Leise strömt die Panik ein

05.03.2011
Was zunächst als Into-the-Wild-Romanze daherkommt, entwickelt sich zum traurigsten Roman über Väter und Söhne, den man je gelesen hat. In einem ungeheuerlichen Moment kippt der Realismus der Geschichte ins Albtraumhafte.
Einen traurigeren Roman über Väter und Söhne hat man noch nicht gelesen. Jim, ein Zahnarzt, hat seinen Beruf an den Nagel gehängt und nimmt sich ein Jahr Urlaub vom Leben: Mit seinem 13-jährigen Sohn Roy bricht er auf in die Wälder, bezieht eine Hütte an einem gottverlassenen See in Südalaska. Da werden Lachse gefischt, Vorräte für den Winter angelegt und der Überlebenskampf jenseits der Zivilisation inszeniert, da kommen sich Vater und Sohn auf mannhafte Weise nahe. Eine typisch amerikanische Initiationsgeschichte, scheint es. Stimmungsvoll beschrieben in einer kargen und präzisen Sprache, mit jener Hemingwayschen Sachlichkeit, hinter der die Gefühle lauern. Aber kennt man solche Into-the-Wild-Romanzen nicht längst zur Genüge?

Schnell spürt man, dass hier alles anders ist. Roy hatte eigentlich gar keine Lust auf die Reise; er ist ein Verschiebeposten seiner zerstrittenen, längst geschiedenen Eltern. Und er hat sich bloß darauf eingelassen, weil er seinen Vater für selbstmordgefährdet hält. Dieser Vater ist ein beeindruckendes Schreckbild des Versagens und der lebensgefährlichen Inkompetenz. Er verirrt sich bei einer Wanderung durch den Schnee, wird von der Dämmerung überrascht und schlägt vor, für die Nacht eine Schneehöhle zu bauen. Dabei wird er unter einstürzendem Schnee begraben und muss von Roy ausgegraben werden. Ein andermal fällt er von einem Kliff – der Sohn muss ihn verletzt zur Hütte schleppen.

Und was soll der Sohn von einem Vater halten, den er Nacht für Nacht wimmern hört? Er hatte Roys Mutter damals mit anderen Frauen betrogen, jetzt quält er den Sohn mit den Erzählungen seiner sexuellen Bedürftigkeit. Zwischendurch gibt er den herzhaften Kumpelvater, der mit Roy eine tolle Zeit verlebt und das von ihm auch immer wieder bestätigt haben möchte. Immer dunkler legt sich der Schatten dieses Vaters auf den Sohn – der Schatten einer destruktiven Selbstbezogenheit.

David Vann, Jahrgang 1966, wurde als Jugendlicher vom Selbstmord seines Vaters traumatisiert. In seinem von der amerikanischen Kritik gefeierten Erzählband "Legend of a Suicide" hat er das Thema in mehreren Geschichten variiert. Kernstück ist diese meisterhafte Erzählung von Romanlänge, in der das wahre Selbstmordgeschehen verschoben wird: vom Vater auf den Sohn. Leise strömt die Panik in die Geschichte ein, mitten in den Naturbeschreibungen häufen sich die düsteren Vorzeichen und Todesmotive.

Bis der ungeheuerliche Moment kommt, in dem der Realismus der Geschichte ins Albtraumhafte kippt. Roy schießt sich das halbe Gesicht weg. Es wirkt wie eine makabre Vater-Bestrafungsfantasie. Das letzte Drittel des Romans erinnert an die düsteren Szenarien Cormac McCarthys. Völlig abgeschieden von der Außenwelt (das Funkgerät hat er in einem Wutausbruch zerstört), verbringt Jim den einsamsten aller Winter mit dem verrottenden, immer wieder in schockhaften Details beschriebenen Leichnam seines Sohnes, geschüttelt von fratzenhafter Trauer und bitterem Gram.

Als er endlich von einem Polizeiflugzeug entdeckt wird, zieht er durch seine befremdliche Geschichte den Mordverdacht auf sich. Von den Behörden und den inneren Dämonen gleichermaßen gehetzt, findet er auf der Flucht selbst einen gewaltsamen Tod. Diese Spottgestalt eines Vaters ist eine Figur, die man nicht vergisst. David Vanns meisterhaft komponierter Roman hat einen kathartischen Effekt, er liest sich wie eine Warnung: Es gehört überraschend wenig dazu, das Leben der Menschen, die man am meisten liebt, zu zerstören.

Besprochen von Wolfgang Schneider

David Vann: Im Schatten des Vaters
Aus dem Amerikanischen von Miriam Mandelkow
Suhrkamp, Berlin 2011
185 Seiten, 17,90 Euro