Leben im Alter

Raus aus den Heimen

Klaus Dörner im Gespräch mit Katrin Heise · 02.12.2013
Ob in der eigenen Wohnung, in einer Wohngruppe oder Gastfamilie: Es gibt für alte und demente Menschen Alternativen zum Pflegeheim, meint der Sozialpsychiater Klaus Dörner. Die Bereitschaft der Bürger, sich zu engagieren, sei zudem größer als gedacht.
Katrin Heise: Die Rückkehr der Alten und Dementen in die Mitte der Gesellschaft, die liegt dem Psychiater Klaus Dörner besonders am Herzen, und er hat schon einmal unter Beweis gestellt, dass sich Dinge, die andere Menschen für gegeben halten, auch durchaus verändern lassen. In den 1980er-Jahren gelang es ihm – er war damals ärztlicher Leiter der Westfälischen Landesklinik für Psychiatrie in Gütersloh –, es gelang ihm, alle 435 Langzeitpatienten in Wohngruppen oder in ihrer Familie unterzubringen. Und nun gilt sein Engagement also den alten Menschen.
Wir erreichen Klaus Dörner in Gütersloh, wo heute anlässlich seines 80. Geburtstages ein Symposion stattfindet. Herr Dörner, ich grüße Sie, schönen guten Tag!
Klaus Dörner: Guten Tag!
Heise: Immer mehr Alte und pflegebedürftige Menschen wird es in unserer älter werdenden Gesellschaft ja geben. Sie engagieren sich dafür, dass die nicht in Heimen leben. Es ist ja heute so, dass die meiste Pflege tatsächlich zu Hause von Angehörigen geleistet wird, die aber davon häufig komplett überlastet sind. Wie stellen Sie sich das vor – weniger Heime?
Dörner: Also, Sie haben das ja netterweise eben gesagt, dass es mir ja schon mal gelungen ist mit unserem Team, im Kreis Gütersloh sämtliche Heimplätze für psychisch Kranke und geistig Behinderte, ich sag mal, überflüssig zu machen.
Heise: Was man natürlich auch nicht für möglich gehalten hätte.
Dörner: Was man nicht für möglich gehalten hätte, was aber dann innerhalb von 17 Jahren dann doch gelungen ist. Und jetzt haben wir schon erzählt, dass mir jetzt mehr die alterspflegebedürftigen und dementen Menschen auf der Seele liegen. Weil deren Heimsystem ist ja noch sehr viel größer als das Behindertenheimsystem. Insofern ist auch die Aufgabe interessanter und lohnender, mal zu gucken, wie viel man für die Alten und Pflegebedürftigen und Dementen an Heimkapazität überflüssig machen kann. Weil das Heim immer nur die beste Lösung ist,das pfeifen die Spatzen schon seit 100 Jahren von den Dächern, ohne dass sich dadurch was ändert. Aber an die Aufgabe müssen wir halt ran.
Heise: Die alten Menschen wollen ja meistens auch gar nicht unbedingt im Heim leben, und, wie gesagt …
Früher gingen die Alten "gern ins Heim, weil sie sich eine Alternative nicht vorstellen konnten"
Dörner: Richtig, das ist aber neu. Früher gingen sie ganz gern ins Heim, weil sie sich eine Alternative nicht vorstellen konnten. Jetzt können sie sich inzwischen aber eine Alternative vorstellen, sei es in der eigenen Wohnung, sei es in einer Wohngruppe, sei es in einer Gastfamilie – es gibt also diverse Alternativen dazu. Und wenn sie das wüssten alle, dann würden sie das auch wählen und dann würde das mit den Heimen schnell weniger werden. Und wir beide unterhalten uns ja deswegen, damit die alten Menschen das schneller wissen, was es für Alternativen gibt.
Heise: Ich würde sagen, auch nicht nur die alten Menschen, sondern auch die – beispielsweise ihre Familien, ihre Angehörigen oder, wie sie sagen, Gastfamilien von der Möglichkeit, einen alten Menschen aufzunehmen, erfahren, denn bisher reagieren Familien vielleicht doch eher mit Sorge, dem Alter der Eltern gegenüber, denn die flexible, mobile Gesellschaft lebt ja zum Beispiel oft gar nicht bei den Eltern. Wie dann?
Dörner: Ja. Das ist so ein Mediengeheimnis, weil immer liest man oder hört man, dass die Menschen doch alle so furchtbar gestresst sind und mobil sind und immer nur an sich denken können. Wenn man dann aber mal um sich guckt in die Wirklichkeit, ist das eigentlich Erstaunliche, in einem wie großen Prozentsatz, Sie haben es eben ja auch schon angedeutet, die Familien, ohne viel zu fragen – sie werden überrascht davon, dass plötzlich ein Familienmitglied anfängt zu spinnen und dement wird und verwirrt wird oder so was Ähnliches, und dann machen sich die Leute einfach an die Arbeit und lernen ganz neu, was sie noch nie gemacht haben, wie man alte Menschen pflegt. Und dass das in einem so großen Prozentsatz gelingt, also man sagt, so 70 Prozent, ist erstens mal in Deutschland – in Europa liegen wir da eher in der Spitzengruppe.
Aber auch für Deutschland gesehen ist das etwas unglaublich Erstaunliches, weil das gegen alle öffentlichen Vorurteile verstößt. Die Familien als Ganzes sind natürlich immer Familien, die objektiv völlig verhindert sind oder das aus anderen Gründen nicht wollen, aber dass ein so großer Prozentsatz die Möglichkeit für alte Menschen schafft, außerhalb von Heimen im familiären Verband oder zumindest in der Betreuung von Familien bis zum Ende ihres Lebens leben können, das ist schon – das begeistert mich total, das ist total aufregend.
Heise: Allerdings ein Ist-Zustand, der häufig ja auf Kosten derjenigen geht, die da pflegen, sich zu wenig unterstützt fühlen. Ich meine, seit Jahren kämpft die Politik mehr oder weniger darum, einem Pflegenotstand entgegenzuwirken. Also so optimistisch wie Sie ist da eigentlich kaum jemand.
Dörner: Ja, die vertreten ja auch die öffentliche Meinung, und die muss immer behaupten, alles ist ganz schrecklich, weil alles andere wäre geschäftsschädigend. Und deswegen habe ich mal den Gegenakzent gesetzt und gesagt, die Bürger, die Familien selber sind in hohem Maße bereit, sich zu engagieren, so gut, wie sie es eben können. Manche können es nicht, aber dass das schon in einem solchen – dass das die Basis der Versorgung heute schon darstellt. Die ambulante Möglichkeit, und nicht die stationäre, nicht das Heim, das ist allein dem Engagement der Bürger zu verdanken, die natürlich jetzt auch dann noch eine stärkere Unterstützung brauchen. Aber sie fangen erst mal an, ohne Ahnung zu haben, ob sie je eine Unterstützung kriegen würden, und das ist das Aufregende.
Heise: Raus aus den Heimen! Das Credo des Psychiaters Klaus Dörner hier im Radiofeuilleton. Von Ihnen, Herr Dörner, wird der Satz zitiert "Der Fortschritt, so wie er sich heute darstellt, vergrößert die Zahl der Hilfsbedürftigen, statt sie zu vermindern." Wie meinen Sie das?
Dörner: Das ist ein bisschen verkürzt dargestellt. Damit ist gemeint, dass es der Fortschritt der Medizin und auch der sozialen Bedingungen ist, dass wir alle die Gnade haben, dass wir alle älter werden können, aber indem wir älter werden, werden wir natürlich auch mit größerer Wahrscheinlichkeit alterspflegebedürftig oder eben auch dement. Und so kommt das Paradox zustande, wir verbinden Fortschritt ja immer mit der Vorstellung, es wird alles immer schöner, leichter, einfacher. Und wenn man jetzt genau hinguckt, passiert jetzt genau das Umgekehrte. Wir reiben uns die Augen und sagen, Fortschritt ist gar nicht mehr, alles wird schöner, einfacher, leichter und professioneller. Sondern das Gegenteil ist der Fall, wir werden, indem wir alle älter werden, als Preis des Fortschritts eben auch häufiger pflegebedürftig oder dement und haben die Zeche zu zahlen. Und diese Gesellschaft muss sich überlegen, wie sie diese Veränderung dessen, was Fortschritt mal gewesen ist, jetzt auch ins Positive wendet und ein tragfähiges System schafft.
Heise: Die Argumentation von heute für eine Heimunterbringung alter, pflegebedürftiger Menschen ist ja irgendwie eine ähnliche oder jedenfalls vergleichbar mit der Argumentation für Psychiatrieunterbringung in früheren Jahren. Sie hatten damals den Kampf aufgenommen, gegen große Widerstände gekämpft. 17 Jahre lang haben Sie auch gesagt, hat das gedauert, also ein langer Atem war auf jeden Fall nötig. Wie haben Sie diese Widerstände überwunden?
Dörner: Indem man sich nicht um sie kümmert, sondern einfach seinen Weg weitergeht, wenn man auch sich da um Widerstände zu kümmern, dann hat man sowieso immer schon verloren. Kann ich also nur von abraten, sondern einfach, wie sagt man so schön, Augen zu und durch. Das ist die bessere Methode, weil sie auch weniger Zeit kostet.
Heise: Und man mehr Kraft für den Kampf hat. Woher kommt eigentlich Ihre Motivation? Sie haben sich ja praktisch Ihr ganzes Arbeitsleben lang um die Wiedereingliederung von Ausgegrenzten gekümmert.
Erfahrungen aus der Nazizeit haben ihn im Engagement bestärkt, sagt Dörner
Dörner: Richtig. Das kommt daher, dass ich von Geburt an durch die Nazizeit extrem geschädigt bin. Ich bin sogar, kann ich ja jetzt hier mal verraten, dank der Machtergreifung von Adolf Hitler bin ich gezeugt worden. Weil meine Eltern waren so begeistert davon, dass sie mich dann auf Kiel gelegt haben, weil sie sagten, jetzt kommt der Führer, und alles wird besser. Und da hab ich nun Gott sei Dank keinen Anteil dran, aber ich bin halt in der ganzen Nazizeit großgeworden, hab das alles mitgekriegt, bin da reingewachsen und immer mehr natürlich auch bin ich ein Teil davon geworden. Und es erschreckt mich bis zu meinem Lebensende so tief, wie das möglich war, dass so was mit mir passiert ist, dass ich seither nichts anderes denke und tue, als, verdammt noch mal, wie ist das möglich geworden, dass wir in Deutschland auf so was reingefallen sind, dass wir so verbrecherisch, so menschenmordend geworden sein können, gerade, was behinderte oder alte Menschen angeht.
Und seither versuche ich, dieses System, was ja auch vorher schon insofern bestanden hat, als man hauptsächlich ja riesengroße Institutionen für behinderte, für psychisch kranke wie für alte Menschen geschaffen hat -. Die Nazis brauchten ja nur darauf aufzubauen. Und jetzt bin ich also permanent dabei und gucke, wie kann man das überflüssig machen, weil es ja auch Länder gibt, die das schon längst geschafft haben, wie Schweden und Norwegen beispielsweise. Und jetzt denke ich, man muss das in Deutschland auch hinkriegen. Und was die Behinderten angeht, oh Wunder, es hat sich bewiesen, dass es möglich ist, dass man im Großen und Ganzen ohne Heime auskommen kann. Und jetzt gehe ich einfach die nächstgrößere Aufgabe an, und das sind halt die alten und altersverwirrten Menschen.
Und es sieht so aus, weil die Ansprechbarkeit der Bürger größer geworden ist, als man sich das je geträumt hat, dass man da jetzt in so eine Phase eintritt, wo man sich zusammensetzt, wo die Profis und die Bürger auch mehr zusammenarbeiten und wo wir dann auch in der Lage sein werden, spricht alles dafür, dass wir durch diese Bündelung der Kräfte, der Profis wie der Bürger, als Nachbarn, dass wir dadurch auch ein neues System finden, was so weit heimlos ist, wie die Bürger es wünschen. Wenn Bürger gern im Heim sind, um Gottes willen, ich bin um jeden Bürger froh, der in ein Heim will, sonst wird die Aufgabe nämlich kleiner, bloß die meisten wollen nicht. Und das ist die Herausforderung, und da sind wir mitten drin. Und je mehr Leute mitmachen bei dieser neuen Bewegung, desto schneller werden wir auch das Ziel erreichen.
Heise: Und Widerstände besser nicht beachten – Augen zu und durch!
Dörner: Richtig.
Heise: Professor Klaus Dörner. Ich danke Ihnen ganz herzlich für das Gespräch und wünsche Ihnen für heute auf jeden Fall erst mal ein anregendes Symposium.
Dörner: Da bin ich Ihnen richtig dankbar für und hoffe, dass Ihre Wünsche in Erfüllung gehen.
Heise: Tschüs!
Dörner: Ja!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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