Leon de Winter: "Geronimo"

Bin Laden lebt – und erpresst Obama

Undatiertes Foto von Osama bin Laden
Undatiertes Foto von Osama bin Laden © picture alliance / dpa
Von Ursula März · 05.09.2016
In "Geronimo" entwickelt Leon de Winter eine literarische Fantasie: Osama bin Laden wurde lebend gefangen genommen, getötet wurde sein Doppelgänger. Aus der fiktiven Umschrift eines weltbewegenden Ereignisses ist ein spannender Thriller geworden – aber der Roman hat einen unguten Geschmack.
Als politischer Zeitgenosse neigt Leon de Winter zu streitbaren Statements, als Romancier zu verwegenen Plots. Auch in seinem neuen Roman "Geronimo" ist auf die temperamentvolle Phantasie des niederländischen Schriftstellers Verlass. Der Titel zielt auf den narrativen Kern dieses Polit-, Agenten- und Actionthriller: "Geronimo" war der Codename für Osama bin Laden, den die Elitetruppe des CIA in der Nacht vom 2. Mai 2011 ins Lagezentrum des US-Präsidenten Barack Obama durchgab, nachdem sie den Terrorchef von Al-Qaida im pakistanischen Abbottabad gefunden und getötet hatte.
Mit beeindruckender Furchtlosigkeit wagt sich Leon de Winter an eine fiktive Umschrift der realen Ereignisse. In seiner Romanversion dringen die Männer vom Seals "Team 6" tatsächlich im Mai 2011 in Osama bin Ladens Haus ein. Sie töten auch einen Mann. Aber es ist ein Doppelgänger. Den wirklichen Osama bin Laden nehmen sie, entgegen ihrem offiziellen Auftrag, lebend gefangen, um ihn irgendwann in Den Haag vor Gericht stellen zu lassen.

Apana und die Liebe zu den Goldberg-Variationen

Um diese Ausgangsidee herum webt der Roman ein weitmaschiges Netz aus Handlungssträngen, politischen Verflechtungen und Geheimdienstbeziehungen. Die Schauplätze sind Pakistan, Afghanistan, London, Israel, USA und Saudi-Arabien, das Hauptensemble besteht aus einem halben Dutzend Figuren.
Im Zentrum steht der Amerikaner Tom Johnson, Sohn eines jüdisch-russischen Musikerpaares und ehemaliger CIA-Agent. Bei einem Einsatz in Afghanistan im Jahr 2008 nimmt er die dreizehnjährige Apana in seine Obhut, deren Familie von Taliban-Kämpfern ermordet wurde. Durch ihn entdeckt sie die Liebe zu Glenn Goulds Goldberg-Variationen, eine Liebe, die ihr zum Verhängnis wird.
Nach einem Überfall auf den afghanischen US-Stützpunkt hacken ihr Taliban Ohren und Hände ab. Apana kann nach Abbotabad flüchten, findet Hilfe bei einem christlichen Jungen und seiner Mutter, bis sie eines Nachts von einem älteren Herrn auf dem Moped entführt wird. Er ist: Osama bin Laden, der hier als Mensch mit menschlichen Schwächen dargestellt wird. Er benötigt Viagra, um seine drei Ehefrauen bei Laune zu halten, Schokolade und Zigaretten, um selbst bei Laune zu bleiben, und hat ein Herz für die verstümmelte Apana, die er in einer Garage versteckt und mit Essen versorgt.
Der niederländische Schriftsteller Leon de Winter bei der Leipziger Buchmesse 2016
Der niederländische Schriftsteller Leon de Winter bei der Leipziger Buchmesse 2016© dpa / picture alliance / Jens Kalaene
"Geronimo" ist ein Kolportagethriller, der Spannung mit formaler Ambition verbindet. Der Aufbau des Romans ist dem der Goldberg-Variationen nachempfunden. Dass Leon de Winter das Handwerk von Genreliteratur vorzüglich beherrscht, lässt sich nicht bestreiten. Ebenso wenig aber, dass er in die Handlung eine ideologisch zumindest irritierende Episode einführt. Die Romanfigur Osama bin Laden ist im Besitz eines Sticks, mit dessen Bildmaterial er Barack Obama erpressen kann. Die Bilder beweisen, dass der US-Präsident in Wahrheit Muslim und sein Christentum Maskerade ist.
Über die latente Islamfeindlichkeit dieser Erzählidee könnte man vielleicht noch hinwegsehen. Nicht aber darüber, dass sie eine propagandistische Attacke Donald Trumps aufgreift. Kein anderer als Trump setzte vor geraumer Zeit das Gerücht in die Welt, der US-Präsident sei Muslim.
Eine Polit-Fiktion wie "Geronimo" hat das Recht auf die Freiheiten literarischer Fantasie. Nur gibt es Freiheiten, die beim Leser einen unguten Geschmack hinterlassen, und eben dies ist hier der Fall.

Leon de Winter: "Geronimo"
Aus dem Niederländischen von Hanni Ehlers
Diogenes Verlag, Zürich 2016
442 Seiten, 24 Euro

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