Legal, radikal, fundamental

Von Axel Schröder · 21.06.2009
Dass in Hamburg eine extremistische islamistische Szene aktiv ist, ist spätestens seit den Anschlägen vom 11. September 2001 bekannt. Im Verfassungsschutzbericht der Hansestadt tauchen seit Jahren Mitglieder von Milli Görüs auf. Doch die Angehörigen der Organisation sehen sich zu Unrecht verdächtigt.
Der Muslim.

Yoldas: "Also, in den Augen des Verfassungsschutzberichtes gehöre ich einer extremistischen Organisation an. In den Augen von Al Kaida und Konsorten sind wir schon gar keine Muslime mehr …"

Der Verfassungsschützer.

Murck: "Also, ich persönlich hab keine große Sorge, der IGMG in Teilen vernünftigen Willen zu unterstellen, aber das heißt ja nicht, dass der Verfassungsschutz jetzt aus seiner gesetzlichen Aufgabe der Beobachtung von Organisationen, die verfassungsfeindliche Bestrebungen verfolgen, entlassen wird."

Mustafa Yoldas und Dr. Manfred Murck: der eine exponierter Vertreter der türkischen Glaubensgemeinschaft Milli Görüs, der andere Verfassungsschützer in Hamburg. Das Amt und die Moschee liegen dicht beieinander, im Bahnhofsviertel, in Hamburg St. Georg.

Yoldas: "Heute ging es in der Predigt darum, dass die Muslime auch jenseits des Lebens Verantwortung für ihre Glaubensbrüder tragen. Und dass, wenn jemand verstorben ist, aus Respekt ihm auch zu seinem Totengebet folgen muss. Dass man ihm vergeben muss. Weil ohne die Vergebung steht der Muslim schlecht da im Jenseits."

Mustafa Yoldas steht im Gebetsraum der Centrum-Moschee. 80 Männer sitzen vor ihrem Imam, auf dunkelrotem Teppich. Auslegeware mit persischen Mustern. - Die Wände sind gekachelt mit reich verzierten, weiß-blauen Kacheln. Voller Ornamente, Blüten und Schriftzeichen. Yoldas lehnt hinten an der Wand. 37 Jahre alt, einsneunzig groß. Rasierte Glatze und Brille.

Yoldas: "Ich sage nicht, dass der Verfassungsschutz als Institution eine überflüssige Einrichtung sei. Im Gegenteil: Sie hat gerade vor dem Hintergrund der jüngeren deutschen Geschichte eine Existenzverpflichtung. Um Prozesse zu beobachten, die mit dem Gedanken der Völkerverständigung, der Rechtstaatlichkeit, der Demokratie, Menschenrechte usw. nicht vereinbar sind."

Mustafa Yoldas schaut über seinen Brillenrand. Seit Jahren taucht der Allgemeinmediziner im Hamburger Verfassungsschutzbericht auf, als Vorstandsmitglied der Schura, einem Bündnis islamischer Gemeinden - und als Funktionär der Milli Görüs, kurz: IGMG. - Bundesweit wird die Glaubensgemeinschaft beobachtet. Aufgeführt im Verfassungsschutzbericht als islamistische Organisation. - Dass Mustafa Yoldas gleich mit Foto in den Berichten erscheint, hat auch mit einem Hetz-Video gegen Israel zu tun. Das gab es zu kaufen, unten in der Moschee, auf dem Büchertisch:

Yoldas: "Das ist eine DVD, das soll ein Zeichentrickfilm sein, in dem es darum geht, dass palästinensische Jungs israelische Soldaten angreifen. In dieser DVD werden die Soldaten überdimensioniert als Monster, als Bösewichter dargestellt. Das mag alles sein, aber wir haben den Fehler erkannt und wir haben die DVD sofort aus dem Sortiment entfernt."

Aber nicht schnell genug: V-Männer entdecken das Propagandavideo, die Presse fragt bei Yoldas nach und der drückt sich zumindest unklar aus.

Yoldas: "Ich habe in diesem Interview wohl bestätigt, dass es eine Tatsache ist, dass die Palästinenser unter israelischer Besatzung stehen und das ist ja nun nicht aus der Luft gegriffen ist, dass israelische Soldaten auch Kinder töten. Das wurde dann so dargestellt, dass man sozusagen diese DVD weiter vertreiben sollte, um den Hass auf die Israelis zu vertiefen. - Und das ja absurd, das war nicht die Absicht!"

Mustafa Yoldas fährt sich mit zwei Fingern über den Nasenrücken, nickt rüber zu den Betenden. Er folgt dem Ruf des Muezzins, verabschiedet sich für zehn Minuten und reiht sich ein in die Riege der Betenden.

Yoldas’ Hände greifen ineinander, er senkt den Kopf. Die Männer gehen auf die Knie, sprechen leise Gebete. Richten sich auf, knien wieder nieder.

In der Hamburger Innenbehörde, am Johanniswall nahe dem Hauptbahnhof, dreht ein Paternoster seine Runden. Im zweiten und dritten Stock sitzt das Landesamt für Verfassungsschutz. Verteilt über zwei Etagen arbeiten 145 Mitarbeiter: Observanten, V-Mann-Führer, Abhörtechniker und Internet-Auswerter behalten Links- und Rechtsextreme, Scientologen und radikale Islamisten im Auge.

Manfred Murck, dunkelgraue halblange Haare, beugt sich über Akten, blättert darin, macht Notizen. Er redigiert den aktuellen Verfassungsschutzbericht. - Der Mittfünziger ist stellvertretender Leiter der Behörde. Hinter dem Bürosessel hängt ein quietschgelbes Ölbild. Ein mal ein Meter groß: rote, nackte Fußabdrücke wandern quer über die Leinwand.

Murck: "Wir haben natürlich längst nicht alle Moscheen in Hamburg auf unserem Zettel. – Die, die wir als islamistisch einstufen, das sind etwa dreißig. Und davon rechnen wir ungefähr ein Drittel der IGMG zu. Die von Zahl her die wichtigste Organisation ist. Was die Gefährlichkeit im Sinne von Gewalt und Radikalität betrifft, kann man die weiter nach hinten stellen."

Manfred Murck lehnt sich im Sessel zurück. Anthrazitgrauer Anzug, Hemd und Krawatte. Links stapeln sich Akten mit "Vertraulich-Stempel", rechts eine Telefonanlage, daneben ein Flachbildschirm. Leise dringt der Autolärm der Hamburger Innenstadt in den Raum. - Zwölf Seiten lang berichtet der Hamburger Verfassungsschutzbericht über Milli-Görüs-Aktivitäten: über Yoldas Äußerungen zum Anti-Israel-Video und über den Einfluss des 80-jährigen, türkischen Bewegungsgründers Necmettin Erbakan.

Murck: "Also Erbakan hat starken Einfluss- dass wissen wir sehr genau - auf Milli Görüs in Deutschland. Die Beobachtung von Milli Görüs erfolgt, weil sie Teil einer anti-laizistischen Bewegung ist, also einer Bewegung, wo der Religionsstaat, der Gottesstaat, das Kalifat im Hintergrund steht. Das vertritt Erbakan nach wie vor, das ist die Tradition der Milli Görüs. - Wir konzedieren zwar, dass sie sich da raus entwickelt, aber das ist der tatsächliche Anhaltspunkt. Im Kern. Strukturell."

Manfred Murck, ein großer schlanker Typ, presst die Lippen zusammen. Schaut kurz aus dem Fenster. - Nur ein paar hundert Meter entfernt liegt die Centrum-Moschee. Ein fünfstöckiger Altbau, hinten ragen zwei Minarette in den Himmel. Die grüne Farbe blättert ab. - Es dämmert schon, die Hamburger Muslime sind unterwegs zum Freitagsgebet. In der Centrum-Moschee, um die Ecke in der Al-Kuds-Moschee, in der die Attentäter des 11.9. ein und aus gingen - oder gleich nebenan: im kleinen Assalam-Moscheeverein. Vor allem junge Männer nehmen die Treppen in das unscheinbare Haus.

Jugendlicher: "Mir ist es auch relativ egal. Können die ruhig machen. Sind ja der Meinung, dass wir Terroristen sind und was weiß ich … wir werden ja alle in einen Topf gesteckt. Aber mir macht das nichts aus."

Jugendlicher: "Ja… Der Verfassungsschutz sagt ja auch, dass die Muslime hinter dem 11. September stecken, obwohl jedes kleine Kind mittlerweile weiß, dass es nicht so ist. – Man sollte das alles nicht so dramatisieren. Man schafft ein Feindbild. Das gab es schon immer: das war mal der Jude, das war der Nigger, sind heute die Muslime. Es ist immer das gleiche Spielchen."

Mohammed und Karim hören nicht auf zu erzählen: von ihrem Frust über Deutschland, vom Islam und der Machtpolitik der USA. - Über Meinungsmache gegen ihren Glauben und die deutsche Afghanistan-Politik:

Karim: "Ob das Wiederaufbau ist? Man sollte sich nicht anlügen! Also letztendlich: jeder will seinen Nutzen. Selbst die Deutschen wissen: Umsonst tut niemand was, die Leute wollen immer etwas dafür haben. Da geht es doch nur um Ressourcen!"

Karim nickt seinem Freund zu, er will los, hat keine Zeit mehr. Mit schnellen Schritten gehen sie weiter, verschwinden hinter der nächsten Ecke.

Mustafa Yoldas sitzt unten im Erdgeschoss der Centrum-Moschee, im "Afiyet": - ein türkisches Restaurant, drei Dutzend Männer an den Tischen. Einige essen, oder trinken Schwarztee aus kleinen Gläsern. Yoldas ärgert sich über die jährlichen Verfassungsschutzberichte. Aber auf eine Klage gegen die Nennung darin haben Milli Görüs und er bislang verzichtet.

Yoldas: "Erbakan ist unbestritten – das geben alle zu, die diese Bewegung kennen - der charismatische Führer dieser Bewegung. Aber man entwickelt hier eine andere demokratische Denk- und Streitkultur in diesem Land und merkt, dass vieles von dem, was Erbakan sagt, eigentlich realitätsfern ist."

Mustafa Yoldas lässt langsam zwei Zuckerwürfel in seinen hellbraunen Tee gleiten. Am Glasboden zerfallen die Kristalle. Im Vorbeigehen begrüßt er Gemeindemitglieder. Yoldas schüttelt die Hand von Achmet Yazici, einem Vorstandsmitglied der BIG, dem Bündnis islamischer Gemeinden. Anfang 40, schwarzes Hemd, kräftiger Händedruck. - Yazici und Yoldas gehören zur zweiten Generation türkischer Einwanderer. Beide sind lange eingebürgert, sozialisiert in Hamburg. Und Erbakan, sagt Yazici, und setzt sich an den Tisch, hat auf die Hamburger IGMG nur wenig Einfluss:

Yazici: "Den hätte er gerne wahrscheinlich. Aber alle wissen, dass er keinen hat. Ich glaube, nirgendwo werden sie einen Erbakan finden. Weder in unseren Vorträgen, noch in unseren Erziehungsunterricht, noch in der Jugendarbeit. Ich wüsste keinen Ort, in dem ich Erbakan finde in unseren Institutionen."

Yoldas: "Mir ist aber in dieser Moscheegemeinde niemand bekannt, den wir sozusagen per Aufforderung oder mit Gewalt haben rausschmeißen müssen. Diese Leute verlassen freiwillig die Organisation, kündigen ihre Mitgliedschaft und suchen ihr Glück woanders!"

Die beiden schauen sich an, nicken fast synchron, ein Kellner bringt neuen Tee. - Yoldas ist sich ziemlich sicher: Auch er wurde von Murcks Mitarbeitern schon abgehört.

Yoldas: "In der allgemeinen Hysterie nach dem 11. September hatte ich schon hin und wieder das Gefühl, dass meine Telefonate abgehört werden würden. Und auch, dass meine E-Mails abgefangen worden sind. Das machte sich dadurch bemerkbar, dass hin und wieder Hintergrundgeräusche zu hören waren, ein Gepiepse oder ein Summen. – Es war aber für mich nie ein Ereignis, was mich beängstigt hätte oder verfolgt hätte, mir schlaflose Nächte bereitet hätte. Also, ich hab nicht unter Verfolgungswahn gelitten."

Yoldas schüttelt den Kopf. Er amüsiert sich darüber, fast kokett. - Für Yoldas und Yazici ist die Hamburger Milli Görüs die fortschrittlichste unter den islamischen Vereinigungen der Stadt. – Aber trotzdem besuchen V-Leute die Moschee und die Gebete, liefern Erkenntnisse an den Verfassungsschutz. Aber diese Erkenntnisse sind nicht viel wert, glaubt Achmet Yazici und rührt in seinem Tee:

Yazici: "Na ja … V-Leute sind natürlich auch ein Problem für den Verfassungsschutz. Schauen sie: da wird jemand angehauen, und gesagt: 'Hey, horch doch mal aus, was da passiert!' Und wenn das irgend so eine arme Wurst ist, die sich ein paar Euro verdient damit, wird der natürlich darauf bedacht sein, dass er natürlich auch die richtigen Informationen rüberbringt, damit er auch weiter seinen Job behält. Das ist ja auch der Selbsterhaltungstrieb."

Zuständig für die V-Leute im Landesamt für Verfassungsschutz ist Jürgen Dettmann. Ein ruhiger mittelgroßer Beamter, graues Haar, eckige Brille. Sein Büro liegt im dritten Stock am Johanniswall. Vor dem Fenster ein großer aufgeräumter Schreibtisch. Der Blick fällt auf die Deichtorhallen unter grauen Wolken.

Seit dem 11. September ist er auf der schwierigen Suche nach muslimischen Zuträgern.

Dettmann: "Wir haben es sehr oft mit stark religiös geprägten Personen zu tun. Die sind besonders empfindsam in der Frage: Verrat. In Diskussionen entstehen da sehr oft Zweifel, ob eine Zusammenarbeit mit uns nicht auch Verrat an Gott ist und damit begehen sie eine Sünde."

Und trotzdem entscheiden sich einige Muslime zur Zusammenarbeit. Nicht nur wegen des Geldes, sagt Dettmann, sondern oft genug aus Überzeugung:

Dettmann: "Gelegentlich wird argumentiert, dass man hier sich als Bürger in diesem Land seinen staatsbürgerlichen Pflichten nicht entziehen will und deswegen Hinweise gibt. Auch der Koran wird als Entscheidungshilfe genutzt, besonders dann, wenn man die friedlichen Absichten der Religion hervorheben will und diese Religion eben vor Schaden bewahren will, indem man auf das schädigende Verhalten einzelner Personen Hinweise liefert."

Dettmann wirft einen kurzen Blick auf seine Notizen. Mit ruhigen Augen, Hände auf den Armlehnen. Wie oft er wie viele V-Leute befragt, darf er nicht sagen. – Nur soviel: Er trifft sie regelmäßig an konspirativen Orten. Alle Neuigkeiten werden mündlich berichtet, schriftlich dagegen nichts. Natürlich muss er alle Angaben prüfen. Und den Vorwurf, dass ihm V-Leute falsche Informationen liefern, den kennt er.

Dettmann: "Wir haben in einem Beobachtungsobjekt mitunter mehrere VM eingesetzt und können somit Meldungen gegenchecken. Und manchmal liefern auch Observationsergebnisse hilfreiche Informationen zum Gegenchecken. Auf jeden Fall muss man die Angelegenheit prüfen und überlegen, ob der VM bewusst diese Falschinformation geliefert hat."

Dettmann rückt seine Brille zurecht, viel mehr will und darf er nicht verraten. Nach dem Interview geht es wieder einen Stock tiefer. Auf den Fluren stehen alle paar Meter Panzerschränke in grau oder blau, verschlossen mit Sicherheitsschlüsseln oder Zahlenschlössern. - Die V-Leute der Behörde berichten über den Inhalt der Freitagsgebete. Sie sollen Bescheid sagen, wenn Hassprediger die Kanzeln in den Moscheen besteigen.

Sie halten Ausschau nach Extremisten und liefern Namen. Und damit auch die Grundlage für Entscheidungen der Einbürgerungsbehörde. - Manfred Murck wippt im Sessel vor und zurück und erklärt, was das bedeutet.

Murck: "Wer einen Einbürgerungsantrag stellt, muss davon ausgehen, dass die Einbürgerungsbehörde bei uns anfragt, ob Erkenntnisse vorliegen, die den für eine Einbürgerung notwendigen Voraussetzungen entgegenstehen."

Liegen diese Erkenntnisse vor, lehnt die Behörde den Antrag meistens ab. Bei 30 bis 40 Fällen pro Jahr hat das Amt Bedenken, für diese Hamburger bleibt dann nur noch der Weg zum Anwalt.

Murck: "Und dann geht das weiter: der kann Beschwerde einlegen, dann prüfen wir vielleicht noch mal. Der kann zum Verwaltungsgericht gehen. Da sind wir ganz Rechtsstaat und Verwaltungsbehörde und weitere Überprüfungen führen dann manchmal dazu, dass wir sagen: Ja, wir haben bestimmte Anhaltspunkte gehabt, die jetzt, so wie der Betroffene uns das darstellt, eigentlich keine Bedenken rechtfertigen. Es kann aber auch anders ausgehen und wir im Zuge weiterer Ermittlungen dann sicher sind: Ja, der ist Unterstützer einer verfassungsfeindlichen Bestrebung."

Manfred Murck schaut rüber zur Tür, ein Mitarbeiter liefert neue Akten. Neue Arbeit für den zweiten Chef der Behörde.

Ortswechsel: - ein italienisches Café. Mitten im Einkaufszentrum, in Hamburg-Steilshoop. Auf Rolltreppen gleiten Männer und Frauen durch die Etagen, Sayed Achmed und sein Anwalt Norbert Müller sitzen an einem kleinen runden Tisch, vor sich frischen Cappuccino. Achmed in Jeans und weißem Hemd, krause, fast schon graue Haare, sein Anwalt im schwarzen Dreireiher. - Vor drei Jahren wird Sayed Achmeds Einbürgerungsantrag abgelehnt. Die Regelanfrage beim Verfassungsschutz ergibt: Achmed ist Mitglied der ägyptischen Muslimbruderschaft.

Sayed Achmed: "Die haben mir geschrieben: sie werden aufgrund Verfassungsschutz nicht eingebürgert."

Müller: "Es ging ja darum, dass er sagte: 'Ich habe mich davon abgewandt! Ich bin nicht mehr tätig für die Muslimbruderschaft.' Und der Verfassungsschutz hat gesagt: 'Das stimmt gar nicht! Der Mann lügt. Wir haben durch unsere Quellen, durch unsere V-Leute Erkenntnisse, dass er gleichwohl immer noch für die Muslimbruderschaft tätig ist.' Und das war auch der Streitpunkt des Prozesses."

Sayed Achmed bestreitet die Mitgliedschaft nicht. Auch nicht vor dem Richter. – Er gestikuliert über seinem Cappuccino. Erzählt seine Geschichte: als Student in Kairo tritt er der Bruderschaft bei: aus Wut gegen die Alleinherrschaft Hosni Mubaraks und seinen Sicherheitsapparat. – Aber Ende der Neunziger studiert er ein Semester in Hamburg. Und hier findet er, was ihm in Ägypten fehlt. - Sayed Achmed entschließt sich zu bleiben.

Sayed Achmed: "Als ich hier nach Deutschland kam, hatte ich also real gefunden: Dass man seine Meinung äußern, dass man im Rahmen der Gesetze alles machen kann. Solange das die Gesellschaft nicht beschädigt. Da war ich also sehr begeistert, weil ich das, wovon ich geträumt habe, real in meinem Leben gesehen habe."

Der Prozess, sagt Achmed, war keine leichte Zeit. Aber am Ende ist er beeindruckt von der deutschen Justiz:

Sayed Achmed: "Das hat mir sehr, sehr gefallen. Weil sie mir erzählt haben, dass sie was von jemandem gehört haben. Und dass sie auch meine Meinung hören – ich finde, das ist fair! - Und das ist die Sache, nach der ich suche: diese Meinungsfreiheit."

Rechtsanwalt Müller wischt sich ein paar Kekskrümel vom dunklen Anzug. Ganz aufrecht sitzt er im Korbstuhl. Ende 2006 gewinnt er für seinen Mandanten den Prozess. Sayed Achmed lächelt: In ein paar Monaten bekommt er seinen Pass.

Ortswechsel. Wieder im Landesamt: Manfred Murck lehnt im Türrahmen, bespricht sich mit dem Kollegen von der Observationsabteilung. Wie viele Muslime beschattet werden? – Dass verrät Murck nicht. Er bespricht sich kurz. Kehrt schnell ins Büro zurück. Größere Sorgen als um Milli Görüs und Mustafa Yoldas macht sich der Behördenvize um islamistische Splittergruppen in der Hansestadt. Im Fokus stehen Zuwanderer aus den Krisengebieten der Welt. Hier ist die Behörde sehr wachsam:

Murck: "Die Leute, die von den Gewaltschauplätzen dieser Welt kommen: aus Afghanistan, aus Tschetschenien, aus dem Nahen, Mittleren Osten, aus dem Maghreb. Also, die von dort kommen und Organisationen sich zurechnen oder von uns zugerechnet werden, die terroristisch agieren, die in ständigen Konflikten leben, die sind das größere Problem. Als andere Organisationen und insbesondere die IGMG."

Rund 130.000 Muslime leben in der Hansestadt. Über etwa 2000 von ihnen speichert der Verfassungsschutz Informationen auf seinen Rechnern. Und bei 0,2 Prozent aller Hamburger Muslime sieht das Amt noch genauer hin, so Murck, und streicht sich übers Revers:

Murck: "Wir vom Verfassungsschutz zählen knapp zweihundert, 160 bis 170 im Moment, 'Dschihadisten' nennen wir die. Die in der einen oder der anderen Form sich dem internationalen Dschihad fühlen. Und da gibt es einen Teil Menschen, die nicht persönlich Gewalt ausüben. Die aber Gewalt grundsätzlich unterstützen."

Im Visier hat der Nachrichtendienst Hamas-Mitglieder aus Hamburg, Vertreter von Hisbullah, Hisb-U-Tahir und der Al-Tawhid und Anhänger von irakischen Widerstandsgruppen.
Murck: "Jede Auseinandersetzung irgendwo auf der Welt hat ihren Reflex in Hamburg. Und wenn sich die Weltlage verschärft – nehmen sie den Irak-Konflikt: Wir haben hier in Hamburg auch Anhänger der Ansar-al-Islam gehabt und haben sie immer noch. Dann müssen damit rechnen, dass auch Hamburg in der einen oder anderen Form einbezogen wird. Dass die Menschen, die hier leben, entweder hier in Hamburg was planen oder dass sie ihre Organisation, ihre Kameraden, Brüder im Ausland irgendwie unterstützen. Und wir versuchen das aufzuklären und dazwischen zu kommen."

Dazwischen kommen will das Amt auch im Internet: ein paar Zimmer weiter begrüßt Manfred Murck den Internet-Auswerter beim LfV. Dennis Engelleder ist 33, hat Arabisch und Persisch studiert. Daneben spricht er Englisch, Französisch und ein bisschen Russisch.

Mit geradem Rücken und akkuratem, dunkelblonden Scheitel sitzt er vor dem Laptop. Er zeigt, wie Bin Laden und seine Bombenleger das Netz nutzen. Überall finden sich Anleitungen für Selbstmordanschläge und islamistische Propaganda.
Engelleder: "Mir stehen bei bestimmten Webseiten ständig die Haare zu Berge. Was hier im Sinne der islamistischen Propaganda verbreitet wird. - Wir haben hier zum Beispiel die Webseite der Islamic Army in Iraq, die natürlich über Verlautbarungen über die Heldentaten der Mudschaheddin im Irak ihre Ansichten verbreiten. Und sie versuchen hier auch, im Ausland Leute zu rekrutieren …"

Neben Engelleder steht Manfred Murck, schaut dem Mitarbeiter über die Schulter. Engelleder klickt sich durch die arabischen Menus und wird schnell fündig: kurze Videos, verwackelt und unscharf: Laster rasen in Sprengfallen, Panzerfäuste treffen mitten in Truppentransporter der US-Armee.

Mit einem Klick können die Filme weltweit gesehen werden. Ein "Best of" von Anschlägen auf US-Truppen.

Engelleder: "Das ist jetzt ein Clip aus dem letzten Jahr. Da geht es um die Zerstörung eines amerikanischen Fahrzeugs im Irak in Bagdad. Durchgeführt von Ansar-al-Sunna-Bewegung. Unterstützt uns und schließt uns eure Gebete ein. Die Islamische Armee im Irak."

Manfred Murck tritt einen Schritt zurück, will wieder zurück ins Büro: Akten warten, Besprechungen, Dienstreisen. Eine Hand in der Hosentasche fasst er die Lage in Hamburg zusammen:

Murck: "Diese Balance: die Gefahr steigt, aber wir werden auch besser mit unseren Erkenntnissen, besser mit unserer Aufklärungsarbeit - dieses hat im Ergebnis dazu geführt, dass in Hamburg und von Hamburg aus in den Jahren nach dem 11. September 2001 nichts passiert ist. – Das kann man so oder so deuten, aber das hat sicher auch etwas mit unserer Arbeit zu tun."

Manfred Murck macht weiter, verschwindet in seinem Büro, schließt die Tür. Wieder sitzt er am aktuellen Bericht der Behörde.

Yoldas: "Es ist wichtig, dass meine Organisation dort nicht erscheinen soll. - Wenn ich persönlich drin stehen sollte, berührt mich das nicht. Für mich ist der Bericht nicht relevant. Da hab ich keine Angst."

Im Verfassungsschutzbericht 2007 werden wieder gewaltbereite muslimische Extremisten auftauchen. Und auch die Milli-Görüs und Erbakan. - Ob Mustafa Yoldas wieder erwähnt wird – das steht für Manfred Murck und seine Kollegen noch nicht fest.