Leben mit dem Terror

"Nigerianer sind aufgeschlossen, unbefangen, neugierig"

Moderation: Ute Welty · 21.05.2014
Eine gewisse Bedrohung verspüre er schon, sagt Arzt Matthias Göbel. In seiner derzeitigen Heimat Abuja, der Hauptstadt Nigerias, wagt er sich aufgrund der Terroranschläge von Boko Haram nicht mehr auf große Märkte. Insgesamt sei Gewalt aber alltäglicher als in Europa.
Ute Welty: Es ist nicht das erste Mal, dass Nigeria sich brutal in die Schlagzeilen drängt: Nach wie vor haben eben die Islamisten von Boko Haram mehr als 200 Mädchen in ihrer Gewalt. Wie sehr fühlt man sich in Nigeria durch Boko Haram bedroht? Darüber habe ich vor dem Anschlag mit Matthias Goebel gesprochen. Der deutsche Arzt arbeitet an einem privaten Krankenhaus in der nigerianischen Hauptstadt Abuja. Und ich habe ihn gefragt, ob er sein Leben als gefährlich oder gefährdet empfindet.
Matthias Goebel: Ja, um die Frage zu beantworten, denke ich, muss man sehen, dass ich ja hier in einem Land lebe, in einem Land Gast sein darf, was 150 Millionen Einwohner hat, ein sehr großes Land ist, und dass es eine verschwindend geringe Menge an Bewohnern in diesem Land ist, die das Land mit Terror überziehen. Die meisten Nigerianer sind ganz aufgeschlossen, unbefangen, neugierig und machen sich genauso Sorgen wie jeder andere, der in diesem Land lebt. Also um die Frage zu beantworten: Man fühlt sich ... Also man weiß ja, wo man lebt – ich bin ja hier nicht zwangsweise, sondern freiwillig. Ich weiß ein bisschen, auf was ich mich einlasse. Aber durch die jüngsten Vorgänge fühlt man sich ein ganz kleines bisschen in seiner Bewegungsfreiheit doch eingeschränkt, ja.
Welty: Was trauen Sie sich denn und was trauen Sie sich nicht mehr? Was lassen Sie lieber bleiben an einem Mittwochmorgen wie heute zum Beispiel?
Vorsicht auf Märkten und mit öffentlichen Verkehrsmitteln
Goebel: Reden wir lieber vom Wochenende, weil mein Arbeitspensum so dicht ist, dass ich also in meinem Krankenhaus mittwochsmorgens bin. Aber am Wochenende beispielsweise fahre ich mit Kollegen Fahrrad hier in der Stadt und im Busch um die Stadt herum, in der Prärie, sagen wir mal, wir fahren Mountainbike, wir gehen wandern, wir haben ganz viel Kontakt mit der einheimischen Bevölkerung, was, wie gesagt, also immer ein ganz tolles Erlebnis ist. Was ich jetzt im Moment nicht mehr so machen würde, ist, mich auf großen afrikanischen Märkten zu bewegen um Klamotten zu kaufen oder um Gemüse oder irgendwas für die Küche einzukaufen, und auch mit öffentlichen Verkehrsmitteln fährt man im Moment ungern.
Welty: Wie schützen Sie sich aktiv, wie schützen Sie Ihre Familie?
Goebel: Also in Nigeria leben die Menschen, anders als in Deutschland, in den Städten geschützt hinter Mauern. Das hat gar nichts damit zu tun, dass man Ausländer ist, sondern alle Nigerianer, die in Städten sich ein Haus bauen, haben eine Mauer drum rum. Viele schließen sich zusammen zu sogenannten Camps oder Estates oder Compounds, wo dann viele kleinere Häuser sind, so wie unsere Reihenhaussiedlung, sagen wir mal, nur etwas einfacher und afrikanischer, aber drum rum ist eine Mauer, und es gibt einen Eingang, wo die ganze Zeit ein Wachmann sitzt und immer guckt, wer da rein und raus geht. Und in so einer Anlage lebe ich, genauso wie die nigerianischen Einwohner von Abuja auch, und diese Anlage ist halt geschützt und bewacht.
Welty: Wie hat sich das Leben ihrer nigerianischen Kollegen, wie hat sich das Leben ihrer nigerianischen Patienten verändert seit der Entführung?
Goebel: Also ich glaube, ... Also man redet darüber. Mit meinen Patienten rede ich relativ wenig über die politische Situation, weil die haben ja nun andere Probleme, warum sie zum Arzt kommen. Ich habe ein paar nigerianische Ärzte, mit denen ich aus dem Süden des Landes –, dass sie im Moment keine große Lust hätten, in den Norden oder sogar in den Nordosten des Landes zu reisen, in die Gegend, wo Boko Haram ja überwiegend aktiv ist.
Welty: Fühlen sich die Menschen, vor allem die Angehörigen der entführen Mädchen, ausreichend unterstützt von der Regierung zum Beispiel?
Man wirft dem Staat vor, zu schwach zu sein
Goebel: Also was man in den Zeitungen liest, nicht. Ich war neulich zufällig Zeuge, wie in Abuja eine Mütterabordnung – das waren wohl einige Mütter von entführten Mädchen –, die bei der Zufahrt zu der Nationalversammlung, also vor dem nigerianischen Parlament eine ganz kleine Demonstration gemacht haben, so mit Plakaten. Die wurden auch in Ruhe gelassen von den Ordnungskräften, die konnten da also demonstrieren. Und was man so in der Zeitung liest und was man ja auch bei uns in den Medien oder bei Ihnen in Deutschland liest, ist, dass man dem Staat vorwirft, zu schwach zu sein und nicht entschlossen genug einzugreifen, um diesen terroristischen Akten Widerstand zu leisten und um das einzudämmen.
Welty: In Paris findet ein Krisengipfel statt, in Cannes solidarisiert sich die reMädchen wurde ins Leben gerufen. Inwieweit spielt das in die nigerianische Berichterstattung hinein? Inwieweit wird überhaupt über die Entführung berichtet?
Goebel: Ja, also ich bin jetzt kein enger Beobachter der afrikanischen oder der nigerianischen Presse. Wir haben hier in der Klinik Zeitungen liegen, da fällt mal mein Blick auf die Titelseite, aber ... Ich meine, die Menschen hier in Nigeria leben ieinem weniger friedlichen Umfeld, völlig unabhängig von Boko Haram, als wir in Europa. Es gibt ja nun jede Menge Stämme hier und Dialekte, und da gibt es durchaus mittelalterliche blutige Fehden, wo also Dörfer sich befehden und durchaus auch mit Schusswaffen sich gegenseitig überfallen, sodass insgesamt die Wahrnehmung von Gewalt hier oder sagen wir mal die Schwelle, was man jetzt als Gewalt, als besondere Bedrohung ansieht, sicherlich eine ganz andere ist als in der europäischen Wahrnehmung.
Welty: Sie leben seit Jahren in Nigeria und haben sich – Sie haben es eben noch mal betont – irgendwann aus freien Stücken dazu entschlossen, diesen Schritt zu wagen. Was hat Sie dazu bewogen, wo lag die Faszination für dieses Land?
Goebel: Ja, einerseits ist es eine Abenteuerlust, mal aus der deutschen Routine auszubrechen als Arzt, zum anderen habe ich drei Kinder, denen möchte ich gerne zeigen, dass in anderen Teilen der Welt die Menschen mit ganz anderen Problemen geschlagen sind und mit weniger materiellen Dingen groß werden. Ja, es war eine ganz private Entscheidung, die wir in der Familie getroffen haben, dass wir für eine begrenzte Zeit mal ein solches Abenteuer einfach wagen.
Welty: Der deutsche Arzt Matthias Goebel arbeitet in der nigerianischen Hauptstadt Abuja und hat mit uns über seine Erfahrungen und über die Bedrohung durch Boko Haram gesprochen.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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