Leonardo da Vinci und die Religion

Er suchte Gott mit dem Seziermesser

13:10 Minuten
Detail einer Zeichnung von Leonardo da Vinci in der Ausstellung " The Universal Man" in Venedig.
Leonardos wissenschaftlicher Blick auf den Menschen entfremdete den Künstler von der Kirche. © Getty Images / Marco Secchi
Volker Reinhardt im Gespräch mit Thorsten Jabs · 28.04.2019
Audio herunterladen
Vor 500 Jahren ist Leonardo da Vinci gestorben. Er galt als Universalgenie. Der Historiker Volker Reinhardt sieht in Leonardo die ungewöhnlichste, eigenständigste, querdenkendste und aus dem Rahmen fallendste Gestalt der europäischen Kulturgeschichte.
Thorsten Jabs: Universalgenie – Wenn es ein Label gibt, um Leonardo da Vinci zu beschreiben, fällt dieser Begriff wohl am häufigsten. Am 2. Mai vor 500 Jahren ist er gestorben, und nicht nur in Italien und Frankreich, wo er seine letzten Lebensjahre verbrachte, wird der Künstler, Forscher und Visionär gewürdigt und gefeiert. 1452 wurde Leonardo in dem Dorf Vinci bei Florenz unehelich geboren. In Biografien heißt es: Er war homosexuell, Vegetarier, Linkshänder und ein Mann mit großer Fantasie.

Geboren in der fortschrittlichsten Region Europas

Der Historiker und Renaissance-Experte Volker Reinhardt beschreibt Leonardos Verhältnis zu Gott und Glaube, zu Religion und Religiosität. Herr Reinhardt, lassen Sie uns erst einmal versuchen, die Geschichte vor 500 Jahren ein wenig lebendig werden zu lassen. Was war das für eine Zeit, was war das für eine Region, in der Leonardo da Vinci 1452 geboren wurde?
Reinhardt: Nun, Leonardo wurde in der kulturell wahrscheinlich fortschrittlichsten, modernsten Region Europas geboren, im Herrschaftsgebiet von Florenz. In Florenz beginnt vieles in dieser Zeit, ein neuer Stil, die Renaissance-Kunst mit ihrer Dreidimensionalität. Es beginnt auch in vieler Hinsicht ein neues Verhältnis zu Politik und Staat, die Medici spielen Republik. Also, Florenz und sein Gebiet sind eine Region voller neuer Anstöße, voller neuer Ideen in der Elite - in der kreativen Elite, in der politischen Elite. Für die große Mehrheit der Bevölkerung ändert sich eigentlich nichts, die Lebensbedingungen bleiben wie früher. Das müssen wir immer sehr deutlich unterscheiden, wenn wir von Renaissance sprechen. Renaissance ist ein Elitenphänomen für eine nadelfeine Spitze der damaligen Gesellschaft.

Ein neuer Typus von Christentum

Jabs: Gibt es auch ein neues Verhältnis zu Kirche und Religion?
Reinhardt: Ja. Die Humanisten versuchen, einen neuen Typus von Christentum zu kreieren, eine mit antiker Philosophie verschmolzene Form von Christlichkeit, aber ohne Frage eine Form von Christlichkeit. Was wir in Leonardo sehen, ist vielleicht die Spitze eines Eisberges oder sagen wir, ein unterirdischer Fluss, der hier nach oben durchbricht. Es gibt sicherlich immer und durchgehend in Europa auch eine Tradition des Unglaubens, eine Tradition der Skepsis gegenüber dem Christentum, ganz abgesehen davon, dass das Christentum bei den kleinen Leuten ja nie angekommen ist mit seinen komplizierten Dogmen, mit seinen unverständlichen Vorstellungen von Dreieinigkeit und Ähnlichem.
Volker Reinhardt vor religiösen Zeichnungen an einer Wand.
Für alles Übersinnliche hatte er nur Hohn und Spott: Volker Reinhardt deutet Leonardo als Forscher und unabhängigen Geist, der mit der Kirche über Kreuz lag.© privat
Wir müssen davon ausgehen, dass die große Mehrheit der Europäer dieser Zeit höchstens notdürftig christlich übertüncht sind, aber in viel älteren Bewusstseinswelten leben. Sie sehen die Natur magisch geprägt, sie glauben an Wunder und sie glauben an die Beeinflussbarkeit ihrer Lebensbedingungen durch Gebet und anderes. Also das ist eine Mischung von viel älteren Mentalitäten mit ein bisschen Christentum.

Geburt auf dem Lande, Erziehung weitgehend unbekannt

Jabs: Leonardo da Vinci wurde unehelich geboren. Was weiß man über seine Kindheit und Erziehung, insbesondere seine religiöse Erziehung?
Reinhardt: Sehr, sehr wenig, da stehen auch viele Mythen im Wege. Man ist lange davon ausgegangen, dass Leonardo bei seiner Mutter auf dem Lande aufgewachsen ist. Das stimmt nicht. Wir haben Steuererklärungen, fälschungssichere Steuererklärungen, die belegen, dass er in der Stadt aufgewachsen ist. Über seine frühe Kindheit, über seine prägenden Bildungseindrücke wissen wir gar nichts. Wir wissen nur, dass er gegenüber den ehelichen Sprösslingen seines Vaters zurückgesetzt wurde. Er bekam keine höhere Schulbildung, und das ist ein lebenslanger Komplex für Leonardo, er kann kein anspruchsvolles Latein und kann damit in der angesagten Wissenschaftsszene nicht mitreden. Er muss eigene Wege gehen, auch eigene Wege der Erkenntnis bahnen.
Jabs: Leonardo da Vinci, so heißt es meistens, war homosexuell. Stimmt das? Weiß man das genau?
Reinhardt: Alles spricht dafür, ja. Wir können aufgrund einiger schriftlicher Zeugnisse davon ausgehen, dass er eine jahrzehntelange Lebenspartnerschaft mit einem seiner Auszubildenden einging, der ihn dann auch teilweise beerbt. Das spricht dafür. Auch einige seiner Zeichnungen sprechen dafür, zumindest für eine bisexuelle, wahrscheinlich eher homosexuelle Ausrichtung. Das war auch in eingeweihten Kreisen bekannt. In späteren Texten, die nach Leonardos Tod erschienen sind, wird das teilweise auch ganz offen thematisiert.

Leonardos Homosexualität ließ Kirchenobere kalt

Jabs: Stand er denn damit automatisch am Rande der Gesellschaft und auch vielleicht der Kirche kritisch gegenüber?
Reinhardt: Ach, die Kirche mischte sich in diese Dinge eigentlich gar nicht so sehr ein. Es gab weltliche Behörden, die solche "Unsittlichkeiten" nach den damaligen Zeitmaßstäben verfolgten. Leonardo wurde auch einmal denunziert. Es kam dann nicht zum Prozess, weil auch eine einflussreiche Persönlichkeit mit involviert wurde und das Ganze niedergeschlagen wurde. Die höheren Kreise und diejenigen, die die Protektion höherer Kreise genossen, konnten sich gegen solche Verfolgungen schützen.
Jabs: Leonardo da Vinci hat dann, um mal auf seine Arbeit zu kommen, zum Beispiel Leichen untersucht und quasi eine Expedition ins menschliche Herz unternommen, wie es manchmal beschrieben wird, also die Funktionsweise des Herzens untersucht und auch gezeichnet. Wie sehr hat er sich mit solcher Arbeit gegen die Kirche gestellt?
Reinhardt: Auch das ist ein Mythos. Das hat die Kirche eigentlich gar nicht so sehr interessiert. Man musste sich das genehmigen lassen und es musste sicher sein, dass da keine satanischen Riten gefeiert wurden, keine unerlaubten Zeremonien stattfanden, aber man konnte von dieser Kirche für alles eine Ausnahmegenehmigung bekommen. Auch wegen seiner Sezierungen toter Körper wurde Leonardo einmal denunziert, sogar beim Papst, aber der hat nur drüber gelacht.

Spott über die Kirche durch Texte belegt

Jabs: Was weiß man denn über Leonardo da Vincis Verhältnis zu Gott und Glaube, zu Religion und Religiosität?
Reinhardt: Ich glaube, wir können da mehr wissen, als bisher eigentlich abgeleitet wurde, denn Leonardo hat Texte hinterlassen, auch literarische Texte, meist sehr knappe, aber aphoristisch ausgefeilte, zugespitzte Texte, in denen er Klartext redet. Und ich glaube, das ist der sichere Grund, von dem aus wir auch seine Bilder erschließen können. Und diese, nennen wir sie einmal Aphorismen, diese kurzen, pointierten Texte machen deutlich, dass er sich vollständig vom christlichen Menschenbild und von den christlichen Welterklärungsmechanismen abgewendet hat. Er hat eine ganz eigene, andere Sicht des Menschen. Der Mensch ist sterblich, seine Seele ist sterblich, sie geht dann zugrunde, wenn die Sinneseindrücke aufhören.
Leonardo hat Schädel geöffnet und das menschliche Bewusstsein zu lokalisieren versucht. Er hat Spott über die Vertreter der Kirche ausgeschüttet, über die Mönche, die angeblich alles zu wissen behaupten, aber seiner Ansicht nach natürlich überhaupt nichts wissen. Und er hat sich mit großer Distanz, also mit geradezu eisiger Kühle und tiefem Befremden über die Riten der Kirche geäußert. Er hat das häufig in Rätsel gefasst, die dann von der Hofgesellschaft aufgelöst werden sollten, also – viele weinen, weil da vor Jahrhunderten ein Mensch im Osten gestorben ist, das zeigt, dass er nicht dazu gehört, dass er eben wie ein Forschungsreisender Blicke auf die Christen wirft und deren Verhalten zu verstehen versucht aber, wie gesagt, nicht an ihrer Wertegemeinschaft teilhat.

Ein "Atheist" war Leonardo nicht

Jabs: War Leonardo da Vinci aus Ihrer Sicht ein Atheist?
Reinhardt: Der Begriff passt für diese Zeit noch nicht. Atheisten behaupten ja, mit Sicherheit zu wissen, dass es keinen Gott gibt. Das geht viel zu weit bei Leonardo. Er glaubt, dass es eine alles durchdringende, hervorbringende und wieder zerstörende Kraft in der Natur gibt. Dieser Kraft hat er lebenslang nachzuspüren versucht. Sie hat er zu erfassen versucht, zu verstehen versucht. Diese Kraft ist ewig, ebenso wie die Natur, die Welt ist nicht von einem Schöpfergott hervorgebracht worden, sondern hat keinen Anfang und kein Ende.
Man kann das eine Art von Pantheismus nennen, also: die Vorstellung, einen Gott in der Natur zu finden, aber auch dieser Begriff passt nicht so ganz. Also große Skepsis gegenüber allen religiösen Aussagen und vor allem gegenüber allen religiösen Dogmen, eine grenzenlose Neugierde auf der Suche nach der Kraft, die die Welt im Innersten zusammenhält, also man kann das quasi Faustisch ausdrücken. Leonardo hat den Begriff Gott für diese Kraft verwendet, aber er meint damit eben etwas ganz anderes als die Christen.

Inquisition war noch nicht so streng

Jabs: Und dass er damit nicht so richtig öffentlich geworden ist, dass er nicht so richtig an die Öffentlichkeit gegangen ist, hat das dann eher, wie Sie sagen, etwas mit der Zeit zu tun, in der er gelebt hat?
Reinhardt: Auch daran knüpfen sich ja viele Mythen. Leonardos Spiegelschrift wurde ja auch als Versuch, sich zu schützen, angesehen, wobei man die Inquisitoren der damaligen Zeit wohl etwas unterschätzt, die hätten das schon von rechts nach links lesen können, das ist ja keine Geheimschrift. Damals ist die Inquisition noch nicht das, was sie 50 Jahre später wird. Damals sind die Regeln für Persönlichkeiten, die Schutz einflussreicher Persönlichkeiten genießen, noch relativ lax, man konnte sich noch sehr viel mehr erlauben.
Ein Philosoph konnte rein philosophisch die Sterblichkeit der Seele an einer angesehenen Universität behaupten und wurde nicht gefeuert. Trotzdem drängt Leonardo damit sicher nicht an die Öffentlichkeit. Warum? Schwer zu sagen. Vielleicht auch, um sich zu schützen. Aber er weiß natürlich, dass es für diese Thesen auch keine Öffentlichkeit gibt, weil der Beruf des Naturforschers als solcher noch nicht existiert.

Der Künstler Leonardo vermenschlicht das Heilige

Jabs: Nach Ansicht vieler Betrachter schuf Leonardo da Vinci Gemälde, die eine tiefe Gläubigkeit ausdrücken. Wie geht denn das eigentlich zusammen?
Reinhardt: Welche Gläubigkeit? Also eine Anbetung Christi ohne den heiligen Josef ist kein frommes Bild, ein Jesusknabe, der gegen Großmutter und Mutter rebelliert und einem unschuldigen Lämmlein den Hals umdreht, das ist auch kein frommes Bild, ein Johannes der Täufer von lüstern schwellender, androgyner Fleischlichkeit, das ist auch kein frommes Bild. Das ist meiner Ansicht nach eine Fehldeutung.
Man hat um jeden Preis konventionelle oder zumindest akzeptable Theologie in seine Bilder hineinzuprojizieren versucht. Aber wir müssen umgekehrt vorgehen. Wir müssen von den sicheren Aussagen seiner Texte ausgehen und von dieser festen Warte aus seine Bilder erschließen. Dann sehen wir meiner Ansicht nach, dass Leonardo das heilige Geschehen radikal vermenschlicht. Sein Christus im Abendmahl ist ein von einem Anhänger verratener, gütiger Anführer.

Ein Genie der Beobachtung

Jabs: Und wenn man ihn aus der heutigen Sicht betrachtet, war er quasi schon der Vorbote eines Wissenschaftlers, der gleichzeitig vielleicht doch an etwas Übernatürliches geglaubt hat?
Reinhardt: Also an Geister und Gespenster und Ähnliches hat er nicht geglaubt, darüber hat er nur gespottet. Wenn man Stimmen hört, dann muss es einen Leib geben, denn Schwingungen kommen nur von einem Körper, und wer durch Mauern geht, kann keinen Körper haben und kann also daher auch nicht existieren. Also alles Übersinnliche ist Leonardo nur Hohn und Spott wert. Sie sprachen von Vorläufer und das ist sicher richtig. Leonardo ist noch kein moderner Naturwissenschaftler wie ein Galilei 100 Jahre später, er hat noch keine in sich geschlossene Methode, die zu festen Formeln führt.
Er ist ein Genie der Beobachtung, wie es es in der Menschheitsgeschichte sicher so noch nicht gegeben hat. Er nimmt durch das Auge wahr, aber die moderne Naturwissenschaft entsteht dann letztlich eher durch das Misstrauen gegenüber den Sinneseindrücken, die gefiltert werden müssen, die überprüft werden müssen, die dann eben abstrahiert werden müssen. Leonardo abstrahiert nicht, er beobachtet, zeichnet, experimentiert auch, aber von einem bestimmten Punkt an fängt er auch an zu spekulieren. Insofern ist er ein Vorläufer, aber ein Vorläufer ohne, ja, Nachläufer, denn sein naturkundliches Werk hat keine Folgen gezeitigt, weil es nicht verbreitet wurde, weil er keine Schüler in dieser Hinsicht hatte.

Ein Glück: im 15. Jahrhundert geboren zu sein

Jabs: Und wenn wir noch einmal auf die Kirche zu sprechen kommen, groß angelegt hat er sich in dieser Zeit mit der Kirche ja dann eigentlich nicht, wenn ich Ihnen richtig zugehört habe?
Reinhardt: Nein. Die Kirche war damals auch nicht tolerant, im heutigen Sinne, aber sehr viel weniger an der Verfolgung von Abweichung interessiert. Leonardo hatte einen kürzeren Aufenthalt im Vatikan beim jüngeren Bruder des Papstes. Dort hat er nicht reüssiert, er hatte keine Erfolge, aber man hat ihn auch nicht mit kritischen Nachforschungen belästigt. Dass er mit der christlichen Religion nichts anfangen konnte und andere Auffassungen hatte, war allerdings bekannt. Der maßgebliche Künstlerbiograf Giorgio Vasari schreibt in seiner ersten Ausgabe von Leonardos Lebensgeschichte gleich am Anfang, "Leonardo war ein Ketzer", und das ist in dieser Zeit ein hartes Wort, ein Ketzer ist eine teuflische Kreatur, die sich gegen Gott und die Schöpfung vergeht und die verfolgt werden muss. Insofern können wir vielleicht sagen, Leonardo hatte doch Glück, 1452 und nicht, sagen wir, 1500 geboren zu werden.

Eigene konsequente Wege

Jabs: Und was bleibt dann von diesem Mann, der von manchen anscheinend als Ketzer beschrieben wird, der aber eben von manchen auch als Visionär beschrieben wird, aus Ihrer Sicht?
Reinhardt: Ja, wenn wir einen Superlativ benutzen wollen, Superlative sind immer subjektiv und nicht wissenschaftlich, aber ich glaube, es ist in diesem Fall erlaubt: die ungewöhnlichste, eigenständigste, querdenkendste, aus dem Rahmen fallendste Gestalt der europäischen Kulturgeschichte, würde ich sagen. Leonardo ging eigene Wege, konsequent, er war, wie gesagt, ein Genie des Auges, seine Zeichnungen der Natur sind von einer überbordenden Lebendigkeit, das sind nicht einfach trockene Illustrationen von Pflanzen oder menschlichen Gliedern, es sind Studien über diese Vitalkraft, der er ein Leben lang nachgespürt hat.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandfunk Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.

Volker Reinhardt: Leonardo da Vinci. Das Auge der Welt
C. H. Beck, München 2018
383 Seiten, 28 Euro

Mehr zum Thema