Lebensgeschichten aus Deutschland

Das Spiel mit der Perspektive

21:39 Minuten
Olivia Wenzel lehnt auf ihrem Schreibtisch und blickt nachdenklich ins Off.
Die Autorin Olivia Wenzel: Nachdenken darüber, wer von welcher Position aus über Rassismus schreibt. © imago / Tagesspiegel / Doris Spiekermann-Klaas
Olivia Wenzel, Ingo Schulze und Frank Witzel im Gespräch mit Frank Meyer · 13.03.2020
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Wie schreibt man über Rassismus - und für wen? Warum driften Büchermenschen ins rechte Lager ab? Was ist Heimat, was Heimsuchung? Um diese zentralen Fragen drehen sich die neuen Romane von Olivia Wenzel, Ingo Schulze und Frank Witzel.
Eine schwarze, noch in der DDR geborene Frau denkt über ihre Rassismus-Erfahrungen nach. Ein Dresdner Antiquar driftet in den Rechtsextremismus ab. Und ein Schriftsteller in Westdeutschland setzt sich mit Nachlassdokumenten seiner in der Nazizeit aufgewachsenen Eltern und damit mit seiner eigenen Geschichte auseinander. Diese drei, mit deutschen Realitäten eng verknüpfte Lebensgeschichten erzählen Olivia Wenzel, Ingo Schulze und Frank Witzel in ihren neuen Romanen.

Was es heißt, schwarz zu sein

Als "essayistische Weltdurchstreifung" bezeichnet die in Weimar geborene Dramatikerin Olivia Wenzel ihr Romandebüt "1000 Serpentinen Angst". Ihre namenlose Ich-Erzählerin reist um die Welt und reflektiert darüber, "was es heißt, in unterschiedlichen Kontexten Schwarz zu sein". Auch der biografische Bruch, noch in der DDR aufgewachsen zu sein, spielt eine Rolle: Ihre Mutter war Punk in Erfurt, die Großeltern hingegen waren SED-treu.
"Es gab eine klare politische Initiationszündung", erzählt Wenzel. "Das war, als ich in den USA war und Trump gewählt wurde. Ich habe mich mit vielen Afroamerikanerinnen und -amerikanern unterhalten. In diesen Gesprächen wurde eine große Verzweiflung spürbar." Auch eine Begegnung mit dem US-Intellektuellen Ta-Nehisi Coates war prägend.
Der Roman handele von der Angst und der "schwelenden Bedrohung", rassistischer Gewalt ausgesetzt zu werden, sagt Wenzel. Ein zentraler Aspekt ist auch die Perspektive, aus der sie den Rassismus schildert. Ein nicht-weißer Freund habe ihr gesagt: 'Wenn Du Teil einer Community of Color wärst, hättest Du dieses Buch niemals so schreiben können."
Wenzel gibt ihm Recht: "Wenn ich mir dieses Buch anschaue, dann versucht es immer wieder die Erfahrung zu vermitteln, wie sich das anfühlt, diskriminiert zu werden. Diese Erfahrung würde ich einem schwarzen Publikum nicht vermitteln wollen, weil die das wissen. Im Nachhinein habe ich meinen Frieden damit gemacht, dass ich denke: Ich habe da schon auch ein Buch für eine weiße Mehrheitsgesellschaft geschrieben. Sonst würde ich diese Art von Gewalt gar nicht so auserzählen."

Abdriften in den Rechtsextremismus

Auch der Dresdner Autor Ingo Schulze schöpft in seinem Roman "Die rechtschaffenen Mörder" aus biografischen Erfahrungen. Sein Roman spielt in Dresden-Blasewitz, wo Schulze einst zur Schule gegangen ist.
Der Schriftsteller Ingo Schulze spricht in ein Mikrofon bei der Vorstellung seines Buches "Die rechtschaffenen Mörder".
Schriftstelle Ingo Schulze: "Was passiert, wenn Menschen die Literatur verraten?"© imago images / gezett
Im Mittelpunkt des Geschehens stehe ein Antiquar, dem mit der Wende die ökonomische Grundlage zusehends verloren geht und an den Rand der Gesellschaft rutscht, erzählt Schulze. Eine allgemeingültige Folgerichtigkeit, wie und warum ein liberaler Bürger zum Rechtsextremen wird, habe er allerdings nicht im Sinn gehabt. Interessiert habe ihn "diese Ambivalenz: Was passiert, wenn Menschen die Literatur verraten und weit nach rechts abdriften?" Und außerdem gebe es die Frage: "Ist das tatsächlich so und wer beurteilt das?"

"Was ist Heimat?"

Seinem autobiografisch geprägten Roman "Inniger Schiffbruch" liege die Auseinandersetzung mit den Erfahrungen der eigenen, mittlerweile verstorbenen Eltern zugrunde, erzählt der Offenbacher Schriftsteller Frank Witzel. Als Ausgangspunkt dienten ihm Aufzeichnungen seines damals noch jugendlichen Vaters aus den unmittelbaren Nachkriegsjahren - eine Zeit, über die Witzels Eltern selbst nie sprachen. "Was ist Heimat? Was ist Heim? Was ist eine Heimsuchung?" Das seien die Leitfragen, die durch den Roman führten, so Witzel.
Der Schriftsteller Frank Witzel steht lässig in einem Hauseingang und blickt auf die Straße
Der Schriftsteller Frank Witzel: "Was ist Heim? Was ist Heimsuchung?"© picture alliance / dpa / Arne Dedert
Unter anderem handelt das Buch von Drohungen seiner Eltern, denen er in seiner Kindheit ausgesetzt war. "Jetzt kommst Du weg", war ein Satz, den Witzel immer wieder gehört hat.
Ein Bedrohungsszenario – Witzel spricht von einer "Inszenierung" –, das immer weiter entwickelt wurde - etwa indem die Eltern erzählten, sich bereits Internate und Erziehungsheime für ihn angesehen zu haben.
Später dämmerte ihm: "Meine Eltern haben mir im Grunde etwas angedroht, was sie selbst erlebt haben: Nämlich ihr Heim zu verlieren. Mein Vater musste weg von zuhause, weil sie in Frankfurt ausgebombt wurden – und das haben sie genau in dem Alter erlebt, in dem sie mir diese Drohung haben angedeihen lassen. Das wirft natürlich ein eigenartiges Licht auf diese Inszenierung. Man würde ja eigentlich denken: Ich bewahre mein Kind oder jemanden, der mir nahe ist, vor dem, was ich erlebt habe. Aber es ist genau umgekehrt: Weil ich das erlebt habe, benutze ich – natürlich auf völlig unbewusste Art und Weise – das, was ich erlebt habe, als Drohung."
(thg)
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