Lebensthema Kinder

25.02.2011
Die Schweizerin Alice Schmid dreht seit über 20 Jahren Dokumentarfilme über das Los von Kindern aus aller Welt - jetzt hat sie dieses Lebensthema zum ersten Mal in einem Roman mit dem Titel "Dreizehn ist meine Zahl" gestaltet. Verheißt die Unglückszahl nichts Gutes?
Zahlen erleichtern die Orientierung, Zahlen ordnen die Welt. Für die neunjährige Lilly besitzen sie eine eigene Magie. Allen voran die Dreizehn. So viele Rutenschläge kriegt sie von der Mutter zur Strafe, wenn sie "unartig" war und die gebotene "Demut" hat vermissen lassen. Indem sie mitzählt, hält sie die Angst im Zaum, die Angst vor dem Schmerz und davor, nicht geliebt, ja am Ende verstoßen zu werden.

Lilly wächst Ende der 50er Jahre in den Schweizer Bergen auf, irgendwo zwischen Bern und Luzern. Es ist eine harte, karge Welt, fernab der Segnungen des Wirtschaftswunders. In dem steilen und unwegsamen Gelände verdienen die Bauern nicht genug zum Lebensunterhalt, sie verdingen sich nebenher als Köhler, Schnapsbrenner oder Fabrikarbeiter, die Frauen nähen in Heimarbeit Kleider und Krawatten. Auch Kinder zählen nur als Arbeitskräfte. Vor den Zugriffen der Erwachsenen gibt es für sie keinen Schutz. Gewalt und Misshandlungen sind an der Tagesordnung. Besonders Lillys Mutter führt ein strenges Regiment. Der Vater, ein sanfter, schwacher Mensch, sieht wehrlos zu, wie ihn sein Bruder des Erbes beraubt und vermag sich nicht durchzusetzen gegen die Ungerechtigkeiten seiner Frau. So bietet auch der Vater keinen Halt, auch er versagt angesichts der Sehnsucht des Kindes nach einem Vertrauten.

Mit sicherem Gespür für die beklemmende Düsternis dieser archaischen Welt entfaltet Alice Schmid das Schicksal ihrer Protagonistin. Die 1951 in Luzern geborene Drehbuchautorin und Regisseurin, die seit 20 Jahren Dokumentarfilme über das Los von Kindern in aller Welt dreht, erzählt ihren Romanerstling aus dem Blickwinkel der neunjährigen Lilly. Auf sich allein gestellt, beobachtet das Mädchen seine Umgebung genau, die Schwester, die der Mutter ihr sauer verdientes Geld stiehlt, den Nachbarjungen, der, von seinem Vater missbraucht, verstummt ist, den Pfarrer in seiner bigotten Doppelmoral. Weil Lillys verstörende Beobachtungen nirgendwo Gehör finden, flüchtet sie in Tagträume und stellt sich vor, wie sie endlich den Abstieg in das sagenumwobene Änziloch wagt, eine Schlucht, aus der es keine Wiederkehr gibt. Das Reich der Phantasie wird zur Ersatzheimat.

Aus dieser monologisierenden Innenperspektive bezieht der Roman seine poetische Kraft, umso mehr als es Alice Schmid fast durchgängig gelingt, das kindliche Sprechen kunstfertig nachzuempfinden. Auch wenn man die reflektierende Distanz zum Geschehen vermissen mag, so erwächst aus der naiven Sehweise geradezu ein bezwingender Zauber an Unmittelbarkeit. Man ist, auch als jugendlicher Leser mittendrin. Dazu gehört, dass die Autorin den Text wohldosiert mit dialektalen Einsprengseln, lautmalerisch anmutenden Helvetismen versieht.

Lediglich am Schluss verlässt sie die bis dahin ausgewogene Erzählökonomie: Zu viele Schicksalsschläge auf einmal suchen das Dorf heim. Doch das fällt kaum ins Gewicht in diesem antiromantischen Heimatroman, dessen Stärke in der emotionalen Intensität liegt, mit der er weiblichem Überlebenswillen auf der anderen Seite des Heidilands nachspürt.

Besprochen von Edelgard Abenstein

Alice Schmid: Dreizehn ist meine Zahl
Nagel & Kimche, Zürich 2011
160 Seiten, 15,90 Euro