechen sollte. Ich halte das für notwendig! Sie müssen sich vorstellen, es gibt in Brüssel die Vertretungen aller einzelnen deutschen Länder und jedes einzelne deutsche Land macht in Brüssel seine eigene, Europa zugewandte Wissenschaftspolitik. Das führt dazu, dass Deutschland als Partner in diesen Diskussionen oft gar nicht wahrgenommen wird und sich die ausländischen Kollegen fragen, sollte ich jetzt eher mit Mecklenburg-Vorpommern oder mit Baden-Württemberg reden. Das ist ein absurder Zustand. Ich glaube, eine nationale Akademie könnte dem abhelfen. Skeptischer bin ich, was die Politikberatung angeht. Ob tatsächlich eine nationale Akademie mit einer Stimme sprechend der Politik vorgeben kann, wie man sich gegenüber bestimmten Problemen verhält. Ich nenne das Stichwort Stammzellenforschung. Das wage ich zu bezweifeln. Es wird eine nationale Akademie nicht die eine Stimme sein, die der Politik die eine Lösung vorgibt. Hier warne ich vor Illusionen. Das Problem liegt im Moment meiner Meinung nach darin, das was die Außenvertretung angeht, man das absolut Notwendige bereits verwässert, weil man sagt, vielleicht sollte nicht der Präsident dieser neuen Akademie die deutsche Wissenschaft vertreten, sondern mal die Max-Planck-Gesellschaft, mal die Deutsche Forschungsgemeinschaft, mal die Alexander von Humboldt-Stiftung. Wenn das wirklich die Folge ist, dann kann man sich die Gründung der Akademie sparen.

Wuttke: Sie sprechen von Illusion. Kann man auch sagen, es ist eine Selbstüberschätzung und in dem Sinne wieder zurückführend, auch auf Ihre These, dass es nichts anderes ist, als sich mit einer gewissen Arroganz, vielleicht eben auch mit einer Lehrmeisterhaftigkeit diesem Thema und der Politik zu nähern?

Lepenies: Nein, das würde ich so nicht sehen und ich kann es auch nicht so sehen, aus meiner Erfahrung mit Kollegen, etwa an der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, die etwa zu Fragen der Gentechnologie arbeiten, worüber die Akademie einen Bericht veröffentlicht hat, oder zu Fragen der Nanotechnologie. Dort arbeiten sehr angestrengt, langfristig, ernsthafte Wissenschaftler an Problemen und versuchen das, was sie an Erkenntnis gewonnen haben, der Politik zu vermitteln. Da spüre ich sehr, sehr wenig von Arroganz, da spüre ich aber manchmal eine gewisse Resignation, dass man eigentlich nicht weiß, mit welchem Adressaten man in der Politik spricht. Und das hat mit dieser Verzweigtheit der deutschen Wissenschaftsorganisation zu tun. Es gibt einfach zu viele, potenzielle Gesprächspartner, so dass eigentlich jeder leidet unter der Art von Gesprächsangebot, das ihm gemacht wird. Also auch hier wäre es gut, die deutsche Wissenschaft würde ihre Energie bündeln. Nur die Warnung, noch mal, zu glauben, sie wird da noch immer den einen Vorschlag zur Lösung eines Problems haben, das wird nicht der Fall sein. Aber die guten Wissenschaftler wissen das.

Wuttke: Herr Lepenies, am 8. Oktober wird Ihnen der Friedenspreis des deutschen Buchhandels in der Paulskirche verliehen, in der "FAZ" nennt man Sie den Mann ohne kontroverse Eigenschaften. Wird man das Vermittelnde, das Versöhnliche auch in Ihrer Rede spüren?

Lepenies: Es stand in Kommentaren zu meiner Wahl und es haben ja auch noch andere kommentiert als die "FAZ". Vermutlich sei diesmal kein Skandal zu erwarten. Und ich befürchte, dass ich diese Befürchtungen bestätigen werde. Ob ich nicht trotzdem in der Lage sein werde, Kritisches zu sagen, das muss auch ich erstmal selbst abwarten.

Wuttke: Das heißt, Sie sind noch nicht dabei, diese Rede zu konzipieren oder haben Sie doch schon ein Skizzenbuch?

Lepenies: In der Tasche die ich heute mitgebracht habe, ist ein Buch mit Aufsätzen des wirklich großen, bedeutenden Berliner Orientalisten Fritz Steppat, der vor zwei Tagen verstorben ist. Der erste Direktor des deutschen Orient-Instituts in Beirut, der schon 1944 einen Artikel über den Libanon geschrieben hat, der unglaublich hellsichtig ist. Also ich lese erst einmal und ich lese etwas von Leuten, die sich mit den gegenwärtigen Problemen seit langer, langer Zeit beschäftigt haben, und dann werden wir sehen, was dabei rauskommt. Vielleicht kein Skandal, aber vielleicht ein bisschen Kritisches.

Wuttke: Vielen Dank Wolf Lepenies, dass Sie hier bei uns zu Gast im Studio waren!