Lebensgeschichte eines Interieurs

Rezensiert von Edelgard Abenstein · 01.08.2006
Die Meisterin des Familienromans, Margaret Forster, erzählt die Geschichte eines Bildes, das mehrmals die Besitzerin wechselt: Es wird verloren, gestohlen, verkauft, vererbt, verbannt. Die Autorin führt den Leser auf eine Reise durch das Vereinigte Königreich zu viktorianischer Zeit und beschreibt das Leben von sechs Frauen unterschiedlicher Herkunft und die Rolle, die das Bild für sie spielt.
Es geht um ein Bild, das sechs Frauen miteinander verbindet. Gemalt hat es die Waliserin Gwen John, die von 1876 bis 1939 lebte, ein Interieur in impressionistischem Stil. Es zeigt ein besonntes Dachzimmer mit einem Korbstuhl, einem Holztisch vor dem Fenster mit Gardinen, einem Blumenstrauß mit einem Glas mitten darauf. Das Gemälde "A Corner of the Artist’s Room", das 1907 entstand, gibt es wirklich und befindet sich heute, unsigniert, in Privatbesitz.

In Forsters Roman wird es zunächst von der Malerin verschenkt, von da an wechselt es immer wieder die Besitzer, zu wechselnden Zeiten geht es an Frauen unterschiedlicher Generationen und sozialer Herkunft weiter.

Jede ist auf eigentümliche Weise davon fasziniert, jede rätselt darüber, von wem es stammen mag und unter welchen Umständen es entstand. Wie es tatsächlich war, weiß keine. Gwen John hat es in Paris gemalt, als sie, eine angehende Künstlerin, gerade 20 Jahre alt, auf ihren Geliebten wartete.

Er hieß Auguste Rodin, war damals ein berühmter Bildhauer und an die 60 Jahre alt, als sie ihm Modell stand und für kurze Zeit seine Muse wurde. Doch anders als Camille Claudel, die 20 Jahre zuvor an ihrer unglücklichen Liebesgeschichte mit dem Wegbereiter der Moderne zerbrach, arbeitete Gwen John unbeirrt weiter.

Ihr Bild wandert von Hand zu Hand. Mit dessen Geschichte eröffnet Margaret Forster Einblicke in das Leben ihrer Besitzerinnen quer durch das Jahrhundert. Als Seismograph für innere Entwicklungen hat es Krisen ausgelöst, getröstet, und beglückt, es rief Impulse hervor, um Lebenspläne zu festigen oder zu ändern. Immer wieder sind es rasante Zufälle, die die Wege der Frauen sich kreuzen lassen, ohne dass sie einander als Liebhaberinnen oder Vorbesitzerinnen jenes Gemäldes erkennen würden.

Nichtsahnend begegnen sich manche von ihnen, die ebenfalls Künstlerinnen werden wollen und am Ende sich mit einer Existenz als höhere Tochter, Krankenschwester oder Wissenschaftlerin bescheiden. Wunderbar, wie die Autorin, höchst auktorial, das Bild wie Schmuggelware durch die Biographien ihrer erfundenen Heldinnen schiebt.

Die 1938 geborene Margaret Forster hat in ihren zahlreichen Romanen und Biographien stets die Beziehungen von Frauen zueinander umkreist, besonders das Verhältnis zwischen Müttern und Töchtern. Sie wurde folglich als die "Meisterin des Familienromans" bezeichnet.

Nun hat sie mit ihrem Buch über ein kleines Gemälde dieses Genre verlassen und einen vielschichtigen Roman geschrieben, der nicht nur die viktorianische Epoche wiedererweckt, deren gesellschaftliche Regeln die weibliche Kreativität einschnürten. Er liest sich wie die unterhaltsame Fortsetzung von Virginia Woolfs programmatischem Text " Ein Zimmer für sich allein", der 20 Jahre nach Gwen Johns Bild entstanden ist und dem weiblichen Schreiben seither seine Signatur aufgeprägt hat.

Die "Lebensgeschichte" eines Interieurs ist ein spannender Roman über Liebe, Sex und Einsamkeit, und darüber, wie die Kunst den Prozess der Selbstfindung zu beflügeln vermag.

Margaret Forster: "Ein Zimmer, sechs Frauen und ein Bild".
Aus dem Englischen von Brigitte Walitzek
Arche-Verlag
528 Seiten, 24 Euro