Lehrer des aufrechten Ganges

Von Otmar Schulz · 29.03.2008
Am 4. April 1968 setzte ein Mörder den Visionen Martin Luther Kings ein Ende. Die Verdienste des schwarzen Baptistenpastors zur Überwindung der Rassentrennung in den USA wirken fort, auch wenn ein Zusammenhang zwischen Armut und Hautfarbe bis heute nicht zu leugnen ist.
"Da kommt der Träumer..., lasst uns ihn totschlagen" - dieses Zitat aus der Josephsgeschichte steht auf dem Grabstein des Baptistenpastors und Bürgerrechtlers Martin Luther King. Dabei war er wohl eher ein Visionär als ein Träumer. Aber wenn sich Menschen irgendwo in der Welt an ihn erinnern, kommen sie schnell auf seinen Traum:

"Ich habe einen Traum, dass eines Tages die Söhne von früheren Sklaven und die Söhne von früheren Sklavenbesitzern auf den roten Hügeln von Georgia sich am Tisch der Bruderschaft gemeinsam niedersetzen können. Ich habe einen Traum, dass meine vier kleinen Kinder eines Tages in einer Nation leben werden, in der sie nicht wegen der Farbe ihrer Haut, sondern nach dem Wesen ihres Charakters beurteilt werden. Ich habe einen Traum!"

250.000 Menschen hören King begeistert zu, unterbrechen ihn mit langem Beifall, rufen "Yes" und "Amen". In dieser Rede macht die Traumpassage nur knapp 2 Minuten von insgesamt fast 17 Redeminuten aus.

Aber dieser kleine Teil hat sich in Köpfen und Herzen festgesetzt: Kings Traum von einem Amerika ohne Rassenhass, ohne Feindschaft zwischen Weißen und Schwarzen, ohne Grenzen zwischen Armen und Reichen. Versöhntes Miteinander in dem Land, das er liebte.

Angefangen hat alles mit dem Busboykott von Montgomery im Jahre 1955. Montgomery - Provinzstadt in Alabama; 120.000 Einwohne, davon 40 Prozent Schwarze: In den Bussen hatten sie auf den hinteren Plätzen zu sitzen. Und auch diese hatten sie zu räumen, wenn für die Weißen die vorderen Plätze nicht ausreichten.

Eines Tages sitzt Rosa Parks, müde von der Arbeit, auf einem dieser hinteren Plätze, als ein Weißer sie auffordert, den Platz für ihn zu räumen. Die müde, aber mutige Rosa bleibt sitzen. Der Busfahrer holt die Polizei, Rosa wandert ins Gefängnis. Jetzt reicht es den Schwarzen. Sie rufen auf zum Boykott der Busse. 20.000 folgen dem Aufruf. Zu Fuß gehen sie in die Fabriken, die Büros, in die Schulen. Taxis befördern sie zum Buspreis. Einige nehmen das Fahrrad, andere sieht man per Esel unterwegs.

Dazu der King-Biograf Heinrich Grosse:

""Und es gab in Montgomery einen jungen unbekannten Pastor, der war erst seit kurzer Zeit da, der hatte in den Nordstaaten studiert und auch einen Doktor gemacht, galt also unter den Schwarzen als etwas Besonderes, ein unbeschriebenes Blatt. Und er wurde als Sprecher der Boykott-Bewegung gewählt, und ich denke, das war seine besondere Begabung, er konnte arme Schwarze, auch Menschen mit wenig Bildung, genauso ansprechen wie Weiße, wie liberale Weiße, wie wohlhabende gebildete Weiße, er konnte beide Gruppen erreichen. Er hat diesen Boykott mit anderen angeführt. Der war nach einem Jahr dann erfolgreich. Die Rassentrennung in Montgomery in den öffentlichen Einrichtungen, in den Bussen, wurde aufgehoben. Und das wurde dann zu einer Welle, die durch die ganzen Südstaaten ging: Aufhebung der Rassentrennung in öffentlichen Einrichtungen."

Martin Luther King hätte in Boston, an der liberaleren Ostküste, eine glänzende wissenschaftliche Karriere offen gestanden. Doch es zieht ihn in die Heimat. 1953 heiratet er Coretta Scott. Sie haben vier Kinder.

Martin Luther King verfügt über eine natürliche Autorität, und seine charismatische Art zu reden vermag die Leute mitzureißen. King hat viele Feinde, verbissene, gefährliche Feinde. Während des Busstreiks wird eine Bombe auf sein Haus geschleudert. King ist nicht zu Hause, seine Frau kommt mit dem Schrecken davon. Bei Demonstrationen wird er angespuckt, mit Steinen beworfen, beschossen.

Anonyme Anrufe, Todesdrohungen verursachen schlaflose Nächte. 30-mal wird er inhaftiert wegen Lappalien. Edgar Hoover, Chef des amerikanischen Verfassungsschutzes FBI, verfolgt das Ziel, King mürbe zu machen, ja ihn zu beseitigen. Das FBI installiert 16 geheime Abhöranlagen in Kings Büro- und Privaträumen. Doch erst 1968 gelingt Kings Gegnern das tödliche Attentat.

Bis dahin überlebt er alle Attacken, versucht unmittelbar nach jedem Anschlag mit den Attentätern zu reden, um ihnen so eine Chance zum Umdenken zu geben. Alle Aktionen, die er anführt, sind strikt gewaltfrei. "Der Geist stammt von Jesus, die Methoden von Gandhi", hat er gesagt. Daran hält er fest, auch wenn es ganz schlimm kommt. Das ist eine der Wurzeln seines Erfolges. Er ist fest überzeugt: Wir werden es schaffen!

"We shall overcome" - Pete Seeger hat das Lied populär gemacht, in der ganzen Welt wird es gesungen.

Der nächste große Erfolg nach dem Ende des Busboykotts in Montgomery ist für King und seine vielen Mitstreiter in der Bürgerrechtsbewegung der Marsch auf Washington 1963. Noch einmal Heinrich Grosse, King-Experte und Kenner der Bürgerrechtsbewegung:

"Mit diesem Marsch gelang es ihm, 250.000 Weiße und Schwarze unter seinem großen Traum zu versammeln, dass einmal die Söhne früherer Sklavenhalter und die Söhne früherer Sklaven - und wir würden heute doch auch die Töchter nennen müssen -, dass die gemeinsam am Tisch der Brüderlichkeit - heute würden wir sagen am Tisch der Geschwisterlichkeit - sitzen. Und ich denke, die Aufhebung der Rassentrennung in den bürgerlichen Einrichtungen in den Staaten des Südens und, ja, sein beginnender Kampf für das Wahlrecht, voting right, der Schwarzen, der Marsch auf Washington und immer das Festhalten an Gewaltfreiheit führten dazu, dass er '64 den Nobelpreis bekam."

Die Verleihung des Friedensnobelpreises an einen 35-jährigen schwarzen Baptistenpastor war eine echte Überraschung.

"King war damals der jüngste Preisträger des Friedensnobelpreises, den es bis dahin gegeben hatte."

1964 unterzeichnet Präsident Johnson das Gesetz über die Bürgerrechte der Schwarzen, ein Jahr später das über ihr Wahlrecht. Damit ist die Rassentrennung - jedenfalls auf dem Papier und vor dem Gesetz - vorbei. King hat damit die erste Phase seiner Arbeit hinter sich.

"Das Hauptergebnis dieser Phase war ja, dass die Schwarzen den aufrechten Gang gelernt hatten. Sie waren ja seit der Versklavung Anfang des 17. Jahrhunderts immer gewohnt, den Rücken zu verkrümmen unter den körperlichen Schlägen, aber auch unter den seelischen Schlägen - der Rassismus hat sie klein gemacht - ich habe selber erlebt in Mississippi, wie alte Männer, gestandene Männer, als boy angeredet wurden. Sie wurden wie Kinder, wie Unmündige behandelt, ja und noch schlimmer. Der aufrechte Gang war in diesen zehn Jahren geändert worden."

Die Schwarzen hatten den aufrechten Gang gelernt, die amerikanische Variante der Apartheid war vorüber.

Es folgt eine zweite kürzere Phase von Kings Tätigkeit. Er hat inzwischen erkannt, wie Rassismus, Armut und Militarismus zusammenhängen. Diese unheilvolle Trias gilt es von nun an zu bekämpfen, wenn seine Vision von einer friedlichen und gerechten Weltgemeinschaft aller Menschen Wirklichkeit werden soll. Inzwischen tobt der Vietnamkrieg, der Amerika spaltet in Kriegsgegner und -befürworter. Seit 1966 etwa nimmt King eindeutig Stellung zu diesem Krieg. Er hat gesagt:

Grosse: "'Ich kann nicht immer Gewaltfreiheit predigen und jetzt zum Krieg in Vietnam nichts sagen. Ich muss meinem Gewissen folgen.' Da hat man geschrieben, seine Reden sind ja wie Manuskripte für Radio Hanoi, also der bekämpften kommunistischen Feinde aus der Sicht der USA. Und - ja er hat sich der Vereinigung 'Geistliche und Laien in Sorge um Vietnam' angeschlossen, und beeindruckende Antikriegsreden gehalten. Das führte dazu, dass er nicht mehr zu den zehn beliebtesten Bürgern in den USA gehörte, dass Präsident Johnson ihn nicht mehr einlud, und dass er selber auch zum Teil sehr deprimiert war, wie viel Anfeindungen er aus den eigenen Reihen bekam."

King ist der festen Überzeugung, es müsse eine "Weltperspektive" entwickelt werden. Er hat erkannt, dass das eigentliche Problem des Zusammenlebens der Menschen weltweit die Frage der Armut ist. Dazu hat er ein Jahr vor seinem Tod in der Riverside Church in New York in einer Predigt gesagt:

Grosse: "Ich muss meiner Glaubensüberzeugung treu bleiben, mit allen Menschen zu den Kindern des lebendigen Gottes zu gehören. Diese Berufung zur Kindschaft und zur Brüderlichkeit geht über die Zugehörigkeit zu einer Rasse, einer Nation oder Glaubensgemeinschaft hinaus. Weil ich glaube, dass Gott, dem Vater, besonders die Leidenden, Hilflosen und Verachteten unter seinen Kindern am Herzen liegen, komme ich hierher, um für sie zu sprechen. Es ist unsere Aufgabe, für die Schwachen zu sprechen, für die, die keine Stimme haben, für die Opfer unserer Nation, für die, die sie Feinde nennt. Denn keine von Menschen angefertigte Erklärung kann sie zu weniger machen als zu unseren Brüdern - und ich würde heute ergänzen - und zu unseren Schwestern"."

Was ist nun von King geblieben? Worin besteht seine Bedeutung für die USA und für uns heute?

"Also, dass Schwarze in politischen Ämtern sind und im Bereich Wissenschaft und zum Teil auch Wirtschaft Positionen haben, die sie seit der Sklaverei noch nie gehabt hatten, das ist sicher ein Verdienst des Wirkens dieses Mannes und seiner Mitstreiter."

Andererseits, das sieht auch Professor Grosse so, ist der Graben zwischen Armen und Reichen in den Jahren seit Kings Tod eher tiefer geworden. In den USA sind die ungelernten Schwarzen die wirklichen Verlierer der wirtschaftlichen Globalisierung. Ihr Anteil in den Gefängnissen, besonders jener, die zum Tode verurteilt wurden, ist wesentlich höher als es ihrem Anteil in der Bevölkerung entspricht. Die Überschwemmungen in New Orleans nach dem Hurrikan Katrina im vergangenen Jahr haben deutlich gezeigt, dass das schiere Überleben immer noch eine Frage der Hautfarbe ist. Der Ku-Klux-Klan, jener rassistische weiße Geheimbund, ist aktiver als vor Jahren. Der Rassenhass, zumal im Süden der USA, ist längst nicht überwunden. Aber hier zeigt sich auch der Zusammenhang zwischen Armut und Hautfarbe: Reiche Schwarze sind Weiße. Sportler, Musiker, Entertainer, Schauspieler, Politiker beweisen das täglich. Richtig schwarz sind nur die Armen. In Amerika und weltweit. Trotz der Arbeit von Martin Luther King und seinen Mitstreitern und Mitstreiterinnen.

Am 4. April 1968, vor nunmehr genau 40 Jahren, hat ein weißer, gedungener Mörder den Visionen Kings ein Ende gesetzt. Bis heute ist nicht geklärt, ob nicht auch hinter diesem, nunmehr gelungenen Mordanschlag, der amerikanische Verfassungsschutz FBI steckt. King jedenfalls hat mit seinem Tod gerechnet, hatte vorherbestimmt, was an seinem Grab zu erwähnen sei und was nicht, und am Vorabend seines Todes hat er von seiner letzten Vision geredet: Er habe das Gelobte Land gesehen, das er nicht mehr betreten werde, von dem er aber hoffe, dass es seinen Kindern und Enkeln offensteht.
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