Lehren aus dem Brexit-Desaster

Die Demokratie für das 21. Jahrhundert fit machen

08:55 Minuten
Blick ins britische Unterhaus. Die Abgeordneten sitzen in den grünledernen Bänken, während Premierminister Boris Johnson eine Rede hält.
Der Brexit sei ein Paradebeispiel für die Überforderung der Demokratie im 21. Jahrhundert, sagt Helmut Willke. © Imago / Xinhua
Helmut Willke im Gespräch mit Dieter Kassel · 05.09.2019
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Für den Soziologen Helmut Willke zeigt die politische Dauerkrise in Großbritannien: Die Demokratie ist mit komplexen Problemen wie dem Brexit überfordert. Er plädiert für Expertengremien, die die Parlamente entlasten sollen.
Einen "No Deal Brexit" darf es nicht geben - zumindest nicht zum 31. Oktober. Auf einen entsprechenden Gesetzesentwurf einigte sich das britische Parlament am späten Dienstagabend nach heftigen Tumulten, die in Fraktionsausschlüssen und dem Verlust der konservativen Mehrheit gipfelten.
Einer konstruktiven Lösung für die Umsetzung des Brexit ist das Parlament damit aber keinen Schritt näher gekommen. Und das liegt dem Soziologen Helmut Willke zufolge auch daran, dass die Demokratie mit komplexen Problemen wie dem Brexit überfordert sei.
"Die englische politische Kultur hat sich so verändert, dass jetzt die Schwächen der Demokratie, die ganz generell gelten, nicht nur für Großbritannien, sehr stark zum Ausdruck kommen", so Willke im Deutschlandfunk Kultur.

Demokratie nicht mehr hinreichend lernfähig

Zwei grundlegende Schwächen der Demokratie macht Willke fest: Zum einen sei sie nicht strategiefähig, weil sie immer nur auf die nächsten Wahlen schaue. Und zum anderen sei sie auch nicht mehr hinreichend lernfähig:
"Das heißt, sie lernt immer erst aus Krisen und Katastrophen, während wir bei den heutigen Problemen – nehmen wir nur das Beispiel Klimawandel oder Migration oder globale Finanzsystemregulierung – nicht mehr zurande kommen, wenn wir im Nachhinein korrigieren."
Um die von ihm wahrgenommen Schwächen der Demokratie zu korrigieren, schlägt Willke vom Parlament beauftragte Expertengremien vor, die die Abgeordneten in bestimmten schwierigen Sachfragen entlasten sollen. Diese müssten allerdings unter der Aufsicht des Parlaments stehen und "damit der demokratischen Legitimation durch das Parlament".

Noch mehr Expertengremien? Dem widerspricht der Politikwissenschaftler und Publizist Albrecht von Lucke: "Wir leben schon in einer großen Räterepublik. Wir haben überall Kommissionen für alle Belange, wir haben überall Experten." Natürlich sei eine Expertenregierung angesichts von verfahrenen Situationen wie etwa in Großbritannien eine Versuchung. "Doch wäre das faktisch der Offenbarungseid für unsere Demokratie." Das gesamte Interview mit Albrecht von Lucke können Sie hier nachhören:
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Dennoch sei die Demokratie für komplexe, moderne Gesellschaften "das Beste, was wir haben", betont der Soziologe. "Aber sie ist nicht mehr gut genug. Sie ist vor 200 Jahren als repräsentative Demokratie erfunden worden, und wir müssen sie – das zeigt das Beispiel Großbritannien und Brexit in aller Deutlichkeit – auf das 21. Jahrhundert hin verändern und reformieren."
(uko)
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