Leipziger Buchmesse

Sich ein Dorf ausdenken

Moderation: Britta Bürger · 14.03.2014
In Saša Stanišićs mit dem Preis der Leipziger Buchmesse ausgezeichneten Roman geht es um ein Dorf in der Uckermark. Wie jemand, der sich während der Midlife Crisis einen Motorrad-Führerschein anschaffe, wollte er sich ein Dorf anschaffen, so der Schriftsteller.
Britta Bürger: In unserem Buchmesse-Blog war gestern zu lesen, dass die für den Leipziger Buchpreis nominierte Katja Petrowskaja es eigentlich gerechter fände, wenn ihr Kollege Saša Stanišić den Preis bekäme, und so ist es dann auch gekommen. Die Jury hat sich für seinen, in der Uckermark spielenden Roman "Vor dem Fest" entschieden. Den hat er aber zufälligerweise auch einer Frau namens Katja gewidmet. Saša Stanišić, sehr herzlichen Glückwunsch zu diesem Preis!
Saša Stanišić: Vielen, vielen Dank!
Bürger: Ihre Katja ist aber eine andere, oder?
Stanišić: Meine Katja ist eine andere. Die beiden Katjas haben sich auch darüber schon ausgetauscht und es besteht kein Grund zur Sorge in dieser Hinsicht.
Bürger: Lassen Sie uns über Ihr Buch sprechen. "Vor dem Fest" ist Ihr zweiter Roman nach dem ebenfalls preisgekrönten Buch "Als der Soldat das Grammophon reparierte". Das wurde in 30 Sprachen übersetzt, Sie sind damit tatsächlich einige Jahre um die Welt gereist, eine Geschichte, mit der Sie nach dem Bosnien-Krieg in Ihr Heimatdorf zurückgekehrt waren. Im neuen Buch jetzt tauchen Sie in völlig andere Geschichten ein. Allerdings ist der Schauplatz wieder ein Dorf, ein Dorf, das Sie, wie Daniela Strigl in ihrer Laudatio sagte, adoptiert und aus der Sprache erfunden hätten. Was hat Sie an diesem Mikrokosmos interessiert?
Stanišić: Tatsächlich diese sehr banale Tätigkeit des Erbauers. Ich habe mir vorgenommen, ein Dorf in all dem, was ich dachte, dass es ausmacht, zu schaffen. Wie jemand, der sich vielleicht während der Midlife Crisis einen Führerschein anschafft, einen Motorrad-Führerschein, wollte ich mir ein Dorf anschaffen und hatte ganz lange Ideen dafür, wie das ungefähr aussehen soll, hatte auch die Landschaft im Kopf, dass es eine relativ flache Ebene sein soll und das Dorf sehr abgeschieden sein soll, hatte auch das Gefühl, dass es zwei Seen sein sollten, die es ganz zärtlich umschließen. Eine große Nähe zu diesen Seen sollte bestehen und dass die Menschen aus den Seen heraus auch leben, mit ihnen leben.
Ich erzählte das einer Freundin, die dann mich in die Uckermark mitnahm. Das heißt, die Uckermark war tatsächlich nicht von vornherein da, sondern die Idee zu diesem Dorfkosmos war zuerst da. Dann passierte etwas ganz Merkwürdiges: Ich begann, dieses innere Archiv von Geschichten, die ich mir vorher so ein bisschen überlegt hatte über mein Dorf, mit denen aus der Uckermark zu füllen. Das heißt, die Realität trat in die Fiktion hinein.
Bürger: Fast so, als hätte Ihnen das Leben den Roman geklaut?
Stanišić: Absolut! Ganz richtig, als wäre ich in eine von mir erschaffene Realsituation geraten. Und aus diesem Wunsch heraus, einen Mikrokosmos als eine Art Körper zu sezieren, die Anatomie eines Dorfes zu schaffen, wurde ein Dorf in der Uckermark.
"Ich bin sehr fasziniert vom Sammeln"
Bürger: Wie für Sie gerufen, gibt es in Fürstenwalde – das war das Dorf, in das Sie dann tatsächlich gefahren sind – ein Heimatmuseum, das Haus der Heimat. Was für ein Steinbruch war das? Auf was für Geschichten oder auch Objekte sind Sie in dem Archivkeller dort gestoßen?
Stanišić: Ich bin sehr fasziniert vom Sammeln. Ich bin sehr fasziniert von Dingen, die wir glauben, aufbewahren zu müssen, um sie uns zu zeigen und zu präsentieren. Deswegen reizen mich solche Orte wie Heimatstuben, Heimatmuseen, in denen das Lokalgeschichtliche mit großer Liebe und Aufmerksamkeit aufbewahrt und gezeigt wird, sehr. Als ich diese Archive durchstöberte, da fand ich sehr viele Geschichten, die eine Art von mir bekannten Strukturen aufwiesen, nämlich solche, die ich schon aus meiner Kindheit kannte aus den Mythen und Volkssagen aus meinem Kulturkreis, nämlich dem jugoslawischen.
Und das hat mich dann doch überrascht, obwohl ich natürlich wusste, dass es Archetypen in solchen alten Geschichten gibt, das Begleitertier, den edlen Räuber und so weiter, und begann dann zu forschen, was könnte ich denn hier in diesen Tiefen finden, was etwas über die Vergangenheit erzählt, aber auch über die Gegenwart dieser Orte, und zwar auch über das, woher ich komme.
Bürger: Das andere sind die realen Bewohner dieses Ortes, die Sie anscheinend mit so einer Art humoristischem Sensor belauscht haben. Sie haben offensichtlich großen Spaß an witzigen und skurrilen Geschichten. War das manchmal ein Konflikt, Leute zu beobachten, über sie zu schreiben und sie dabei nicht zu diskriminieren, eine Gratwanderung, wie weit kann ich gehen auch in der Überzeichnung? Ich denke an Sätze wie diesen Herrn Schramm, den Sie beschreiben, einen ehemaligen NVA-Oberstleutnant und heutigen Rentner, ein Mann mit Haltung und Haltungsschaden.
Stanišić: Der Humor ist wichtig, aber er ist, finde ich, nicht etwas, was ich dem Landstrich hineingeschrieben habe. Ich habe dort Menschen vorgefunden, die unglaublich selbstironisch und mit einer großen Freude am Erzählen und auch am witzigen Erzählen über sich und über die Welt sprechen. Das heißt, der Humor war nicht ein Ergebnis meiner Vorliebe für komische Bücher, sondern tatsächlich ein Ergebnis einer ethnologischen Recherche in der Uckermark. Das sind unfassbar witzige Leute. Ich kann mich an Abende erinnern in der Uckermark, an denen ich tatsächlich dachte, so gut amüsiert habe ich mich seit langem nicht. Das kam nicht von mir, sondern von Leuten vor Ort, die trotz aller strukturellen Probleme und trotz aller nicht einfacher Lebensweisen doch das schaffen, ganz selbstverständlich den Humor in ihrem Leben zuzulassen.
Es ist aber im zweiten Schritt auch so, dass ich sehr viele Gestalten tatsächlich vollkommen imaginiert habe. Sie haben den Herrn Schramm, den NVA-Offizier, erwähnt. Der ist eine vollkommen von mir erschaffene Figur, den gibt es nirgendwo, und sehr viele andere Bewohner auch. Das heißt, es ist ein Spiel zwischen Fiktion und Wahrheit, das ich tatsächlich so oft auf einer rein fiktionalen Ebene betreibe.
"Das Deutsche ist eine wahnsinnig flexible Sprache"
Bürger: Das Buch beginnt mit den eindringlichen Sätzen: "Wir sind traurig, wir haben keinen Fährmann mehr. Der Fährmann ist tot. Zu den Inseln gelangst Du jetzt, wenn Du ein Boot hast, oder wenn Du ein Boot bist, oder Du schwimmst." Ausgerechnet ein Toter führt uns hinein in dieses Dorfleben, und schon diese ersten Sätze geben einen Eindruck vom Rhythmus Ihrer ja sehr musikalischen Sprache. Das sind so kurze gesetzte Wortketten, die dennoch so was wie Entschleunigung erzeugen, kein Staccato. Nach was für einem Rhythmus haben Sie gesucht?
Stanišić: Nach einem Rhythmus des Lebens, so esoterisch das auch klingt, und in dem Fall ist es eine Elegie. So beginnt das nämlich, also ein - wie Sie ganz richtig gesagt haben - verlangsamter Beat des Verlustes, ein Beat des Todes. Da dürfen die Sätze nicht die Wucht haben von zum Beispiel späteren zwei Prolls dort mit einem Rap-Gesang durch die Nacht gehen. Ich passe also die Sprache immer völlig der Szenerie und dem Charakter der Personen an und – Sie haben es ganz richtig erkannt – entschleunige sie auch oft, wenn ich merke, dass es dort darum geht, einen Verlust zu beschreiben und einen Bruch in einer Biographie zu beschreiben, und beschleunige sie immer dann, wenn es um vitale Personen geht.
Ich versuche also auch, sprachlich dieses Dorf in all seinen Fassetten und Einzelheiten wieder erkennbar zu machen. Niemand dort spricht gleich, weil es einfach der Wirklichkeit entspricht. Wir sprechen einfach nicht gleich. Und in dem Fall war das mir auch wichtig, dass das Dorf nicht nur einen Klang, sondern aus sehr, sehr vielen Solistenstimmen besteht.
Bürger: Sie wollten nach dem Abitur zunächst Deutschlehrer werden, und zwar spezialisiert auf das Unterrichten von Ausländern, haben sich dann aber doch fürs Schreiben entschieden und mit einem Zweitstudium am Leipziger Literaturinstitut weitergemacht. Wie würden Sie, Herr Stanišić, Ihre Beziehung zur deutschen Sprache beschreiben? Sie haben Deutsch erst mit 14 gelernt. Welche Möglichkeiten, welche Freiheit, welches poetische Potenzial bietet Ihnen die deutsche Sprache?
Stanišić: Sie ist für mich das Vehikel, um durch diese Welt in meinem Kopf zu fahren, und als solches muss ich wissen, wie ich es fahren darf, wie schnell, wie langsam. Sie ist für mich immer schon eine Begleiterin gewesen, mit der es nicht immer einfach ist. Am Anfang musste ich sie an mich gewöhnen und mich an sie. Das war der Lernvorgang. Später musste ich mich auf sie einlassen können, auch kreativ einlassen können. Dann hat sie mir ihr wahres Gesicht gezeigt.
Das Deutsche ist eine wahnsinnig flexible Sprache, eine Sprache, mit der man, wenn man möchte, alles anstellen kann. Man kann durch einfache Verschiebungen in der Wortstellung eines Satzes so viel ausrichten, in kleinsten Bedeutungsverschiebungen. Man kann durch neue Wortbildungen auf eine Art und Weise auf die Umstände reagieren, die es einem klar machen, welche Freiheiten man hat, um aktiv mit ihr umzugehen. Das heißt, wir haben uns nach diesen ersten Anlaufschwierigkeiten doch sehr aufeinander eingelassen, und ich lasse mich auch von Sprache lenken und leiten.""
"Die Herkunft ist keine literarische oder ästhetische Kategorie"
Bürger: In den vergangenen Wochen tobte ja in den Feuilletons die von Maxim Biller losgetretene Debatte über Autorinnen und Autoren nichtdeutscher Herkunft. Er hat Sie dabei persönlich massiv angegriffen, weil Sie das bosnische Terrain auch literarisch verlassen haben und sich jetzt in der Uckermark tummeln. Das war ganz merkwürdig, wie in dieser Debatte Herkunft plötzlich als ästhetische Kategorie verhandelt wurde, und Daniela Strigl ging auch darauf pointiert ein in ihrer Laudatio. "Saša Stanišić", sagte sie, "lässt sich nicht einsperren im Ghetto des ewigen Migrantentums." Wie haben Sie sich während dieser Herkunftsdebatte gefühlt?
Stanišić: Wie Sie richtig gesagt haben: Die Herkunft ist ein Zufall und keine literarische oder ästhetische Kategorie, so wie es unsere Haarfarbe ja auch nicht ist. Die Literatur – und das ist das Grandiose daran – ist, dass sie eine Welt ist, die von uns Autoren erobert werden kann in all ihren Facetten, wenn wir das wollen. Das heißt, eine Forderung zu stellen an migrantische Autoren im Sinne einer positiven Diskriminierung - weil das war es letzten Endes -, zu schreiben über das, was sie wissen, würde der Literatur keinen Gefallen tun.
Und wenn Sie ganz kurz einen Gedankenflug mit mir machen und in die Vergangenheit denken, was für großartige Bücher wir nicht hätten, wenn tatsächlich dieser monothematische Zugang Pflicht wäre, wir hätten einen Nabokov so niemals gehabt, wir hätten einen Conrad niemals gehabt, wir hätten einen Hammond in Amerika nicht gehabt und viele von Autoren, die in Deutschland leben, die einfach andere Themen für sich gefunden haben, nicht. Das heißt, diese Forderung ist wirklich einfach nur hanebüchen. Und so sehr ich Herrn Biller zustimmen möchte, dass die Literatur eine intensive sein muss, man darf sie nicht über Themen- und Herkunftsdebatten führen.
Bürger: In Ihren Dankesworten haben Sie erzählt, dass Ihnen auf der Buchmesse jemand ein Ei geschenkt hat. Hatte der Ihr Buch gelesen?
Stanišić: Das Ei war ein uckermärkisches Ei, das hat mich sehr gefreut. In meinem Buch kommt ja ein Hühnerzüchter, der Eier verkauft, vor, meine absolute Lieblingsfigur tatsächlich; ein Briefträger, von dem man nicht genau weiß, ob er damals vor der Wende die Briefe der Bewohner aufgemacht hatte und gelesen hatte, eine sehr ambivalente Figur, die ich deswegen so gut finde, weil sie von vornherein schon Außenseiter ist und es ihr auch nichts ausmacht, dass sie vom Dorf abgelehnt wird. Diese Figur liebt ihre Hühner mehr als Menschen und deswegen fand ich das so schön, dass ich heute ausgerechnet ein Ei geschenkt bekommen habe. Ich hoffe nur, dass ist eine nette Geste und nicht etwas anderes.
Bürger: Lassen Sie sich dieses Ei einfach schmecken! - Saša Stanišić, herzlichen Dank fürs Gespräch!
Stanišić: Vielen, vielen Dank.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk/Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Mehr zum Thema