Lehren aus Goethes Meisterwerk

Vorgestellt von Reinhard Kreissl · 28.01.2007
Oskar Negt, Soziologe, Zeitdiagnostiker und kritischer Beobachter der Gegenwartsgesellschaft nimmt sich Goethes Faust vor und sinniert entlang der Geschichte des Helden über Gott und die Welt – und das im wörtlichen Sinne.
Er mäandert durch die historischen Zeiten, biegt ab, schiebt Exkurse ein, teils persönliche, teils analytische und kehrt immer wieder zu der Frage zurück: Wie entsteht die moderne Subjektivität, was zeichnet den modernen Menschen als Typus aus? Was lehrt die Figur des Faust über den inneren Zustand von uns Heutigen?

Oskar Negt gehört einer Generation an, für die Goethes Faust, zumindest in den bildungsbeflissenen Schichten, nicht nur widerwillig zu bewältigendes Pensum schulischer Literaturvermittlung war. An literarischen Vorbildern die eigene Persönlichkeit zu entwickeln und Antworten auf lebensgeschichtlich drängende Fragen im Diskurs mit den Helden der großen Epen zu finden – diese Erfahrung machen heute nur mehr wenige. Das gibt Negts Auseinandersetzung mit dem Werk etwas Unzeitgemäßes, denn wer kennt heute noch die so genannten Klassiker jenseits des in Quizshows abzufragenden Trivialwissens nach Sinnsprüchen á la "Wer sucht nach des Pudels Kern – Goethe, Klinsmann oder der Prophet Mohammed?"
Negt setzt mit einer Irritation an:

"Indem ich vom Ende her zu lesen begann, bekam die Faust-Erzählung immer klarere Züge einer menschlichen Existenz, die in einer Umbruchphase lebt und im Neuaufbau ihrer Welt alle Sicherheiten der gewohnten alten Identität verloren hat. Plötzlich tauchen die Kantischen Fragestellungen wieder auf: ‚Was kann ich wissen? Was soll ich tun? Was darf ich hoffen? Die Geborgenheit des alten Gemeinwesens ist verloren gegangen, was kann ich tun, um ein neues aufzubauen? Was an modernem Geist in die alte Welt eindringt, ist auch zerstörerisch und auf Enteignung der Menschen gerichtet. Es wäre gut, wenn ich wenigstens wissen könnte, womit ich zu rechnen habe.’"

Es handelt sich um eine Variation des Schlüsselthemas einer epochalen Entzauberung der Welt. Mit der scheinbar zunehmenden Berechenbarkeit steigt zugleich die Ungewissheit. Was auf der einen Seite als Befreiung von den Gefahren und Zwängen der Natur erscheint, führt zugleich neue Gefahren und Zwänge ein. In diese Dialektik hinein setzt Goethe seinen Faust und Negt folgt ihm auf dem gewundenen Weg. Freuds Prothesengott, Webers stahlhartes Gehäuse oder Baumans Verschränkung von Moderne und Ambivalenz sind Versuche, diese Entwicklung begrifflich zu fassen. In der Figur des Faust gewinnen alle Motive dieses Prozesses literarische Gestalt und in der Doppelkonstruktion mit Mephisto, seinem Alter Ego, an Komplexität.

"Mephisto ist durchgängig der mit zynischem Unterton auftretende Bilanzbuchhalter von Gutem und Bösem. Es wäre verfehlt ihn als rein negatives Prinzip zu verstehen. In häufig unpassenden Situationen erinnert er an das, was Faust vergessen hat oder verdrängen möchte. .... Er hasst die Selbsttäuschung des Menschen. Wenn sie für gut ausgeben, was nichts mit Moral zu tun hat, sondern mit ihren begierigen Interessen. Mephisto ist ein äußerst kompetenter Interessenspsychologe, der den von Faust immer wieder nach oben gerichteten Blick zu den hehren Zielen und zu den guten Absichten auf jenen Punkt zurückbringt, an dem die Blamage dieser von Interessen gereinigten Ideenschau den irdischen Boden erkennen lässt."

Negt stellt die Faust’schen Fragen in den philosophiegeschichtlichen Horizont, zitiert Kant, Hume, Descartes herbei, um die Grübeleien des Gelehrten zu deuten. Ja selbst Carl Schmitt muss herhalten, um Fausts Gebrauch der Metapher vom "Meer des Irrtums" kritisch auszuleuchten. Dem falschen Streben Fausts nach Unendlichkeit setzt Negt die Kant’sche Selbstbeschränkung entgegen. Wo der eine auf Mephistos Magie hofft, setzt der andere auf die im transzendentalen Subjekt verankerte Selbstdisziplin. Bei Faust stellt sich dann das bekannte Doppelpack aus Positivismus und Metaphysik ein: er gründelt dunkel über die letzten Dinge, während er als erfolgreicher Unternehmer ganz diesseitig agiert.

Die Frage nach Wissen und Erkenntnis ist nicht nur abstrakter Natur. In einem Exkurs über "Die Aufdringlichkeit der Sinne. Vom machtgestützten Verlust der gesellschaftlichen Sehkraft" sinniert Negt über die gezielte Deformation der Wahrnehmung durch politische Strategien. Was man sieht und erkennt, und was damit zur sinnlichen Grundlage des Urteils wird, hängt ab von der machtpolitisch geprägten Optik der öffentlichen Wahrnehmung. Im Märchen von des Kaisers neuen Kleidern kommt dieser Zusammenhang deutlich zum Ausdruck.

"Das Aufklärungsende dieses Verkleidungsmärchens ist verblüffend einfach und revolutionär zugleich. Der feierliche Umzug des Kaisers in seinen neuen Kleidern findet das abrupte und bekannte Ende. ... In seinem Märchen erzählt Andersen die Geschichte eines durch Macht geblendeten Volkes, das zeitweilig seine natürliche, das heißt im Erfahrungsumkreis seines Alltags gesicherte Urteilsfähigkeit und die Selbstverständlichkeit der Sinneswahrnehmungen verloren hat. Es ist aber alles andere als eine ein befreites Lachen erregende Geschichte, die Andersen hier erzählt."

Die doppelte Perspektive der Herausbildung einer individuellen Charakterstruktur, die an der Person des Faust studiert werden kann und die Einbettung der dabei sichtbar werdenden Probleme in den Zusammenhang der gesellschaftlichen Lebensform bildet das Spannungsfeld von Negts Interpretation der Geschichte des Gelehrten. Wahrnehmung im Sinne von Selbst-, Welt- und Fremdwahrnehmung ist immer geprägt von den Verhältnissen zwischen den Menschen. Die Dialektik von Achtung, Nähe und Distanz – so eine Kapitelüberschrift des Buches, in der Negt die Geschichte von Philemon und Baucis aus dem zweiten Teil der Tragödie interpretiert – bildet die fragile Grundlage gelungener Subjektivierungsprozesse. Gerät sie aus dem Lot, dann entstehen pathologische Formen. Treten sich die Menschen nur mehr als strategisch handelnde Akteure gegenüber, auf ihren eigenen Vorteil bedacht, ohne Rücksicht auf die damit verbundenen Verluste beim Anderen, so gewinnen sie vielleicht materielle Güter, verlieren aber auch wichtige Dimensionen ihrer eigenen Existenz. Die Literatur kann helfen, diese Entfremdung wahrzunehmen, und Negts Faustbuch ist ein herausragendes Beispiel für die Art und Weise, wie dergleichen Aufklärung aus selbstverschuldeter Unmündigkeit durch die Lektüre klassischer Texte vonstatten gehen könnte.

Oskar Negt: Die Faust Karriere
Vom verzweifelten Intellektuellen zum gescheiterten Unternehmer

Steidl Verlag, Göttingen 2006
Oskar Negt: "Die Faust Karriere" (Coverausschnitt)
Oskar Negt: "Die Faust Karriere" (Coverausschnitt)© Steidl Verlag