Leben auf engstem Raum

Von Katrin Zöfel · 17.01.2010
Ein Berliner Forscher hat über eine Million Fossilien aus Korallenriffen ausgewertet. Das Ergebnis: In Riffen entstehen 50 Prozent mehr neue Gattungen als in benachbarten Lebensräumen. Das könnte an deren kleinteiligen Strukturen liegen.
Ein zweckmäßig eingerichtetes Büro im vierten Stock des Naturkundemuseums in Berlin-Mitte. Von seinem Fenster aus hat Wolfgang Kiessling einen guten Ausblick über die Häuser der Stadt. Drinnen an der Wand lehnt eine in bunten Farben gemusterte Steinplatte. Beim Erklären lässt sich Wolfang Kiessling in seinem Stuhl zurückfallen:

"Die große Frage war, woher kommt die Artenvielfalt in den Riffen? Sind Riffe nur attraktiv für viele Arten, die von außen dann einwandern, oder steckt da auch Evolution dahinter, das heißt, entstehen Arten auch bevorzugt in den Riffen?"

Evolution findet für menschliches Empfinden unglaublich langsam statt, deshalb nutzen Evolutionsforscher gerne aus, was Fossilien über die Entwicklung des Lebens aussagen. Die bunte Steinplatte ist ein solches Fossil, genauer:

" … ein fossiles Riff, etwa 200 Millionen Jahre alt, da sehen Sie eben sehr schön, wie gut solche Korallenriffe überliefert werden. Sie sehen hier unten große Stockkorallen, und dann feine ästige Korallen, die hier noch drauf gewachsen sind."

Daten von solchen Versteinerungen hat Wolfgang Kiessling in einer Datenbank zusammengetragen. Neben den Korallen tauchen alle Tiergruppen auf, die einigermaßen sesshaft lebten und eine harte Schale oder Skelett hatten, die mit der Zeit versteinert. Über 540 Millionen Jahre kann der Wissenschaftler so in der Evolutionsgeschichte zurückschauen.

Das Ergebnis: 50 Prozent mehr neue Gattungen entstehen in Riffen, als in benachbarten Lebensräumen. Solche Muster der Artneubildung sind bekannt. Generell verläuft die Evolution in den Tropen schneller als in gemäßigten Breiten. Aber warum gerade in Riffen mehr neue Lebensformen entstehen, darüber lässt sich bisher nur spekulieren. Die kleinteilige räumliche Aufteilung im Riff könnte eine gute Erklärung liefern.

"Praktisch diese vielen kleinen Hohlräume, die Nischen, die es da gibt, die es den Arten erlauben, auf engstem Raum zusammenzuleben. Das kann evolutionär Konsequenzen haben, dass wir eben leichter Populationen voneinander abtrennen, das ist ja der erste Schritt zu einer neuen Art."

Auf dem Weg durch das Treppenhaus erklärt der wissenschaftliche Mitarbeiter Dieter Korn, wie die Wirbellosensammlung aufgebaut ist. Alleine an Korallen sind es rund 20.000 einzelne Fundstücke, sagt er:

"Ja, wir haben hier alle Invertebratenfossilien aufbewahrt, nach systematischer Grundlage, in Gruppen sind die hier geordnet, beginnend von den - in Anführungsstrichen - primitivsten, das heißt die Schwämme, geht weiter mit Korallen, die auch noch relativ primitiv sind. Und dann geht es weiter, Fossilien wie Muscheln, Schnecken, Kopffüßer, Stachelhäuter."

Ein großer Saal, mit hohen Decken, voll gestellt mit wuchtigen Holzvitrinen. Gut geschützt hinter Glas liegen dort die versteinerten Überreste früherer Lebewesen. Jedes in einer eigenen, kleinen Plastikschale. Dieter Korn öffnet eine der Glastüren.

"Wir haben natürlich bei vielen Fossilien einfach nur den Stein, ohne das wir ganz genau wissen, was damit los ist …"

Er nimmt sich einen der Korallenbrocken, schaut auf das Etikett. Aus dem Mitteldevon stammt das Stück, erklärt er, also rund 380 Millionen Jahre alt, gefunden in der Eifel.

"Bei vielen Exponaten wissen wir aber relativ gut, welche Art das zum Beispiel ist, wo's herkommt natürlich, von wem es gefunden wurde, in welcher Schicht es gefunden wurde, das heißt, wir haben einen sehr, sehr guten Datensatz, mit der man hinterher das Ganze vom kleinen Stein zu einer Theorie zusammenbauen kann."

Der halbrunde Block, übersät mit winzigen Löchern, ist wahrscheinlich einmal mitten in starker Brandung gewachsen, dann bilden Korallen kompakte Formen, zum Schutz gegen die Wellen. Locker aufgefächerte Formen wachsen dagegen in ruhigen Buchten. Sie berichten also einiges über die Lebensbedingungen in ihrer Umgebung.

In seiner Studie hat der Paläontologe Wolfgang Kiessling 40.000 solcher Sammlungen berücksichtigt.

Die Riffe, das machen seine Ergebnisse klar, sind eine Quelle der Artenvielfalt, sogar für andere Lebensräume. Viele Muscheln oder Schnecken tauchen zum ersten Mal in Riffen auf. Von dort sind die Organismen dann in andere Ökosysteme ausgewandert. Das heißt:

"Wenn wir Riffe verlieren, verlieren wir dieses Potenzial, neue Arten entstehen zu lassen."

Riffe reagieren empfindlich auf Veränderungen im Erdsystem. Auch das zeigt Wolfgang Kiesslings Blick in den Fossilbericht. Wärmeres Wasser lässt die Polypen absterben. Versauern die Ozeane, so wie derzeit, können die Korallentiere ihre Skelette nicht mehr bauen. Mehrfach sind in der Erdgeschichte fast alle Riffe verschwunden. Zwar entstehen sie immer wieder neu, erklärt der Paläontologe, doch das kann leicht zehn Millionen Jahre dauern.