Leben mit dem Ungewissen

Was Unsicherheit mit uns macht

32:56 Minuten
Grafik: Eine Frau schaut durch ein Teleskop auf ein Fragezeichen in den Sternen.
Was ist Unsicherheit überhaupt? Und was machen wir daraus? © imago images / Ikon Images / Eva Bee
Von Heiner Kiesel · 26.04.2021
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Angesichts von Pandemie und Klimawandel hat die Unsicherheit Hochkonjunktur. Niemand mag dieses Gefühl, doch wir können ihm kaum entrinnen. Aber gibt es nicht auch gute Gründe, Ungewissheit wertzuschätzen?
"Klar, je mehr Entscheidungen ich treffe, desto mehr Entscheidungen kann ich falsch treffen und das kann einen ja natürlich auch verunsichern. Und momentan sind wir natürlich in einer Phase, wo Menschen sich ja regelrecht nach Kontrolle sehnen", sagt die Buchautorin und Journalistin Sandra Winkler.
Und der Politikwissenschaftler Georgios Kolliarakis glaubt: "Deutschland – wie viele andere Wohlstandsgesellschaften – ist mit der Zeit intoleranter gegenüber Risiken und Unsicherheiten geworden."
Unsicherheit hat einen ziemlich schlechten Ruf und sie lauert überall. Aber ein positiver Aspekt schon mal vorab: Sie verbindet uns. Gerade jetzt: Ich frage mich, ob das hier der richtige Anfang für die Sendung ist? Und Sie sind sich vielleicht noch etwas unsicher, ob es das Richtige für sie ist? Was hält sie?
Vielleicht vertrauen Sie dem Programm, ihrem Bauchgefühl – oder mir, wenn ich Ihnen Hoffnung mache, all den Unsicherheiten um uns herum nach dieser knappen halben Stunden ein bisschen offener und entspannter begegnen zu können. Das können wir alle gebrauchen!


"Die Menschen wollen wissen, wie geht es weiter", so Bundeskanzlerin Angela Merkel.
Was macht die Unsicherheit mit uns? Was machen wir aus der Unsicherheit? Was ist Unsicherheit? Der französische Philosoph Dorian Astor spricht von ihr als einer Trilogie aus drei grundsätzlichen Fragen: Was ist? Was kann ich machen? Und was darf ich mir erhoffen? Wenn sich diese Fragen in existenziellen Bereichen des Lebens aufdrängen, die Antworten darauf dürftig ausfallen, oder gar fehlen, dann spüren wir die Unsicherheit. Dora Manger, Frauenärztin im fränkischen Kitzingen:
"Dieses ‚man weiß nicht genau, wie es weitergeht‘, die Welt hat sich verändert. Wirtschaftlich hat sich für viele was verändert, vielleicht ist ein Opa schon erkrankt und schon verstorben. Die nehmen sich das so sehr zu Herzen, weil ihnen eben diese Filterfunktion fehlt, dass ich jetzt ganz viele Schwangere hatte, wo die Kinder nicht mehr gut gewachsen sind.
Auffällig viele, sonst hat man so zwei in der Woche, die man etwas engmaschiger sehen muss, öfter betreuen muss, damit alles läuft, und dann war es jede zweite! Mir haben auch explizit Frauen gesagt, dass sie sich nicht getraut haben, ein zweites Kind zu bekommen, weil sie das Gefühl haben, sie sind im Krieg, es ist ihnen alles aus der Hand genommen. Das ist für mich Unsicherheit."
Diese Arztpraxis in Kitzingen, ist einer der Orte, an denen es ganz konkret wird, dass wir eine außergewöhnliche Phase der Unsicherheit durchlaufen. Sie erfasst nahezu alle. Hier hat sie eine statistische Größe. Die ist ungleich beeindruckender als all die vielen und oft beliebigen Meinungsumfragen zum gesellschaftlichen Klima. Es zeichnet sich aktuell ein europaweiter Geburtenrückgang von mehr als zehn Prozent ab.
Was ist, was tun, was wird? – Das treibt uns um, wie lange nicht.
"Ich denke, das ist genau meine Aufgabe und ich muss auch sagen, ich habe einen echt schönen Beruf, das macht mir auch viel Spaß!"
Ihr Kampf gegen die Unsicherheit – eine Sisyphusarbeit, die immer schwieriger wird. Das ist der Technik und dem Zeitgeist geschuldet. Dora Manger:
"Was weiß ich – der große Zeh juckt, und dann googeln sie das und dann kommen ganz furchtbare Sachen. Wenn man Google befragt, dann kommt ja bei den einfachsten Dingen der Exitus letalis raus. Mit dieser Verunsicherung kommen sie oftmals an und das lässt sich oft auch gut auflösen, aber dann kommt das Nächste um die Ecke."

Sehnsucht nach Gewissheit

Früher, zugegeben, das ist eine Idealisierung, da waren Ärzte "die Halbgötter in Weiß", die wussten, was zu machen ist. Das Vertrauen in sie war alternativlos. Heute? Zweite Meinungen sind nur einen Klick entfernt. Arzt gehört immer noch zu den am meisten geschätzten Berufen, aber Ärztinnen und Ärzte sind inzwischen, genau wie all die anderen Expertinnen und Entscheider um uns herum, nur noch gut ausgebildete Menschen, die sich alle mal irren können.
"Die Größe muss man schon haben, das dann zuzugeben", sagt Dora Manger.
Für Wissenschaftler ist das bestimmt befreiend, nicht unter dem Druck zu stehen, ständig Wahrheiten verkünden und verteidigen zu müssen. Oder einfach mal zu sagen: Das ist der Stand der Erkenntnis heute. Morgen kann das schon anders sein. Das ermöglicht mehr Bewegung, bessere Lösungen. Eigentlich schön. Auch Politiker haben sich das abgeschaut und sind in der Lage, viel schneller alte Gewissheiten abzulegen. Aber besonders, wenn es unsicher wird, da mögen wir das nicht so gern. Da sollen die Autoritäten nicht zweifeln, sondern ansagen, was Sache ist.


Für die Medizinerin Dora Manger ist das nicht anders. Nur: Sie hat einen professionellen Umgang damit gelernt.
"Ich meine, es gibt wirklich Momente, da weiß ich auch nicht die richtige Lösung von vorneherein. Was ist jetzt die richtige Lösung? Häufig ist es ja auch so, dass man verschiedene Möglichkeiten hat und im Zweifelsfall gehe ich immer auf die – jetzt sind wir wieder beim Thema – gehe ich immer auf Sicherheit. Wenn wir jetzt wieder zum Beispiel auf die Schwangeren zurückkommen: Da bestelle ich die lieber hundertmal ein und kontrolliere hundertmal, bis alles stimmt. Das macht bestimmt jeder anders, und es ist auch nicht jede glücklich, dass ich da immer sehr, sehr, sehr genau bin und wenn das Risiko dann auch gering ist – ich will am liebsten Null Risiko!"
Eine Frau steht in einer Praxis.
Gynäkologin Dora Manger: "Es gibt wirklich Momente, da weiß ich auch nicht die richtige Lösung von vorneherein."© Deutschlandradio / Heiner Kiesel

Wir können der Unsicherheit nicht entkommen

Keine Kompromisse bei der Gesundheit der Patientinnen. Klar, diese Aussage erwartet man von einer Ärztin! Kann sie das leisten? Da sind 25 Jahre Berufserfahrung in der eigenen Praxis, der Austausch mit den Kolleginnen, Netzwerke, Weiterbildungen. Aber Dora Manger bringt das auch menschlich gut rüber. Das beruhigt und gibt Sicherheit. Und sie selbst? Was gibt ihr am Ende Gewissheit, dass sie ihren Ansprüchen gerecht wird, jenseits der Professionalität? Bleibt denn nicht immer am Ende Unsicherheit?
"Ja, sie ist eine grundsätzliche Konstante in der menschlichen Existenz", erklärt die Soziologin Aida Bosch.
"Denn, wenn wir entscheiden, haben wir niemals Wissen von allen Rahmenbedingungen des Entscheidens und das bedeutet, wir entscheiden immer in einer Situation der Unsicherheit, wo wir nur einen Teil der Einflussfaktoren und Wirkungen kennen und in jeder Entscheidungssicherheit gibt es deswegen Unsicherheit – vor allem in Bezug auf die Zukunft, aber natürlich gibt es die auch im Rückblick, das heißt, wie bewertet man Ereignisse aus der Vergangenheit, wie interpretiert man sie, welche Ereignisse werden überhaupt erinnert und analysiert? Auch daraufhin gibt es eine gewisse Unsicherheit und Ambivalenz."
Aida Bosch lehrt als außerplanmäßige Professorin an der Friedrich- Alexander-Universität Erlangen.
"Die Frage ist, können wir damit umgehen und können wir es aushalten?"

Kultur schafft einen sicheren Raum

Unsicherheit – nicht als Gefühl in einer Bedrohungssituation, sondern als Resultat einer Unentschiedenheit – ist nicht nur ein Dauerbegleiter des Menschen, sie ist eine Empfindung, die ihn vom Tier unterscheidet.
"Da ist es so, dass Reaktionen auf die Umwelt, auf bestimmte Situationen auf Instinkten beruhen, also viel festgelegter sind, als es beim Menschen der Fall ist."
Bei der Reaktion auf Unsicherheit sind wir allerdings Tier genug, um ganz körperlich zu reagieren. Uns wird unwohl – Schlafstörungen, Verstopfung, Herzrasen, Niedergeschlagenheit – die Liste lässt sich mühelos verlängern. So gesehen ist Unsicherheit gleichbedeutend mit unangenehm. Und wir können uns ihr nicht mehr durch rein Instinkt-geleitete Handlungen entziehen. Fliehen-Kämpfen-Verstecken – so einfach ist es nicht mehr. Die Soziologin Aida Bosch meint:
"Sicherheit kann uns in der Regel nur die Kultur geben. Um es philosophisch zu sagen: Als Mensch sind wir in ein offenes Weltverhältnis gestellt. Das ist nun mal durch Unsicherheiten gekennzeichnet. Sicherheit gibt uns in der Regel die Kultur, die diesen Möglichkeitsraum von Reaktionen einschränkt, dadurch, dass es kulturelle Muster gibt. Andere Menschen vor uns haben bestimmte Erfahrungen gemacht, gelten als sozial richtig und akzeptabel und all das schafft so etwas wie einen sicheren Raum."
Mit Konventionen, Traditionen und Ritualen haben wir Strukturen geschaffen, die uns Halt geben. Sie mögen noch so absurd sein – vom Händeschütteln, zum Singen einer Nationalhymne bis hin zum Sterne deuten und Götter anbeten – wenn wir einmal das Gefühl haben, dass die Handlung uns einen sicheren Rahmen zum Leben schafft, lassen wir ungern wieder davon ab. Ein kultureller Wall gegen die allseits dräuende Ungewissheit.
"Und diese künstliche Welt beinhaltet auch Dinge. Von frühester Zeit an, hat der Mensch schon Werkzeuge geschaffen bis heute zu diesen Tausenden von Dingen, die uns umgeben in unserer privaten Umgebung und diese Dinge sorgen auch für Stabilität der Existenz, also in unserer häuslichen Umgebung mit den vertrauten Dingen um uns herum, das sorgt auch für ein so gewisses Heimat- und Sicherheitsgefühl."

Wohlstand bedeutet nicht weniger Unsicherheit

Leider entzieht sich das Gefühl der Unsicherheit der herkömmlichen Arithmetik. Sonst würde der wachsende Wohlstand zu einem größeren Gefühl von Sicherheit führen. Aber das Gegenteil scheint eher der Fall zu sein, denn jedem Ding wohnt die Möglichkeit des Versagens, des Verlustes inne. Das gilt ebenso für soziale Bindungen, die wir aufbauen.
Wir haben vielleicht ein Gefühl dafür entwickelt, dass etwas in der Vergangenheit funktioniert hat, aber über die Zukunft können wir – über Wahrscheinlichkeiten hinaus – nichts wissen. Um ein Gefühl der Sicherheit zu den Dingen und Menschen um uns herum herzustellen, müssen wir – nach allem Abwägen und Reflektieren – immer einen Sprung ins Ungewisse wagen und vertrauen. Aida Bosch:
"Und Vertrauen ist ja so eine Sache. Vertrauen ist niemals sicher. Wir schenken unser Vertrauen, in der Erwartung, dass es erwidert wird, oder dass es schon klappt, aber wir haben niemals komplette Sicherheit darüber. Niklas Luhmann hat mal gesagt, Vertrauen dient der Reduktion von Komplexität. Aber Misstrauen kann auch der Reduktion von Komplexität dienen. Jetzt ist die Frage, ob beides gleichwertig ist? Das ist es natürlich nicht.
Weil Vertrauen besser hilft, mit unsicheren Situationen umzugehen, wie Misstrauen. Weil wenn wir mit Misstrauen operieren, dann können wir nicht alles kontrollieren, dann wird es zu komplex. Aber mit Vertrauen können wir besser die Lücken in unserem Wissen überbrücken, weil wir darauf setzen, dass die Person, der ich vertraue, dass da auch früher oder später etwas zurückkommen wird."
"Dieses Urvertrauen trägt dann eben", sagt die Frauenärztin Dora Manger. "Dass man eben, obwohl die Fakten so und so sind, trotzdem sagt: Ja, da muss ich was dafür tun, ich muss mich da engagieren, aber mir geht es eigentlich gut und mein Leben ist schön!"

Unsicherheit ist das Geschäft von Versicherungen

"In unserem Alter sollte man auf jeden Fall auch mal über ein Pflegetagegeld nachdenken. Das ist sicherlich ein Punkt, in dem mehr benötigt wird, als man sich vorstellt", fällt Michael Markus spontan dazu ein. "Ich denke mir, von der Sache her, Deine Altersversorgung wird passen. Da hast du in jungen Jahren bestimmt schon mal nachgedacht. Das wäre also das Erste, was mir so einfällt."
Schön wär’s, dass mit der Altersversorgung! Aber egal, das ist ein anderes Thema voller Unsicherheit. Ich sitze im Büro von Michael Markus, 56 Jahre alt, aus Niederwerrn.


Er ist seit 30 Jahren Versicherungsvertreter. Wir kennen uns. Im Regal hinter ihm steht ein Bild seines Vaters, der hat meinem schon Policen verkauft. Ich will mit ihm über das Geschäft mit der Unsicherheit sprechen. Das ist eines, das er selbst mit großen Selbstzweifeln angetreten hat.
"Da war die eigene Unsicherheit eben, weil es einfach Neuland war, vor allen Dingen auf die Leute zuzugehen und ihnen natürlich auch Angebote zu unterbreiten und die Krönung, dann auf ein Ja zu hoffen, dass das dann für sie auch in Ordnung ist. Das war für mich am Anfang eine Riesenhürde und ich war oftmals froh, wenn die Tür nicht aufging und ich mir gedacht habe, okay, ich habe meinen Willen gezeigt, dass ich rein will, aber es war halt keiner daheim."
Ein Mann steht vor einem Büro.
Versicherungsmakler Michael Markus: "Wir wollen keine Angst verkaufen, sondern wir wollen Lösungen verkaufen."© Deutschlandradio / Heiner Kiesel

Sind die Deutschen überversichert?

Michael Markus arbeitet seither in einem ziemlich kräftigen Wirtschaftszweig, der von Unsicherheit profitiert. Während in Deutschland die Umsätze von Finanzdienstleistern schrumpfen, legten Versicherungsunternehmen in den vergangenen Jahren stetig zu. 160.000 Mitarbeiter, zwei Milliarden Euro Gewinn. Auch Michael Markus ist zufrieden mit seiner Karriere als Selbstständiger. Inzwischen betreut er so um die 1000 Kunden im nordwestlichen Rand Bayerns. Schutz vor allem Möglichen. Michael Markus:
"Schwierig zu sagen, wenn wir jetzt mal alle Paletten durchgehen. Das geht durch alle versicherungstechnischen Möglichkeiten, ob das jetzt eine Krankenzusatzversicherung, eine Krankenvollversicherung, bis zum Rechtsschutz, Sachversicherungen, betriebliche Versicherungen, Geschäftsversicherungen, da fällt alles mit drunter. Sagen wir mal so: Für alle Gegebenheiten."
Rein rechnerisch hat jeder in Deutschland fünf Versicherungen abgeschlossen und gibt rund 2500 Euro im Jahr dafür aus. Die Deutschen sind hoffnungslos überversichert – das ist eine Behauptung, die irgendwie gut zum Image der regelkonformen, ordentlichen und wenig spontanen Bundesbürger passt. Sie lässt sich aber statistisch nicht halten.
Wir sind da eher im unteren europäischen Drittel. Am meisten versichert wird, da stimmen die Stereotype endlich, natürlich in der Schweiz. Überversichert durch falsche Policen. Wer kann das sagen? Welche Versicherungen sind notwendig, welche nicht? Das ist individuell und sowieso unsicher. Na ja, meine Glasbruchversicherung ist wahrscheinlich wirklich quatsch. Der Fachmann für Versicherungen meint:
"Es gibt wichtigen Versicherungsschutz und es gibt auch nicht so wichtigen."

Risikobehafteter Freikauf von Unsicherheit

Michael Markus ist ein gesetzter, eher ruhiger Typ. Das passt, denn von einem Versicherungsvertreter will ich nicht überrascht werden. Und auch sein Geschäftsstil verzichtet betont auf alle Anzeichen von Druck. Aber darf man einem Versicherungsvertreter wirklich vertrauen?
"Man kann auf verschiedene Art und Weise verkaufen – man kann verkaufen, dass der Kunde sich genötigt fühlt, das machen zu müssen, oder man verkauft es so, dass er erkennt, ob er es braucht oder nicht. Das ist ein großer Unterschied und ich habe mich eigentlich immer sehr wohl gefühlt, die zweite Möglichkeit zu nutzen."
Fest steht, wenn ich mich bei ihm von meiner Unsicherheit freikaufen möchte, verdient er Geld. Er hat also ein Interesse am Abschluss und wie kann ich wissen, dass sich das mit meinem Interesse nach Absicherung deckt? Unsicherheit ist ein unangenehmes Gefühl, Unsicherheit ist das Geschäft der Versicherungsvertreter. Diese Verbindung ist vielleicht einer der Gründe dafür, dass beide wenig populär sind.
In Ranglisten führen Versicherungsvertreter regelmäßig die unbeliebtesten Berufe an. Die Makler gelten als rücksichtslose Drücker, die ängstliche Rentner ausnehmen, Angstmacher, die windige Policen mit viel Kleingedrucktem verkaufen – Verträge, die im Ernstfall dann doch nichts wert sind. Das Ärger-Potenzial ist groß bei Verunsicherung. Die Beschwerden bei der Bundesanstalt für Finanzdienstleistungen, Bafin über Versicherer halten sich "auf hohem Niveau", teilt die Behörde mit.
Der Versicherungsmakler kennt die Vorwürfe und reagiert ruhig auf das latente Misstrauen:
"Wir wollen keine Angst verkaufen, sondern wir wollen Lösungen verkaufen, für die Unsicherheiten, die da sind."

Wir haben immer mehr zu verlieren

Jenseits der Vertrauensfrage – die steigenden Aufwendungen der Bevölkerung für Versicherungsleistungen sind ein Zeichen dafür, dass die Unsicherheit, die Unsicherheiten zunehmen. Paradoxerweise rührt das daher, dass es uns – im Großen und Ganzen – immer besser geht. Wir können einfach mehr verlieren. Oder lasse ich mich da zu sehr verunsichern? Wie schlimm ist es wirklich? Michael Markus:
"Dass jeder selbst seines Glückes Schmied ist und dass das mit dem Generationenvertrag nicht mehr funktioniert, haben wir alle mal mitbekommen."
Michael Markus sagt, dass er für sich selbst gar nicht so viele Policen abgeschlossen hat. Was hilft wirklich gegen die Unsicherheiten des Lebens? Der Versicherungsprofi denkt nicht lange nach:
"In meinem Leben gibt mir die Family Sicherheit. Das Gefühl zu haben, dass jeder für den anderen da ist – es gibt nichts Besseres!"
Autor: "Das kann man aber auch nicht versichern?"
"Das kann man nicht versichern, das kann man nicht kaufen, dafür gibt es kein Produkt", sagt der Versicherungsmakler.
Ein Mann steht vor einem Bürogebäude.
Georgios Kolliarakis: "Da wir im Wohlstand leben, haben wir mehr zu verlieren und deswegen versuchen wir den Wohlstand zu konservieren."© Heiner Kiesel
"Wir stehen vor dem Ehrenmal der Bundeswehr. Dieses Ehrenmal symbolisiert eine Art von Unsicherheit, die mit militärischen Mitteln an physischen Außengrenzen verteidigt wird. Davon haben wir uns verabschiedet. Solche bewaffneten Konflikte gibt es durchaus immer noch. Allerdings sind solche Konflikte nicht in erster Linie die Faktoren, die in Deutschland und sonst in Europa für Unsicherheit sorgen", sagt Georgios Kolliarakis.
Das Ehrenmal der Bundeswehr ist ein spartanischer Bau aus Stahlbeton auf dem Gelände des Verteidigungsministeriums. Errichtet im Gedenken an über 3000 Bundeswehrangehörige, die im Dienst umgekommen sind.
"Ich bin Politikwissenschaftler und habe mich auf dem Gebiet der internationalen Politik und Sicherheit spezialisiert."

Neue Quellen der Unsicherheit

Kolliarakis forscht für die Deutsche Gesellschaft für Außenpolitik. Er stellt fest, dass sich die Sicherheitslage in den vergangenen Jahrzehnten stark gewandelt hat – weg von den mehr oder weniger konkreten Gefahren der Vergangenheit hin zu den schwer greifbaren Unsicherheiten der Gegenwart.
"Das sind omnipräsente Unsicherheiten, die nicht immer sichtbar sind. Sie sind nicht so leicht aufzudecken, wie zum Beispiel eine Armee, die vor den Außengrenzen wartet und dabei ist einen Angriff zu bewältigen. Das ist auch ein Thema, das die Innenpolitik mit der Außenpolitik und der Verteidigungspolitik sehr eng verbindet."
Cyberangriffe, Sabotageakte auf kritische Infrastrukturen, Selbstmordattentate. Alles hängt mit allem zusammen, alles wird unsicher und der Einzelne fühlt sich dem immer weniger gewachsen. Georgios Kolliarakis:
"Vergessen wir auch nicht, dass Gesellschaften, die deutsche und die meisten anderen europäischen Gesellschaften, älter und konservativer werden. Konservativ nicht im parteipolitischen, sondern im ursprünglichen Wortsinn. Da wir im Wohlstand leben, haben wir mehr zu verlieren und deswegen versuchen wir den Wohlstand zu konservieren."
Und bei der Wahl der Mittel, die Lage in den Griff zu bekommen, geht man auch lieber auf Nummer sicher und verlässt sich auf erprobte und vorhandene Denkmuster und Instrumente. Stärke, Kontrolle, keine Experimente: Polizei, Militär, der eingespielte Behördenapparat. Kolliarakis kritisiert, dass es politischen Entscheidern oft schwerfällt, neue Wege zu gehen. Wenig Denken "out of the box":
"Das ist bei uns Experten auch als Hammer-Nagel-Bias bekannt. Das heißt, wenn jemand einen Hammer besitzt, dann sehen alle Probleme aus wie Nägel. Das führt dazu, dass sehr viele unerwünschte und schädliche Nebenwirkungen entstehen."

Das Sicherheitsparadox

Die Lage ist am Ende häufig unsicherer als zu Beginn. Das war beim atomaren Wettlauf so und bei der Destabilisierung des Mittleren Ostens durch westliches Militär. Georgios Kolliarakis spricht hier von einem Sicherheitsparadox: Mehr Unsicherheit durch Sicherheitsmaßnahmen.
"Es gibt auch weitere Facetten dieses Sicherheitsparadoxes. Wenn im Alltag bewaffnete Soldaten auf dem Bahnsteig stehen, um den Schutz vor potenziellen terroristischen Angriffen zu erhöhen – das kann manchmal eine sinnvolle Maßnahme sein – allerdings hat das oft die Nebenwirkung, dass die Bürgerinnen und Bürger, die so was beobachten, sofort das Signal bekommen, dass etwas los ist, dass da etwas nicht normal läuft und dadurch fühlen sie sich nicht sicherer, sondern unsicherer."
Es ist ein eingespielter Reflex, auf Unsicherheit mit Sicherheits- und Kontrollmechanismen zu reagieren. Und die Menschen lassen sich einiges bieten, wenn es ihnen Abhilfe gegen Unsicherheit verspricht. In Deutschland hat sich das zuletzt in den hohen Zustimmungsraten gezeigt, wenn es um die Einschränkung von Freiheitsrechten zur Pandemiebekämpfung ging.
Das war auch die Zeit, in der sich so etwas wie Achtung mischte in die Beurteilung von repressiven Staatsführungen, die die Ansteckung effizient bremsten. Ist es vielleicht besser, unfrei zu sein, als unsicher? Die Antwort des Wissenschaftlers:
"In der Volksrepublik China können Bürgerinnen und Bürger wissen, dass die Einschränkung des Internets keine gute Sache ist, allerdings haben sie gleichzeitig ein hohes Vertrauen, dass die Regierung vertritt und beschützt. Und das wird dann als erfolgreiche Bekämpfung von Unsicherheit wahrgenommen. Deswegen gibt es auch eine relativ große Akzeptanz solcher Regimes."
Autor: Was sehen Sie denn bei uns widergespiegelt?
"Die Bürgerinnen und Bürger vertrauen sehr den Behörden und dem Staat – vergleichsweise, deswegen sind sie auch bereit, viele politische Maßnahmen zu akzeptieren."

Dem Gefühl mit mehr Offenheit begegnen

Der Handel Freiheit für Sicherheit ist natürlich nur eine Möglichkeit, mit Unsicherheit fertig zu werden. Wahrscheinlich nicht die beste und eine bei der die Gesellschaft auf Dauer wahrscheinlich immer verliert. Denn nichts ist so sicher wie die nächste Unsicherheit. Zum Verzweifeln, oder?
Aber das hat auch sein Gutes, meint der Anthropologe Christoph Wulf, Professor an der Freien Universität zu Berlin.
"Das ist eben so, dass man bei bestimmten Entscheidungen, wo es eine Ambivalenz gibt, keine Sicherheit haben kann. Das ist ja auch das, was wir im Augenblick erleben, dass bestimmte Gruppen immer wieder genau verlangen, die Regierung soll doch sagen, wo es langgeht und wie es langgeht. Aber man weiß es einfach nicht und da liegt eine Spannung. Das ist eine Haltung, die finde ich auch gefährlich, dass man nicht mehr bereit ist, auch mit der positiven Seite des Unsicheren zu leben."
Es klingt erst mal paradox, aber die Unsicherheit des modernen Lebens haben wir uns erst mühsam erkämpft. Gehen wir zurück in die Zeit vor der Aufklärung. Da war der Alltag der Menschen bestimmt unsicherer als unserer heutzutage. Aber die großen Fragen – wer bin ich, was ist meine Aufgabe, was kommt danach –, die großen Fragen waren alle schon geklärt, dafür hatte die Feudalherren und die Kirche umfassend gesorgt.
Dann kamen die Ideen von Vernunft, Freiheit, Fortschritt und damit das Nebeneinander von Lebensentwürfen, die individuelle Vielfalt und die Unsicherheit sich zwischen all dem entscheiden zu können. Anthropologe Christoph Wulf:
"Das Entscheidende ist, dass man Unsicherheit nicht nur negativ konnotiert, sondern sich klarmacht, das ist eine Grundbedingung menschlichen Lebens, die auch einen Reichtum ermöglicht, die die Vielfalt ermöglicht, die Unterschiedlichkeit. Die uns auch die Freude am spontanen Handeln und Gestaltung unseres eigenen Lebens ermöglicht und von daher würde ich gerne auch immer dafür plädieren, diese Seite der Unsicherheit zu sehen und nicht immer sie zu beklagen. Man kann Freiheit nicht haben, wenn man nicht bereit ist auch ein gewisses Maß an Unsicherheit in Kauf zu nehmen."

Die Unsicherheit schätzen lernen

Unsicherheit als Chance wahrnehmen – Wulf plädiert energisch dafür. Aber es bedarf noch einiger Anstrengung, bis das wirklich funktioniert. Es könnte helfen, stellt sich der Anthropologe vor, den Umgang mit Unsicherheit über das Bildungssystem zu vermitteln – so etwas wie die Kompetenz Unsicherheit zu schätzen, ein Gefühl dafür zu entwickeln, dass es ganz okay ist, nicht alles wissen zu können, Strategien zu entwickeln, um sie auszuhalten. Mehr Kommunikation über dieses faszinierende Gefühl der Unsicherheit. Damit hat jeder Erfahrung.
"Ich bin mir ganz sicher, dass Macken, oder auch Rituale uns ein großes Gefühl von Sicherheit geben, von Kontrolle. Man spricht ja auch von Kontrollzwängen, weil man Dinge kontrollieren will, um sich selber sicherer zu fühlen."
Es wirkt wie die Übersetzung von Gesellschaftspolitik ins Private was Sandra Winkler, Journalistin und Buchautorin über sich erzählt. Der Reflex mit Kontrolle auf die Unsicherheiten des Lebens zu reagieren, wie Maßnahmen gegen ein Gefühl helfen, auch wenn sie sachlich verfehlt sind. Ihre Macken-, Winkler hat ihnen ein Buch gewidmet. Es sind viele.
"Und man rückt Sachen gerade und Schuhe dürfen nicht auf Schnürsenkeln stehen und Jacken nicht an Kapuzen aufgehängt werden und große Sachen liegen nicht auf kleinen. Kleine Sachen liegen auf großen! Das ist für mich Voraussetzung für das Wohlgefühl."
Was sie von sich erzählt, ist eine krassere, bizarrere Version von dem, was jeder so im Kleinen betreibt, damit der Alltag einen Anschein von Berechenbarkeit, Sicherheit bekommt und die chronische Unsicherheit darin gebändigt wird. Da ist der duftende Kaffee am Morgen, der aber unbedingt die richtige Menge Milch enthalten muss, die Aussicht auf die Zigarette zum Feierabend. Egal wie ungewiss die Situation, es findet sich ein Weg.
"Wir fühlen uns ja alle immer unsterblich und hoffen, dass wir noch lange, lange leben werden, und dann ist es mir im vergangenen Jahr passiert, dass ich schwer erkrankt bin. Ich habe dann gedacht, na, mal kucken, was da mit meinen Kontrollzwängen da passiert, weil ich war ja sehr verunsichert. Tatsächlich kamen sie ein bisschen mehr zurück. Ich war ja schon mal besser im Fußmattengeraderücken bei den Nachbarn und so.
Und dann, mit der Krankheit habe ich gemerkt, dass ich mich auf so Sachen konzentriert habe, wie: Ich will um elf Uhr abends im Bett liegen und noch 20 Minuten fernsehen auf dem Laptop, mit meinem Freund zusammen und da habe ich mich den ganzen Tag so dran festgehalten. Ich hatte oft so Ängste tagsüber und dann habe ich gedacht, aber, wenn ich dann heute Abend um elf, wenn wir dann im Bett liegen, die Kinder schlafen und wir kucken noch diese 20 Minuten, dann geht es mir wieder gut!"

Macken und Rituale als Sicherheitsleinen

Sandra Winkler hat oft darüber nachgedacht, ob vielleicht ihr Leben ohne Macken, schöner wäre, kompatibler für ihr Umfeld. Aber:
"Ich gehe verloren. Das, was mich ausmacht, würde ich ja dann wegradieren. Und irgendwie finde ich, dass alle Macken, die wir haben, doch total spannend sind."
Und das trifft wohl auch auf die Ungewissheiten im Leben zu, die Unsicherheit, die zu Entscheidungen herausfordert und dafür sorgt, dass es aufregend bleibt.
"Ich weiß nicht, ob sie ein Fan des Films ´Lola rennt` sind. Das fanden ja alle so toll, weil – nicht nur wegen Schauspielerin und Regisseur – das war ja einfach mal toll, weil da jemand gekuckt hat und die Frage beantwortet hat, was passiert, wenn ich mich in die Richtung entscheide und was passiert, wenn ich mich in jene Richtung entscheide. Das ist ja das, was wir dauern durchspielen.
Ich meine, der Gang zum Supermarkt kann mein Ende bedeuten, weil mich ein Auto umfährt, vielleicht bleibe ich lieber zuhause. Dann überlege ich schon, wenn ich mich so entscheide, dann könnte mich das in ein paar Jahren dorthin führen, oder anders bin ich in zwei Jahren hier. Das kann man als Unsicherheit nehmen, aber man kann es auch Herausforderung nennen."

Autor: Heiner Kiesel
Sprecher: Marian Funk
Regie: Roman Neumann
Technische Realisation: Christoph Richter
Redaktion: Constanze Lehmann

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