Leihen ohne Zinsen

Armut und Reichtum nehmen durch den Zins gleichermaßen zu.
Armut und Reichtum nehmen durch den Zins gleichermaßen zu. © picture alliance / dpa
Von Jantje Hannover · 27.10.2012
Am Reformationstag, dem 31. Oktober, soll Luther seine 95 Thesen an die Kirche in Wittenberg geschlagen haben. Mit ihnen geißelte er den Ablasshandel der katholischen Kirche. Der Initiativkreis 9,5 Thesen hat seinen Appell an alle Christen eingedampft und vor drei Jahren an der Frankfurter Paulskirche ausgehängt. Wichtigster Kritikpunkt: unser heutiges Zinssystem.
Da unser Herr und Freund Jesus Christus spricht: "Ihr sollt leihen, auch wo ihr nichts dafür erhoffen könnt. Denn dann wird euer Lohn groß sein." wollte er, dass Christen keine Zinsen nehmen.

Das ist die erste der Thesen, die der christliche Initiativkreis 9komma5 vor drei Jahren an die Frankfurter Paulskirche geschlagen hat. Die Bibelstelle im Lukas-Evangelium kennt natürlich auch der Pfarrer der Emmaus-Ölberg-Gemeinde Jörg Machel. Er hält die Botschaft aber für nicht zeitgemäß:

"Ich denke, unsere Wirtschaft würde nicht funktionieren, wenn es ein Zinsverbot gäbe, und wenn die Wirtschaft am Ende nicht mehr funktionieren würde, wäre es nicht sinvoll. Dass der Zins aber eine solche Bedeutung hat, ist absolut falsch, und insofern ist die Neigung dazu, zu sagen: Weg mit den Zinsen! schon groß."

Gottesdienst in der Kreuzberger Ölbergkirche - der Klingelbeutel wird herumgereicht. Etwas Geben für einen guten Zweck und ohne Spendenquittung. Diese Form von solidarischer Ökonomie praktiziert jede Gemeinde beim Sammeln mit dem Klingelbeutel.

Der Volkswirt Heiko Kastner aus Meppen, Mitglied des Initiativkreises 9komma5 Thesen, findet, dass die biblische Botschaft des Zinsverbots nichts von ihrer Aktualität eingebüßt hat:

"Die Bibel hat klar ausgesprochen, du sollst keinen Zins nehmen wider deinen Bruder. Dahinter steht natürlich die Idee, wenn du selber mehr Geld hast, als du brauchst, dann mach keine Geschäfte mit der Not des Anderen, der ja nicht wissen kann, wie die Zukunft sich entwickelt. Das ist ein ganz wichtiges Thema, dass man verstehen muss: Es geht immer um die unsichere Zukunft."

In unserem Finanzsystem muss der Schuldner das Risiko für die unsichere Zukunft alleine tragen. Er muss einen Kredit in jedem Fall zurückzahlen, egal ob er arbeitslos oder krank wird oder das neu gegründete Unternehmen zu wenig Gewinn abwirft. Die Bank konfisziert notfalls das Haus des Schuldners oder belastet die Konten seiner Bürgen. Obwohl also die Bank kein Risiko eingeht und – wie wir spätestens seit der Finanzkrise wissen – im Notfall auch noch vom Steuerzahler gerettet wird, zahlt ihr der Schuldner mit den Zinsen einen üppigen Lohn. Der Initiativkreis 9komma5 Thesen sagt daher in seiner dritten These:

Zins und Zinseszins lassen Geldvermögen wachsen und setzen die Wirtschaft unter einen permanenten Wachstumszwang. Die Vermögen der einen müssen von den anderen erwirtschaftet werden. Armut und Reichtum nehmen durch den Zins gleichermaßen zu. Zinswachstum ist exponentielles Wachstum, das zwangsläufig zum Entstehen und Platzen spekulativer Blasen führt.

Hohe Zinsen können Vermögen deutlich schneller wachsen lassen, als eine Volkswirtschaft zu wachsen vermag. Legt man 10.000 Euro mit 3 Prozent Zinsen an, dauert es 23 Jahre, bis sich die Summe verdoppelt hat. Legt man sie aber mit 6 Prozent Zinsen an, also doppelt so viel, hat sich die Summe am Ende bereits vervierfacht.

Heiko Kastner: "Das ist genau das, was wir vor dem Hintergrund der Finanzkrise sehen, dass nämlich sowohl Schulden als auch Vermögen exponentiell steigen, und die Realwirtschaft - die Geldmenge sollte eigentlich gekoppelt sein an der realwirtschaftlichen Entwicklung - damit einfach nicht mehr mithalten kann. Das ging in den 50er-, 60er-Jahren noch relativ gut, da hatten wir hier in Deutschland beispielsweise Wachstumsraten von acht bis neun Prozent, also das, was wir jetzt in China beobachten. Aber seit den 70er-Jahren liegt die realwirschaftliche Wachstumsrate dauerhaft unterhalb der Zinsrate."

Heiko Kastner hat ausgerechnet, dass wir mit jedem Produkt, das wir kaufen, 40 Prozent des Preises für Kapitaldienste zahlen. Denn Unternehmen finanzieren ihre Investitionen meist über Kredit.

"Das heißt, dass die Unternehmen sich immer mehr verschulden müssen, und der Kapitaldienst muss in die Preise hinein, den zahlen wir alle. Am Ende steht dann die Situation, dass 10 Prozent der Haushalte profitieren und 90 Prozent verlieren."

Wir sind die 99 Prozent – so hieß der Slogan der Occupy-Bewegung. Warum aber ist es so schwierig, dem Finanzsystem, das doch allen Menschen dienen und nicht die Mehrheit benachteiligen sollte, ein regulierendes Korsett überzustülpen? Heiko Kastner findet, dass das Zinssystem längst die Rolle einer neuen Religion eingenommen hat. In der vierten der 9komma5 Thesen heißt es:

Das zinsgestützte Geldsystem wirkt wie ein unentrinnbarer Zwang, wie eine dämonische Macht. Es heißt aber: "Heute sollst du erkennen und dir zu Herzen nehmen: Jahwe ist der Gott im Himmel droben und auf der Erde unten, keiner sonst." Und Jesus Christus sagt: "Ihr könnt nicht Gott dienen und dem Mammon."

Die biblische Ökonomie, wie sie der Initiativkreis 9komma5 zeichnet, ist eine solidarische.

Die freie Marktwirtschaft beruht dagegen auf den Theorien von Adam Smith. Smith nahm an, dass der menschliche Egoismus mit den gegensätzlichen Interessen von Unternehmern, Arbeitnehmern und Konsumenten der beste Motor für eine funktionierende Wirtschaft sei:

"Wir sehen die Ergebnisse inzwischen immer deutlicher: Wir sehen eine Welt, die eine unheimlich dynamische wirtschaftliche Entwicklung hinter sich gebracht hat, aber zu einer großen Spaltung von Arm und Reich führt. Und wir sehen eine Welt, die im Grunde ihre Lebensgrundlagen verfüttert, sprich die ökologische Krise, wir haben inzwischen ja eine Reihe von Krisen: Wir haben eine Energiekrise, wir haben eine Rohstoffkrise, wie haben eine Ressourcenkrise."
Unsere Wirtschaft ist längst in der Sackgasse gelandet, sagt Heiko Kastner. Und mahnt mit der neunten These zur Umkehr:

Geld ohne Vermögenszins löst nicht alle Probleme der Menschheit, aber ohne Überwindung des Wachstumszwangs kann keines der großen Probleme auf unserer begrenzten Erde gelöst werden.

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