Legitimation durch smarte Verfahren

14.05.2009
Der amerikanische Verfassungsrechtler Cass R. Sunstein plädiert in "Infotopia" dafür, die politische Entscheidungsfindung ins Internet zu verlegen. Außerdem propagiert er unter anderem einen Prognosemarkt für Terroranschläge.
Cass R. Sunstein gehört in den engeren Kreis um den amtierenden amerikanischen Präsidenten. Er leitet eine Verwaltungsabteilung im Weißen Haus, wird als Kandidat für den Obersten Gerichtshof gehandelt und ist darüber hinaus mit Samantha Power verheiratet, Barack Obamas außenpolitischer Beraterin. Sunstein ist also ein Mann mit Einfluss.

Das muss man im Hinterkopf behalten, wenn man sein neuestes Buch liest. "Infotopia" ist nämlich trotz seines harmlosen Untertitels nicht einfach nur eine von vielen Abhandlungen zur "kollektiven Intelligenz". Es unternimmt den Versuch einer Neukonfiguration von Politik mit den Mitteln des Internets.

Ausgangspunkt ist der Angriff auf den Irak, den die USA im Jahr 2003 mit falschen Geheimdienst-Informationen legitimiert hatten. Sunstein erkennt hier ein verhängnisvolles Beispiel für das Versagen traditioneller politischer Prozesse: Seiner Meinung nach scheitern Institutionen regelmäßig daran, bei der Entscheidungsfindung "konkurrierende Sichtweisen" zu Wort kommen zu lassen. Sozialer Druck, hierarchische Strukturen und verzerrte Gruppendynamiken führen dazu, dass sich selbst ausgewiesene Fachleute und streitbare Politiker in einen "Informationskokon" einspinnen.

Dieses Misstrauen gegenüber "deliberativen Verfahren" (vulgo: Diskussionen in überschaubaren Gruppen) hat den 1954 geborenen Verfassungsrechtler Sunstein ins Internet und in die Welt der "kollektiven Intelligenz" geführt. Mit glänzenden Augen beschreibt er die "revolutionären Methoden", mit denen hier "verstreute Informationen" gesammelt und aufbereitet werden.

Unter anderem schwärmt er von sogenannten Prognosemärkten, mit denen seit längerem der Ausgang von Wahlen vorhergesagt wird: Die Teilnehmer setzten Geldbeträge auf einzelne Kandidaten, und der finanzielle Anreiz führt dazu, dass die Summe der nach bestem Wissen und Gewissen abgeschlossenen Wetten sehr genau dem tatsächlichen Stimmungsbild in der Bevölkerung entspricht. Auch das Wikipedia-Modell hat es Sunstein angetan, und zuletzt widmet er sich dem Erfolg der Open-Source-Software.

Sunstein überträgt diese Verfahren auf die Politik, und damit wird es spannend: Er zeichnet das Bild einer Welt, in der Prognosemärkte Terroranschläge voraussagen, Wikis Behörden und Institutionen beim Umgang mit der Informationsflut helfen, und "open source" im Bereich der Forschung die Entwicklung der umstrittenen Biotechnologie für gesellschaftliche Kontrolle öffnet. Hier geht es also nicht um einen neuen politischen Stil, bei dem Wahlbotschaften zeitgemäß über Twitter kommuniziert werden - Sunstein propagiert vielmehr ein vollkommen neues Verständnis von Politik bei dem die klassischen Meinungsbildungsprozesse von einem technisch avancierten Informationsmanagement abgelöst werden.

Auf den ersten Blick wirkt das ziemlich smart, doch die Gefahren dieser Politik 3.0 liegen auf der Hand. Ein geopolitischer Prognosemarkt würde die Entscheidung über Krieg und Frieden einem Netzwerk von Maschinen und einer anonymer Masse von Usern überlassen, die für eventuelle Fehler nicht verantwortlich gemacht werden können. Dazu kommt, dass Internet längst kein "öffentlicher Raum" mehr ist, sondern systematisch von Wirtschaftskonzernen unter Kontrolle gebracht wird: Es gibt keine Garantie dafür, dass die "unsichtbare Hand" der vermeintlich kollektiven Intelligenz nicht eines Tages von Google & Co. gelenkt wird.

Rezensiert von Kolja Mensing

Cass R. Sunstein: Infotopia. Wie viele Köpfe Wissen produzieren
Aus dem Amerikanischen von Robin Celikates und Eva Engels,
Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2009, 285 Seiten, 24,80 Euro