Leïla Slimani: "Dann schlaf auch du"

Kinderaufsicht mit tödlichen Folgen

Cover: Leïla Slimani: "Dann schlaf auch du"
"Dann schlaf auch du" erzählt von dem Dilemma, sein Kind jemandem anvertrauen zu müssen, den man nicht kontrollieren kann. © unsplash.com/ Buchcover: Luchterhand Literaturverlag
Von Dina Netz · 01.09.2017
In Leïla Slimanis mit dem Prix Goncourt ausgezeichneten Roman "Dann schlaf auch du" nimmt eine Tragödie antiken Ausmaßes ihren Lauf. Im Mittelpunkt des Bestsellers steht ein französisches Mittelklasse-Paar, das sich nicht für seine Kinderfrau interessiert.
Leïla Slimani erzählt in "Dann schlaf auch du" vom Dilemma aller Eltern, die ihre Kinder betreuen lassen. "Chanson douce" heißt Leïla Slimanis Roman im Original – Wiegenlied, eine perfide Zuspitzung seines Themas: Gleich auf der ersten Seite sind zwei Kinder tot, ein Baby und ein Kleinkind, umgebracht von der eigenen Kinderfrau. Slimani erzählt im Rückblick, wie es zu dieser Katastrophe kommen konnte. Das Etikett "psychologischer Thriller", mit dem "Dann schlaf auch du" oft versehen wird, trifft es also nicht ganz, denn der Ausgang ist von Anfang an klar.
Die Schrifstellerin Leila Slimani.
Leïla Slimani erzählt vom Weg in die Katastrophe in einer schnörkellosen, nüchternen Prosa. © JOEL SAGET / AFP

Ödnis des Wickeln-Füttern-Alltags

Paul und Myriam sind ein typisches Mittelklasse-Paar: Er Musikproduzent mit ansteigender Erfolgskurve, sie studierte Juristin, jetzt Hausfrau. Kurz nach der Geburt des zweiten Kindes schlägt die Ödnis des Wickeln-Füttern-Alltags über Myriam zusammen, sie will endlich in ihrem Job arbeiten. Das Paar engagiert eine Kinderfrau, Mitte 40, alleinstehend, Mutter einer erwachsenen Tochter. Das, und da beginnen die Probleme, ist so ziemlich das Einzige, was Paul und Myriam von Louise wissen. Sie interessieren sich nur bedingt für die Person, der sie ihre Kinder anvertrauen.
"Dann schlaf auch du" ist damit auch ein Roman über die strikte Segregation der sozialen Schichten in der französischen Gesellschaft. Denn während Louise die intimsten Details des Familienlebens kennt, interessieren sich Paul und Myriam nicht für ihre Angestellte. Louise ermöglicht ihnen, ungestört ihrer Arbeit nachzugehen, das allein zählt. Dass Louise eine Einzelgängerin ist, dass sie große finanzielle Probleme hat, dass der Vermieter sie aus ihrer Wohnung wirft – all das bekommen Paul und Myriam nicht oder kaum mit. Sie selbst funktionieren perfekt im gesellschaftlichen Räderwerk und erwarten das auch von Louise. Paul und Myriam sind als Figuren ziemlich uninteressant, aber in ihrer Durchschnittlichkeit auch wieder beunruhigend exemplarisch.

Die Ignoranz von Eltern

Und das ist vermutlich der Grund für den Erfolg von Slimanis Roman. "Dann schlaf auch du" war in Frankreich schon vor der Auszeichnung mit dem begehrten Prix Goncourt 2016 ein Bestseller, hat sich inzwischen mehr als eine halbe Million mal verkauft. Das Dilemma, sein Kind jemandem anvertrauen zu müssen, den man nicht kontrollieren kann, kennen (nicht nur in Frankreich) so gut wie alle Eltern. Die damit verbundenen Ängste auch. Und auch den Mechanismus, über kleine Irritationen, Verfehlungen oder Konflikte mit der Betreuungsperson hinwegzusehen. Man ist schließlich auf sie angewiesen. Das dürfte den Erfolg des Buches erklären: Leïla Slimani spitzt die notwendige Ignoranz von Eltern nur wenig zu – und schon nimmt eine Tragödie antiken Ausmaßes ihren Lauf.
Leïla Slimani erzählt vom Weg in die Katastrophe chronologisch, in einer schnörkellosen, fast protokollarisch nüchternen Prosa. Die Erzählstimme greift immer wieder kommentierend ein, ist aber bei Mutmaßungen über Gefühlszustände eher vorsichtig; wie Slimani überhaupt Distanz zu ihren Figuren hält. Eine klug gewählte Haltung. Denn ein Mord lässt sich letztlich nicht erklären, so sehr die ermittelnde Kommissarin sich auch bemüht.

Leïla Slimani: Dann schlaf auch du
Aus dem Französischen von Amelie Thoma
Luchterhand Literaturverlag
224 Seiten, 20 Euro

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