Leben im Berliner Wagendorf "Pankgräfin"

Natur, niedrige Wohnkosten und menschliche Nähe

Blick aus einem Bauwagen der Familie Madsen im Wagendorf Pankgräfin in Berlin-Karow
Keine Aussteiger - sondern Einsteiger in eine alternative Lebensform: Blick aus einem Bauwagen der Familie Madsen im Wagendorf Pankgräfin in Berlin © Deutschlandradio / Brigitte Schulz
Von Brigitte Schulz  · 11.07.2018
Susan und Klaus Madsen leben seit fünf Jahren im Wagendorf "Pankgräfin" in Karow, im Norden Berlins. Nach Burnout bei ihr und Herzinfarkt bei ihm entschieden sie sich, ihr altes Leben zu verlassen und gaben ihr Haus im bürgerlichen Zehlendorf auf.
"Es fing mit diesem einen an, den wir gebaut haben, dann war ich mit den Kindern drin erstmal, da wohnten die ziemlich lange zu viert drin, bis es am Eskalieren war. Dann hatten wir noch einen für die Kinder, ich weiß auch nicht, die Wagen, die kamen dann so."
Susan Madsen und ihr Mann Klaus wohnen seit fünf Jahren im Wagendorf Pankgräfin – zusammen mit ihren sieben Kindern. Davor lebten sie in Berlin-Zehlendorf, einem bürgerlichen Viertel mit Einfamilienhäusern und Gärten vor der Tür.

"Wahnsinnig anstrengend, wahnsinnig"

Als Dänin arbeitete Susan jahrelang für die dänische Botschaft. Doch nach zwei Burnouts beschloss sie, ihr Leben komplett zu ändern. Sie wollte raus aus der Stadt, rein in eine sozialere Gemeinschaft – die Wagenburg erschien ihr dafür ideal:
"Was wahnsinnig anstrengend war und wahnsinnig positiv, dass man am Feuer abends oder auch tagsüber drei wertvolle Gespräche geführt hat. Da gibt es eine andere Offenheit darüber, wie schlecht es einem geht oder wie gut es einem geht, das ist in der anderen Gesellschaft draußen, da wird nicht wirklich drüber geredet, was einen bewegt. Ich habe über 20 Jahre in Zehlendorf gewohnt und auch diese Botschaftsgeschichte gemacht und ich hatte einfach keine Lust mehr, Prosecco zu trinken und mir anzuhören, wie schlimm der Urlaub in der Provence war."

Von allem Ballast getrennt

Ihrem Mann ging es genauso. Nach einem Herzinfarkt wollte er sich auf das Wesentliche konzentrieren. Sie kündigten ihr Haus in Zehlendorf, trennten sich von allem Ballast:
"Wenn ich das seltene Mal in einer Wohnung bin bei anderen Menschen, da wundere ich mich schon drüber, was die alle meinen, zu brauchen. Die brauchen Stauraum, die brauchen ganz viele Schränke, statt einfach die Sachen wegzutun, die sie nicht mehr brauchen, bauen sie noch einen Schrank. Deshalb habe ich auch meine Arbeit als Tischler aufgegeben, ich konnte das gar nicht mehr mit mir vereinbaren. Da hab ich einen Auftrag bekommen, sollt ich drei Schuhschränke bauen für so um die 800 Paar Schuhe, und ich habt damals den Auftrag noch angenommen, aber ich glaube, das war einer meiner letzten."
Klaus Madsen hat alle sieben Wagen selbst gebaut; auch die Inneneinrichtung ist aus Holz: ein bequemes Bett, ein Schreibtisch, Regale – jeder Zentimeter ist durchdacht. Es gibt sogar einen Fernseher und Computer. Klaus Madsen grinst, ja, sie hätten durchaus einen Hang zum Luxus. Die Familie besitze zwar wenig, das aber sei von hoher Qualität. Ein Bauwagen dient ausschließlich als Küche und Bad; es gibt eine Holzwanne und fließend Warmwasser. Eher eine Ausnahme, denn viele Wagenburgler holen sich ihr Wasser in Kanistern: Es gibt mehrere Gemeinschafts-Wasserhähne auf dem Platz. Die Madsens wissen ihren Luxus zu schätzen und teilen ihn darum mit andern: Öfter kommt jemand vorbei, um zu baden.

Hohe Heizkosten

Die Familie lebt von Susans Frührente. Statt Miete zahlen sie nur die Pacht für die Stellplätze.
"Wir zahlen 250 Euro im Monat, dann kommt noch Strom dazu und das Heizen, und das Heizen ist bei uns echt ne ganz schöne Position, aber wenn man es vergleicht damit, dass neun Leute irgendwo unterkommen zu müssen, das kann man gar nicht bezahlen. Das bedeutet, dass wir nicht so drauf angewiesen sind, so viel Einkommen zu haben, man hat nicht mehr diesen Druck."
Das Leben verläuft langsamer hier: Auf dem alten Plattenweg, der sich durch das Wagendorf zieht, spielen Kinder, Erwachsene sitzen auf Terrassen vor den Bauwagen, eine Frau mit zwei Eseln zieht vorbei. Zwischen den einzelnen Bauwagen wachsen Bäume und wuchernde Büsche, dahinter Gärten mit Obst und Gemüse: Erdbeeren, Äpfel, Tomaten und Aubergine.
Das Ehepaar Klaus und Susan Madsen vor ihrem Bauwagen im Wagendorf Pankgräfin in Berlin-Karow
Endlich wieder glücklich: Klaus und Susan Madsen im Wagendorf Pankgräfin© Deutschlandradio / Brigitte Schulz
Die jüngeren Kinder waren sofort begeistert, als die Familie ins Wagendorf zog – hier fanden sie schnell Freunde. Pelle ist mit seinen elf Jahren jüngste Familienmitglied:
"Find ich gut, die Bauwägen, kein Haus zu haben, Freiheit. Dass man nach draußen gehen kann. Beim Haus kann man nur in den Garten gehen, hier hat man halt mehr Freiheit. Man ist halt in einem Bauwagen, und in einem selbstgebauten."
Die Zwillinge Luise und Lino, damals 17 Jahre alt, waren anfangs skeptisch und lebten zunächst in einer Mietwohnung in der Nähe der Eltern. Als ihr Wagen fertig war, zogen auch sie ins Wagendorf. Die 22-jährige Luise wohnt mittlerweile in ihrem eigenen Wagen - zusammenmit ihrem Freund.
"Es hat schon eher Vorteile gegenüber einer Wohnung, es ist schon schön, ganz einfach in der Natur zu sein und dass man jeden Tag draußen ist – das Naturnahe ist schon sehr schön."

Gewöhnungsbedürftige Toilette

Für Luise hat das Leben im Bauwagen auch Nachteile:
"Ich hätte ihn wahrscheinlich anders gemacht, weil da viele Fenster drin sind und hier sind ziemlich viele Menschen immer unterwegs und da fühlt man sich schon ein ganz bisschen beobachtet- wäre mir lieber, wenn mein Wagen ein bisschen weiter wegstehen würde, weil man schon alles mitkriegt, wenn man drinsitzt, man hört alles, was draußen los ist und das ist machnachmal ein bisschen nervig."
Auch die Komposttoilette, die zu jedem Bauwagen gehört, sei gewöhnungsbedürftig, so Luise. Die befindet sich draußen und ist vor allem im Winter nichts für zart Besaitete:
"Ziemlich hart, wenn man da rausgehen muss auf die Toilette. Ja, ja, das hatten wir ganz oft, dass wir morgens den Atem gesehen haben, so kalt war das, weil es halt über Nacht abkühlt, wenn man nicht aufsteht, um dann nachzulegen im Ofen, das dauert schon 1-2 Stunden, bis es angenehm richtig warm wird, wenn es kühl war."
Luises Zwillingsbruder Lino ist das alles zu unbequem. Er befindet sich zurzeit auf einer Weltreise und will später wieder in einer Wohnung leben.
Jeden zweiten Sonntag geht Familie Madsen zum Brunch ins Gemeinschaftscafé: etwas dunkel, aber gemütlich mit alten Sofas und Holztischen eingerichtet. Kinder spielen Verstecken, ihre Eltern genießen das üppige Buffet, das mit Spenden finanziert wird. Auch Gäste sind willkommen, denn die Bewohner der Pankgräfin wollen sich nicht nach außen hin abzuschotten.

Heiß begehrte Stellplätze

Das Café ist nur eines der Gemeinschaftsprojekte, die das legale Wohnen hier erst ermöglichen, denn so gilt das Wagendorf als "Sondernutzungsfläche mit experiementellem Charakter". Wer nämlich ansonsten dauerhaft in einem Bauwagen leben möchte, braucht eine Baugenehmigung und unterliegt strengen Standards – auch, wenn das Eigenheim auf Rädern steht. Deshalb sind die 70 Stellplätze im Wagendorf Pankgräfin heiß begehrt – vor allem, seit die Mieten in Berlin so horrend steigen:
"Das merkt man an den Anfragen, wo dann jemand vorbeikommt und fragt, wie kommt man eigentlich hierher auf den Platz und man dann leider sagen muss, da gibt es keine Plätze mehr und das Aufnahmeverfahren ist hochkompliziert hier, es ist langwierig. Die Gemeinschaft muss auch ja sagen, dass man diese Leute haben will."
Die soziale Gemeinschaft ist das Ziel, nicht eine billige Unterkunft. Deshalb gibt es für jeden Neuankömmling auch eine Probezeit von sechs Monaten. Die Menschen, die hier leben, sind Angestellte, Akademiker und Künstler, aber auch Langzeitarbeitslose.
"Wichtig ist auch, dass Menschen mitgetragen werden, die es nicht so gut selber können, die es draußen überhaupt nie schaffen würden. Wenn irgendjemand seine Pacht nicht zahlt über längere Zeit, dann wird das nicht so angegangen, jetzt schmeißen wir ihn aber raus oder jetzt kriegt er die Kündigung. Das wird zwar pro forma geschrieben, aber eigentlich tut man sich zusammen und überlegt, was können wir da machen, braucht derjenige Hilfe, und das ist auch meistens so. Es gab einen, der hatte Depressionen, der hatte das Geld da, der hat es einfach nicht fertiggekriegt, das nach vorne zu tragen, es gibt immer eine Klärung für alles."

Alte Nachbarn mitunter schockiert

Dieses neue Leben in der Gemeinschaft hat jedoch die Verbindungen zum alten Leben gekappt. Zu Freunden von früher haben die Madsens kaum noch Kontakt. Eine Nachbarin aus Zehlendorf zeigte sich nach einem Besuch sogar richtig schockiert:
"Die rief mich drei Tage später an und hat geweint am Telefon, das wäre ganz schlimm, dass ich so abgestürzt wäre, dass ich jetzt hier wohnen müsste. Ich dachte, du hast keine Ahnung, du gehst jeden Tag arbeiten dafür, dass ihr eure Miete zahlen könnt, ihr komplettes Gehalt ist in die Miete geflossen. Also, wir leben hier im Paradies, mitten im Grünen, beste Lage in Berlin."
Das haben sich auch die Punks gedacht, die direkt gegenüber eine zweite Wagenburg errichtet haben. Illegal. Sie leben in improvisierten Wagen aus Holz oder Blech, auf dem Gelände türmt sich der Müll. Besucher sind dort unerwünscht, Journalistinnen sowieso.
"Mein persönliches Verhältnis zu den Punks drüben ist gut, ich kenne auch viele da und ich mag sie, und dann gibt es noch Gazastreifen, das ist zwischen Punks und uns, das ist auch so ein illegales Gelände, da sind all diejenigen, die sie an den Rand gesetzt haben, weil die irgendwen Bezug hier zum Wagendorf hatten."
Viele Punks nennen das legale Wagendorf "die Wagenburg der Spießer". Susan Madsen zuckt mit den Schultern. Sie stört das wenig, denn für sie funktioniert diese Art der Gemeinschaft. Seit 20 Jahren ist die Pankgräfin ein eingetragener Verein. Für viele ist es eine Lebensphase, andere möchten hier immer leben. Natur, niedrige Wohnkosten und menschliche Nähe sind die großen Vorzüge. Wer eher Wert legt auf Distanz und einen gepflegten Vorgarten, sollte lieber die Finger von dieser Wohnform lassen: Spießer leben hier gewiss nicht.
Mehr zum Thema