Leichte Beute

02.01.2013
Schlagzeilen über Tiger, die Menschen anfallen, finden sich regelmäßig, und zahlreiche Hollywoodfilme haben dafür gesorgt, dass wir uns Weiße Haie, Piranhas oder Riesenschlangen als blutrünstige Monster vorstellen. Aber stimmt das? Der Biologe Mario Ludwig hat sich in seinem neuen Buch die sogenannten Menschen fressenden Tiere genauer angeschaut und ist zu erstaunlichen Ergebnissen gekommen.
Den Rekord hält ein Tigerweibchen. Im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts tötete es im indisch nepalesischen Grenzgebiet angeblich 436 Menschen - bis der Großwildjäger Jim Corbett sie 1907 erlegte. Als man die tote Tigerin untersuchte, fand man schnell heraus, warum sie sich auf die Menschenjagd spezialisiert hatte: Ihre Reißzähne waren beschädigt. Sie konnte weder Hirsch- und Antilopenfell durchbeißen, noch das Fleisch dieser Tier kauen. Menschenfleisch war einfach zarter.

Auch heute fallen weltweit jährlich etwa 100 Menschen Tigern zum Opfer. Vor allem in den Mangrovenwäldern der Sudarbans im Grenzgebiet von Indien und Bangladesh. Denn dort herrscht nicht nur die größte Tigerdichte der Welt, dort sind auch immer mehr Menschen als Krabbenfischer, Holzfäller und Honigsammler unterwegs, die sich das Gebiet mit den Tigern teilen. Und mit Leistenkrokodilen, die bei passender Gelegenheit auch zum Menschenfresser werden.
Lauernde Löwen und Tiger als Gefahr für die Menschen wurden tausendfach verfilmt. Doch weit mehr Tiere, darunter Riesenschlangen oder Piranjas haben Menschenleben auf dem Gewissen. Der Biologe Mario Ludwig hat sich der "Menschenfresser" angenommen und beschreibt, wie sie wurden was sie sind: lebensgefährlich.

Denn wie Mario Ludwig deutlich macht, der Mensch gehört eigentlich nicht zum Beuteschema von Raubtieren. Es sind die Umstände, die ihn zum Opfer machen, vor allem ist es der schrumpfende Lebensraum der Tiere. In Indien frisst sich die Stadt Mumbai langsam in die Randbereiche des Borivli-Nationaparks hinein.

Menschen und Leoparden leben so auf einmal näher beieinander - und Abfälle und streunende Kleintiere locken die Großkatzen an. Im Süden Malawis wird der Lebensraum von Hyänen durch den Menschen immer mehr eingeengt, und am Tanganjikasee sorgten Jagd und schrumpfende Wildbestände dafür, dass sich Krokodile nach einer Nahrungsalternative umsehen. Das tun sie aber auch, weil während des Bürgerkriegs menschliche Leichen oft einfach in die Flüsse geworfen wurden.

Mario Ludwigs Buch ist gründlich recherchiert, das Thema ist spannend, doch leider bleibt es uninspirierend. Wie auf einer Liste hakt der Autor die wichtigsten potentiellen Menschenfresser ab. Neben den Tigern und Krokodilen schreibt er über Wölfe, Bären, Komodowarane, Wale und Riesenschlangen. Wer also ein gut erzähltes Sachbuch erwartet, der wird enttäuscht.

Für alle, die eine fundierte Sammlung zum Thema wollen, ist es richtig. Zumal Ludwig immer mit Vorurteilen aufräumt. Piranhas und der Weiße Hai sind zu unrecht verschrien, denn die meisten Piranhas sind Teilzeit-Vegetarier, und die Wahrscheinlichkeit, beim Baden von einem Hai getötet zu werden, liegt statistisch bei eins zu 264 Millionen.

Viel gefährlicher sei es dagegen am Strand zu liegen: Im Jahr 2000, dem Jahr mit den meisten Hai-Opfern, wurden 15 Mal mehr Menschen durch herab fallende Kokosnüsse als durch Haie getötet. Und dort lauert in der Dämmerung auch das dem Menschen gefährlichste Tier: Die Anophelesmücke, die Malaria übertragen kann.

Besprochen von Rezension von Günther Wessel

Mario Ludwig, Faszination Menschenfresser. Erstaunliche Geschichten über die gefährlichsten Tiere der Welt
Heyne Verlag, München 2012, 288 Seiten, 9,99 Euro

Links auf dradio.de:

Die Jagd soll grüner werden - NRW-Umweltminister Remmel will Jagdgesetz reformieren
Hunger durch Gier
Mehr zum Thema