Lenins neue Zeitrechnung

Von Martina Klausner · 14.02.2008
Bis vor 90 Jahren galt in Russland noch ein anderer Kalender als im gesamten westlichen Europa. Dann verordnete ausgerechnet der Revolutionär Wladimir Iljitsch Lenin den päpstlichen Kalender. Seitdem wird die Oktoberrevolution paradoxerweise im November gefeiert.
Das Jahr 1918 läutete in Russland eine radikale Gesellschaftsreform ein, die das gesamte 20. Jahrhundert prägen sollte. Mit der Oktoberrevolution im Herbst zuvor hatten die Bolschewiken unter der Führung Lenins gewaltsam die Macht im Land übernommen, um einen Staat nach sozialistischen Vorstellungen zu formen. Aber nicht nur politisch gesehen begann eine neue Zeit.

Einige Wochen nach der Machtübernahme verordnete Lenin dem jungen Sowjetrussland auch einen anderen Kalender. Am 14. Februar 1918 wurde der bis dato gültige julianische Kalender durch den gregorianischen Kalender ersetzt. So kam es, dass die Menschen in Russland in der Nacht des 31. Januar im Schlaf 13 Tage übersprangen und am 14. Februar wieder aufwachten.

Im Gegensatz zu seinen europäischen Nachbarländern hatte sich das orthodoxe Russland bislang geweigert, die gregorianische Kalenderreform aus dem Jahr 1582 umzusetzen. Dabei war dies unter wissenschaftlichen Gesichtspunkten eine dringend notwendige Maßnahme gewesen. Das julianische Kalenderjahr, das Julius Cäsar im Jahr 46 vor Christi Geburt eingeführt hatte, war elf Minuten zu lang – dadurch verschob sich das Jahr alle 128 Jahre um einen Tag.

Für die genaue Datierung der christlichen Festtage wurde das allmählich zu einem Problem. Und so setzte Papst Gregor der XIII. im 16. Jahrhundert schließlich eine Reform durch. Die orthodoxe Kirche, Gegenspielerin des Papstes in Rom, weigerte sich aber, den neuen Kalender anzuerkennen. So blieb die Zeitrechnung in Europa bis ins 20. Jahrhundert eine Glaubensfrage.

Dass ausgerechnet der Revolutionär Lenin den päpstlichen Kalender in Russland einführte, hatte pragmatische und ideologische Gründe, wie Jörg Baberowski, Professor für die Geschichte Osteuropas an der Berliner Humboldt-Universität, betont:

"Das eine ist: In einer vernetzten Welt von Revolutionären, die sehr stark auf Deutschland bezogen waren, war das nicht mehr sinnvoll, in verschiedenen Kalenderstrukturen zu leben. Ich glaube, das ist einfach der pragmatische Grund: Man wollte jetzt Teil der europäischen Welt sein. Das wollten auch die Zaren, aber sie haben Rücksicht auf die orthodoxe Kirche genommen. Diese Rücksicht musste Lenin nicht mehr nehmen.

Und da kommen wir zum zweiten Punkt, zu den ideologischen Gründen: Die Änderung des Kalenders konnte man als Angriff auf die orthodoxe Kirche verwenden. Aber - das war viel wichtiger - man konnte dadurch den Festkalender verändern: Man konnte gewissermaßen die orthodoxe Kirche und ihre Feiertage durcheinander bringen. Das war wichtig, um zu zeigen, welche kulturelle Hegemonie man ausüben kann. Dafür war das wichtig, diesen Kalender einzuführen. "

Somit hatte Lenins staatlich verordnete Kalenderreform einen wichtigen politischen Nebeneffekt. Seit der Machtübernahme der Bolschewiken wurde in Russland eine Entmachtung der Kirche angestrebt. Kirche und Staat mussten - nach dem atheistischen Gesellschaftsverständnis der Sozialisten - getrennt sein. Bereits im Januar 1918 ließ Lenin die orthodoxe Kirche staatlich enteignen.

Und die Konfrontation zwischen Orthodoxen und Sozialisten nahm an Härte immer weiter zu. Priester wurden verfolgt und ermordet, Gotteshäuser geschlossen, die Kirchenglocken eingeschmolzen. So gesehen war die Einführung des gregorianischen Kalenders letztendlich nur eine von vielen Maßnahmen, um die Kirche aus dem gesellschaftlichen Leben zu verbannen. Aber es war auch ein besonders symbolträchtiger Akt, wie Jörg Baberowski erklärt:

"Das, was am Ende schon gelungen ist, und was man ja auch sehen kann in Russland, ist, dass das Regime die Interpretationshoheit über die Vergangenheit erlangte. Und dass dieses Regime die Bevölkerung irgendwann dazu nötigen konnte, die Feiern des Regimes zu feiern und nicht mehr die Feiern der Kirche. Natürlich wurde das mit religiösen Traditionen verwoben und verknüpft, aber die Kirche fiel irgendwann heraus."

Die Kalenderreform von 1918 blieb dabei nicht der letzte Versuch. In den späten 20er Jahren folgten weitere Kalenderexperimente: Man wollte den Sonntag - im Russischen "Tag der Auferstehung" genannt - abschaffen und eine 5-Tage-Woche einführen. Bei der russischen Bevölkerung stießen diese radikalen Experimente allerdings auf wenig Gegenliebe. Und so beließ es das sowjetische Regime schließlich doch bei der päpstlichen Zeitrechnung von Gregor dem XIII..