Leben nach dem Säureanschlag

"Ich werde endlich mit Toleranz behandelt"

07:15 Minuten
Zu sehen ist eine weiße Frau mit lockigen hochgesteckten dunklen Haaren, in denen eine Sonnenbrille steckt. Sie trägt ein schwarzes Kleid mit Jäckchen und hat rot geschminkte Lippen. Dekolletee und Handgelenk sind mit Tattoos verziert. Die rechte Gesichtshälfte der Frau ist bis ins Dekolletee hinunter vernarbt. Dort, wo sich das rechte Auge befinden sollte, trägt sie ein silbernes Implantat.
Vanessa Münstermann lebt mit vielen Narben, aber sie hat nach dem Attentat auch ihr Glück gefunden. © Florian Arp
Vanessa Münstermann im Gespräch mit Ute Welty · 21.07.2020
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Vanessa Münstermann ist Opfer und Überlebende eines Säureanschlags ihres Ex-Freundes. In ihrem zweiten Leben hat sich vieles verändert - zum Guten.
Auge, Gesicht, Dekolleté und Hand werden getroffen, als der Ex-Freund auf Vanessa Münstermann losgeht.

"Ich erinnere mich an alles. Der kam morgens. Ich hörte nur 'Ich gehe ja sowieso ins Gefängnis', und dann kam die Säure", erinnert sie sich.

Der Täter wird zu zwölf Jahren Haft verurteilt, und Vanessa Münstermann lebt seitdem mit ihren vielen Narben. Aber sie ist auch Mutter geworden, hat geheiratet und arbeitet heute als Buchautorin und Speakerin.

"Ich wäre tot ohne dieses Säureattentat"

Vanessa Münstermann ist eine andere geworden und geht damit offensiv um. "Ich würde jetzt mal ganz plakativ sagen: Ich wäre tot ohne dieses Säureattentat. Und ich glaube, ich wäre auch sogar keine Mutter geworden. Und das würde ich schon als Glück beschreiben", sagt sie.

In ihrem früheren Leben quälten sie Depressionen und Suizidgedanken: "Das hat keiner gesehen, ich war immer das wunderschöne Püppchen."

Jetzt könne man ihr Leid sehen und sie werde endlich so behandelt, wie ich sie sich das schon vorher gewünscht habe – "mit Toleranz".

Kampf mit der Krankenkasse

Münstermann hat sich ein silbernes Augenimplantat in die verletzte Gesichthälfte einsetzen lassen. "Ich habe mich aktiv dagegen entschieden, normal auszusehen", sagt sie. Sie schminkt sich immer noch gern.

Zwar bekomme sie staatliche Opferentschädigungshilfe, doch Münstermann beklagt die hohen bürokratischen Hürden etwa bei der Erwirkung bestimmter Leistungen durch die Krankenkassen.

"Sie glauben nicht, wie mein Schreibtisch aussieht", klagt Münstermann. "Bürokratie über Bürokratie. Und wenn man das nicht geregelt kriegt, hat man eigentlich in Deutschland verloren."
(huc)

Vanessa Münstermann: ich will mich nicht verstecken
Rowohlt 2019, 296 Seiten, 10 Euro

Corona hat uns gezeigt, wie sehr das Leben sich plötzlich ändern kann. Die Pandemie hat auch den Blick für Umbrüche geschärft – freiwillige und erzwungene. Deutschlandfunk Kultur stellt in loser Folge Menschen vor, die einen Bruch mit ihrem alten Leben gewagt haben. Hören Sie dazu auch:
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