Lebendes Fossil

Der wilde Stör stirbt aus

Ein russischer Stör mit langen Barteln und reptilienartiger Haut
Seit Menschengedenken ziehen Störe durch Donau, Wolga und das Schwarze Meer. Wie lange noch? © imago / OceanPhoto
Von Andrea Rehmsmeier · 05.02.2015
Der Stör ist ein Überlebenskünstler, er hat in den vergangenen 250 Millionen Jahren fast alle anderen Tierarten überlebt, auch die Dinosaurier. Jetzt allerdings ist er vom Aussterben bedroht - Staudämme versperren ihnen die Laichwege.
Die Waldsiedlung liegt direkt am Flussufer. Die Hütten sind zwischen hohen Bäumen verborgen: Es ist eine kuriose Ansammlung von Verschlägen, notdürftig zusammengeschraubt aus Wellblechen, Sperrholzplatten und übergangslos aneinandergesetzen Tür- und Fensterrahmen. Mannshohe Metallstützen sollen die wackeligen Konstruktionen vor Hochwasser schützen. Ausgebaute Autositze auf improvisierten Verandas laden ein, den Blick über das gemächlich dahinziehende Wasser der Donau schweifen zu lassen.
Hier, nahe der Kleinstadt Svishtov ganz im Norden Bulgariens, verbringen die Männer der umliegenden Siedlungen ihre Freizeit. So auch Stefán. Zu Ostblockzeiten stand er als Fischer im Staatsdienst. Heute ist der Fischfang in vielen Bereichen durch Quoten und Lizenzen reguliert, und so kann Stefán seinen alten Beruf nur noch als Hobby ausüben.
Ab und zu ein Fischlein zum Abendbrot für sich selbst und für die Ehefrau, plaudert der stämmige Rentner. Um mehr gehe es in dieser Anglergemeinschaft nicht.
"Die Inspektoren haben direkt von der Straße aus Zufahrt zu uns. Darum werden wir häufig kontrolliert. Wir sind die korrektesten aller Fischer. Aber besuchen Sie mal andere Landstriche an der Donau! Fahren Sie an die Orte, die man mit einem normalen Auto nicht erreichen kann! Was da im Verborgenen alles vor sich geht! Da kann man ganze Fischtrawler verstecken. Was soll ich dazu sagen – jeder ist für sich selbst verantwortlich!"
Mit einer Handbewegung lädt Stefán ein, ihm über eine rostige Metallstiege in die Hütte zu folgen. Drinnen ist es überraschend wohnlich. Ein Kohleöfchen aus Armee-Beständen verscheucht die Fußkälte, überall liegen Fischernetze und Angelruten herum. Ein Poster ziert die Wand neben Stefáns Schlafpritsche – die Fischfamilie der "Störartigen" in der Donau.
Mit spitzen Nasen, langen Barteln und reptilienartiger Haut abgebildet sind Sterlet und SternBeluga, Glattdick und Waxdick. Die Mitte des Bildes nimmt der berühmteste und begehrteste unter den Stören ein: der riesige Hausen, aus dessen Rogen der kostbare Beluga-Kaviar produziert wird. Über diesen legendären Fisch kann Stefán viele Geschichten erzählen. Denn hier, wo die Donau die Staatsgrenze zwischen Bulgarien und Rumänien markiert, ziehen die Störe seit Menschengedenken jedes Frühjahr durch, während ihrer Laichwanderung vom Schwarzen Meer.
"Es gab einen Fall Mitte der 90er-Jahre, in Nóvo Sélo in der Region Vídin. Da gab es einen jungen Fischer, der an seiner Hakenleine einen riesigen Beluga fand: 296 Kilo. Er rief zwei Freunde zur Hilfe, gemeinsam haben sie den Fisch an ihr Boot herangezogen. Aber bei dem Versuch, ihn an Bord zu hieven, ist das Boot gekentert. Einer konnte sich retten, die beiden anderen sind ertrunken. Schließlich war es März, die Wassertemperatur lag bei gerade mal fünf Grad und die Männer trugen schwere Stiefel und dicke Winterkleidung. Weiß Gott, es ist nicht leicht, einen Stör zu fangen – aber es lohnt sich! Dieser Fisch kann Leute reich machen! Ein Stör, der 100 Kilo wiegt, trägt zwischen 10 und 20 Kilo Schwarzen Kaviar, in Abhängigkeit von der Jahreszeit. Das macht dann 5000 oder 6000 Euro pro Fisch!"
Der Traum vom schnellen Geld
In der strukturschwachen Donau-Region, wo seit dem Zusammenbruch des Ostblocks hohe Arbeitslosigkeit herrscht, verkörpert der Rogen der Störe den Traum vom schnellen Geld. Gourmets in der Europäischen Union, in den USA und den Arabischen Emiraten zahlen bis zu 6000 Euro pro Kilo für die “Perlen der Lust”.
Doch die Plünderung der einstmals so reichen Fischgründe der Donau hat bittere Folgen: Heute stehen sämtliche Arten der Donau-Störe auf der Roten Liste der bedrohten Arten. Abgesehen vom Sterlet, der nur als “gefährdet” eingestuft ist, sind alle anderen vom Aussterben bedroht. Die Störfischerei ist bei hohen Geldstrafen verboten – in Bulgarien seit fünf Jahren, in Rumänien bereits seit über zehn Jahren.
Stefán aber grinst und winkt, ihm zu einer Kommode zu folgen. Er zieht eine sorgfältig zusammengerollte Leine hervor, an der Gewichte und zu Fleischerhaken gebogene Metallstifte baumeln. An ihren Enden sind die Haken nadelspitz zugefeilt.
"Das Seil hat eine Markierung, die auf dem Wasser schwimmt. Alles Übrige hängt herunter. Die Gewichte platzieren das Seil im Flussbett – dort, wo der Stör gründelt. Dabei hängt sich der Fisch mit seinem Körper an den Haken auf."
“Karmák”, so nennt man die berüchtigte Hakenleine auf bulgarisch. Stefán besitzt zwei davon, sagt er. Wo jetzt gerade seine zweite Leine ist, das will er nicht verraten.
Den Stören, die bis weit ins 20. Jahrhundert zur Laichzeit vom Schwarzen Meer aus bis nach Budapest, Bratislava und Wien wanderten, versperren heute Staudämme den Weg. Vor allem das "Eisernen Tor" – das größte Wasserkraftwerk der Donau zwischen Rumänien und Serbien – bildet ein unüberwindliches Hindernis. Zwar gab es vereinzelt Nachzuchtprogramme, berichtet der Fischwissenschafter Stójan Míkhov Die aber konnten den Zusammenbruch der Störpopulationen bislang nicht aufhalten.
"Die Donau ist der letzte Ort, wo ein Belugaüberhaupt noch zu seinen Laichplätzen wandern kann – wenigstens die Anfangstrecke, die ersten 1000 Kilometer, bis zum 'Eisernen Tor' hinauf. Ja, wenigstens bis dahin wandern die Störe noch heute. Das wissen wir, weil unsere Fischer vor zwei oder drei Jahren drei Exemplare gefangen haben. Aber laichen die Störe noch? Da können wir nicht sicher sein."
Míkhov arbeitet für die Artenschutzorganisation World Wildlife Fund Bulgarien, die sich seit Jahren für die Renaturierung der Donau-Feuchtgebiete und den Schutz der Donau-Störe engagiert. Die Artenschützer haben 2014 ein eigenes Nachzuchtprogramm mit 10.000 Sterlets gestartet, das in den kommenden Jahren weitergeführt werden soll. Darüber hinaus sind in Bulgarien und Rumänien WWF-Teams von sogenannten "Stör-Anwälten" unterwegs, die bei Donau-Fischern und Behörden um Unterstützung werben sollen. Und dennoch: Die Erkenntnis aus den Donau-Expeditionen, die Mihkov im Frühjahr 2014 unternommen hat, um Laichplätze zu finden, war niederschmetternd.
Kein Laich zu sehen
"Leider haben wir zwar eine Menge geeigneter Plätzen gefunden – aber alle waren ohne Laich. Nichts! Vielleicht lag es daran, dass im Jahr 2013 die Wassertemperatur ungewöhnlich hoch war, über 20 Grad – für Mai ist das extrem warm. Und 2014 gab es Problem mit dem Wasserstand: Der war erst sehr niedrig, und dann gab es einen dramatischen Anstieg von 2,5 Metern in nur einer Woche. Im Moment also weist nichts darauf hin, dass die Störe überhaupt laichen."
Auch die Stör-Wilderei wird weitergehen, solange die Bewohner in der Donau-Region keine attraktiven anderen Verdienstmöglichkeiten finden, fürchtet Mikhov. Die Netzwerke der Kaviar-Mafia, die schon in den 90er-Jahren Kaviar in großen Mengen an gut zahlende Sterne-Restautrants und Feinkost-Läden in aller Welt vertrieben hat, sind bis heute aktiv.
Für eine 2013 veröffentlichte Studie hat der WWF Kaviar-Proben aus Rumänien, Bulgarien und Österreich per Gen-Analyse untersuchen lassen – erworben im dubiosen Straßenverkauf wie auch in der Spitzengastronomie. Zahlreiche Testkäufe gingen ohne die notwendige Artenschutzkennzeichnung über den Tresen, und selbst wenn die Etiketten anscheinend stimmten, enthielten viele Kaviardosen nicht das, was deklariert war: Anstelle von edlem Stör-Rogen gab es Eier von Billig-Fisch oder gar Algen-Plagiate. Auch Kaviar von gewilderten Fischen wurde verkauft – und das ausgerechnet von den besonders stark gefährdeten Beluga-Stören. Der Kaviarhandel sei bis heute von illegalen Machenschaften durchzogen, schlussfolgerte der WWF in der Studie.
"Ja, es gibt einen Schwarzmarkt. Ob dieser tatsächlich die Form eines internationalen kriminellen Netzwerks hat, darüber kann man spekulieren, ich selbst glaube es nicht. Klar ist jedoch: Wenn ein Fischer einen weiblichen Belugamit Kaviar fängt, dann ruft er eine der Telefonummern an, die hier in Fischer- und Anglerkreisen kursieren. Und dann kommt jemand vorbei. Ware? Okay! Erst seit kurzem geht unser Staat ernsthaft dagegen vor. Das ist neu, denn früher war die Lobby der Fischproduktionsfirmen sehr mächtig. Da hatte niemand ein Interesse daran, etwas gegen die Störwilderei zu unternehmen."
Der Spiegel im Aufzug hat einen Sprung, der PVC-Belag der Amtsflure ist bis auf den Beton durchgetreten. Die Einrichtung im Büro von Iván Kojuhárov, Leiter des Amts für Fischerei und Aquakultur in der Donauregion Pleven, ist karg. Doch auch hier zieren Poster von Stören alle Wände. Dabei, das gibt der stämmige Behördenleiter offen zu, sind auch die Populationen anderer Arten in einem besorgniserregenden Zustand.
"Ich verfüge über sämtliche Daten seit 1980. Ich bin für die Fischereiwirtschaft zuständig, für den größten Abschnitt der Donau zwischen Belene und Vratsa, das sind etwa 100 Kilometer. Früher, zu Ostblockzeiten, hatten Fischer bis zu 50 Tonnen Makrelen in ihren Netzen, und das in nur einem Monat! Heute fangen sie nicht mal mehr eine einzige für den Familientisch!"
Stör-Zuchtfarmen beliefern Nobelgastronomie
Zwischen 15 und 20 Belugas pro Fangsaison, das war früher normal, sagt Kojuhárov – von den übrigen Stör-Arten ganz zu schweigen. Doch das war zu Ostblockzeiten. Heute erwirtschaften längst nicht mehr die Fischer die Umsätze im Hochpreis-Segment Schwarzer Kaviar, sondern die Stör-Zuchtfarmen. "Aquakultur" nennt sich diese junge Form der Massentierhaltung, dank ihr ist das Verschwinden der wilden Störe in der Nobelgastonomie fast gänzlich unbemerkt geblieben.
Der kostbare Beluga-Kaviar in einer Dose auf Eis.
Aufgrund der Zuchtfarmen ist das Verschwinden des Stör in der Gastronomie fast unbemerkt geblieben.© imago/Westend61
Der Fischkopf ist so groß wie ein Autoreifen: Seine Schnauze ist spitz, seine Haut brüchig wie Pergamentpapier, seine erloschenen Augen sind winzig. Dekorativ ist der mumifizierte Beluga in der Ecke des Gästeraumes aufgestellt – vor einer Wand, die vollgehängt ist mit ausgestopften Enten, Fasanen und Wildkatzen. Gut zehn Jahre ist es her, erinnert sich ein Kneipenbesucher namens Romén, dass sie den riesigen Fisch unweit von hier aus dem Fluss zogen.
"Mein Bruder war auf Fischzug – und eines Nachts hatte er plötzlich einen Beluga im Netz. Meine Mutter hat mich frühmorgens aus dem Schlaf gerüttelt, sie sagte: 'Beeil dich, fahr hin, sie bekommen den Fisch nicht vom Boot herunter!'. Und nun stellen Sie sich vor, wie die Jungs ihn erst ins Boot hineinbekommen haben – des Nachts, und mit dem Schwanz voran! Irgendwie hatten sie Glück. Der Fisch war 2,70 Meter lang, und er wog 230 Kilo. Ein Weibchen. Danach hat niemand mehr so einen Fisch gefangen."
Es ist früher Nachmittag, in der Fischerkneipe in dem Donau-Städtchen Sétchin riecht es nach Zigaretten und Bier. Hinter dem Kneipenfenster sieht man gemächlich den Fluss vorüberziehen. Männer in zerschlissenen Trainingshosen und Wollpullis kommen herein, und stellen ihr Angelgerät in die Ecke.
Doch wie so oft sind bei vielen die Netze und Angeln leer geblieben. Die Männer schlagen sich mit Gelegenheitsjobs als Nachwächter oder Fahrer durch, mit dem Boot fahren sie nur noch zum Zeitvertreib oder aus alter Gewohnheit hinaus, erzählt der Angler Emíl.
"Es geht nicht um Fisch, wir haben sonst kein Einkommen. Und Fisch gibt es jetzt auch nicht mehr. Wie sollen wir durchkommen? Allein das Benzin kostet über zehn Euro, aber du kommst zurück mit Fisch mit einem Marktwert von nicht mal drei Euro. Und dann verknacken dich diese Halsabschneider wie einen Strandräuber."
Und dann haben die Fischer eine Idee: Sie möchten ein gemeinsames Erinnerungsfoto, zusammen mit dem mumifizierten Beluga-Kopf.
Sie hieven sie das Ungetüm samt Ausstellungstisch nach draußen, und positionieren es für einen Panorama-Blick auf die Donau, auf deren Wasser wippend Kunststoffflaschen und bunte Plastikfetzen vorüberziehen. Die Laune der Männer bessert sich zusehens. Sie stellen sich um die Trophäe herum – breitbeinig, die kräftigen Arme in die Hüften gestützt. Und sie lachen so breit, dass ihre Zähne in den braungebrannten Gesichtern blitzen – ganz so, als habe sie gerade eben erst das Anglerglück ereilt.
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