Leben in der Modellstadt

19.09.2008
Die 18-jährige Marie will sich vor dem Angepasstsein und der Normalität ihrer Mitschüler und "Altphilologen"-Eltern retten. Sie macht sich deshalb auf in die Modellstadt Archenau. Dort will sie ihre Zukunft bauen. Doch sie bleibt nicht lange.
Archanu, Morgenstadt, das ist das Ziel von Marie. Kurz vor dem Abitur bricht sie die Schule ab, um nach Archanu zu gehen. In Morgenstadt soll die Zukunft gebaut werden, in einem religiösen und sozialen Utopia leben dort Menschen aus aller Welt zusammen. Sie wollen den buddhistischen Lehren des "Gründers" folgen und eine Lebensgemeinschaft ohne Eigentum, ohne Klassen, ohne die falschen Traditionen und das falsche Bewusstsein der alten Welt aufbauen. Marie kommt nach Archanu, aber was sie dort erlebt, lässt sie schon nach wenigen Tagen aus dem Zukunftsort flüchten.

Das "Archanu" des Romans hat ein reales Vorbild, Auroville im Südosten Indiens, Ulla Lenze hat dort drei Monate gelebt. Auroville ist eine Experimentalstadt, die 1968 mit Unterstützung der Unesco und der indischen Regierung begründet wurde. Im Gründungsstatut heißt es, Auroville sei ein Ort, der niemandem im Besonderen, sondern der ganzen Menschheit gehört. Aber: Wer in Auroville leben wolle, müsse bereit sein, dem "göttlichen Bewusstsein" zu dienen. Heute bewohnen etwa 2000 Menschen, darunter viele Franzosen und Deutsche, die ursprünglich für 50.000 geplante Musterstadt. Es gibt immer wieder Konflikte zwischen den vergleichsweise wohlsitutierten westlichen Aurovillanern und der tamilischen Bevölkerung ringsum, zuletzt sind diese Auseinandersetzungen im Mai 2008 eskaliert.

Diese Konflikte bestimmen auch die Handlung von Ulla Lenzes Roman. Zwischen der Sekten-Stadt Archanu und den indischen Siedlungen liegt ein karges Niemandsland, das in rascher Fahrt durchquert werden muss. Die Einheimischen verachten die reichen Religionstouristen, die Morgenstädtler halten ihre lokale Dienerschaft für notorische Diebe. Kurz nach Maries Ankunft in der Musterstadt wird tatsächlich ein Junge bei einem Diebstahl erwischt und öffentlich gedemütigt. Der Junge bringt sich um, eine Revolte der Einheimischen gegen Archanu bricht los. Der Haupttempel wird angegriffen, es gibt Gerüchte, das Trinkwasser könnte vergiftet werden. Die interne Sicherheitstruppe der Morgenstädtler, eine Art Sektenpolizei, muss hart durchgreifen, um die Revolte aufzuhalten. Marie gerät mitten hinein in diesen Aufruhr und verlässt Archanu wieder, ohne überhaupt die Initiationsriten durchlaufen zu haben.

Maries Erlebnisse in Archanu bilden den äußeren, nur sparsam ausgestaltenen Rahmen des Romans. Im Zentrum steht ein unablässiges Zwiegespräch zwischen der 18-Jährigen und einem Sektenberater, der sie von der Reise nach Morgenstadt abbringen soll. Dieser Günther Ganto vom "religionsunabbhängigen Büro für Weltanschauungsfragen" ist ein ehemaliger Jesus-Freak, der sich zum professionellen Atheisten gewandelt hat.

Durch seine Vergangenheit versteht er aber sehr wohl, was junge Menschen an radikalen religiösen Weltentwürfen anziehen kann. Während er mit Marie über ihre Reise nach Archanu streitet, entwickelt sich ein Einverständnis zwischen den beiden, das immer stärker einer Liebesbeziehung ähnelt. Ob die Liebe zwischen Marie und dem mehr als doppelt so alten Ganto eine Chance hat, das wird zum eigentlichen Spannungsmoment des Romans. Der Weltanschauungsstreit zwischen den beiden ist bald nur noch ein Vorwand, um sich näher aneinander heran zu reden.

Die Ereignisse in Archanu, die Liebesgeschichte zwischen Marie und dem Sektenberater Ganto, diese beiden Handlungsebenen treiben Ulla Lenzes Roman parallel voran. Sie hat mit diesem Buch die alte Form des Briefromans wieder belebt, allerdings in einer eigenwilligen Form: Marie schreibt im Kopf unablässig Briefe an Ganto, die sie jedoch nie abschickt, und sie erfindet immer neue Antworten von ihm. Dieses dialogische Prinzip verschafft dem Roman einen klaren und zupackenden, direkten und frischen Ton. Enttäuschend ist an diesem Roman allein, dass Maries Erfahrungen in Archanu und alle weltanschaulichen Auseinandersetzungen am Ende nur als Folie für eine absehbare Liebesgeschichte dienen.

Rezensiert von Frank Meyer

Ulla Lenze: Archanu,
Roman, Ammann Verlag, Zürich 2008,
235 Seiten, 19,90 Euro