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BVerfG-Urteil zu Fixierungen
Psychiater: Selbstbestimmungsrechte von Patienten gestärkt

Fixierungen von Psychiatrie-Patienten müssen künftig von Richtern genehmigt werden. Dieses Urteil des Bundesverfassungsgerichts sei für die Praxis sehr hilfreich, sagte der Psychiater Arno Deister im Dlf. Endlich gäbe es klare Vorgaben, wie in Extremsituationen mit Erkrankten umgegangen werden sollte.

Christiane Kaess im Gespräch mit Arno Deister | 24.07.2018
    30.01.2018, Baden-Württemberg, Karlsruhe: Der Zweite Senat beim Bundesverfassungsgericht, Doris König (l-r) , Andreas Voßkuhle, Vorsitzender des Senats und Präsident des Gerichts, Peter M. Huber, Peter Müller und Ulrich Maidowski, eröffnet die Verhandlung zu Verfassungsbeschwerden von Psychiatriepatienten nach Fesselung. (zu dpa «Bundesverfassungsgericht verhandelt über Fixierung in Psychiatrie» vom 30.01.2018)
    "Wir haben gehofft, dass das Bundesverfassungsgericht so urteilt", sagte Arno Deister, Präsident der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, im Dlf (picture alliance / dpa / Uli Deck)
    Christiane Kaess: Es muss einiges passieren, bis ein Mensch in einer psychiatrischen Anstalt zwangsfixiert wird. Es geht in diesen Ausnahmefällen dann darum, ihn selbst und andere vor ihm zu schützen. Bisher war es bundesweit nicht einheitlich geregelt, ob darüber ein Richter entscheiden muss. Das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe hat das heute Vormittag festgelegt. Fixierungen von Psychiatrie-Patienten müssen künftig von Richtern genehmigt werden.
    Ich kann darüber jetzt sprechen mit Professor Dr. Arno Deister. Er ist Präsident der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, und er war in Karlsruhe bei dem Prozess als Sachverständiger dabei. Guten Tag, Herr Deister.
    Arno Deister: Hallo! Guten Tag, Frau Kaess.
    Kaess: Ist das für Sie ein hilfreiches Urteil?
    Deister: Ja, das ist ein hilfreiches Urteil, und wir haben auch gehofft, dass das Bundesverfassungsgericht so urteilt, weil auf der einen Seite wirklich jetzt die Selbstbestimmungsrechte der Patienten auch noch einmal klar gestärkt wurden, auf der anderen Seite aber wir jetzt auch eine klare Vorgabe haben, wie wir uns in solchen Situationen verhalten müssen, und auch klar geworden ist, dass es bestimmte psychische Erkrankungen gibt, die manchmal (möglichst kurzfristig) solche Maßnahmen erfordern.
    Kaess: Was war denn bei den bisherigen Regelungen aus ärztlicher Sicht problematisch?
    Deister: Problematisch war, dass die wesentlichen Vorgaben nicht klar waren. Wir haben ja auch in Deutschland die Situation, dass in jedem Bundesland das anders ist – ist gerade auch schon angesprochen worden -, und da gibt es auch etwas unterschiedliche Regelungen. Aber es war tatsächlich so, dass es oft dem Bereich der Psychiatrie überlassen wurde und von der rechtlichen und gesellschaftlichen Seite es nicht eindeutig geregelt war. Das Verfassungsgericht hat jetzt klar gesagt, das ist ein so eindeutiger Eingriff in die Freiheitsrechte, dass es geregelt sein muss.
    Kaess: Jetzt dürfen die Patienten länger als eine halbe Stunde dann nur mit richterlicher Entscheidung fixiert werden. Was heißt das konkret in der Praxis?
    Deister: Das heißt ganz praktisch, dass natürlich in der Nacht - - Der Richter steht jetzt nach dem Urteil tagsüber von sechs bis 21 Uhr zur Verfügung. Aber in den Zeiten, wo das nicht ist, werden wir schauen müssen, dass wir, wenn es notwendig ist, Fixierungen auf einen kurzen Zeitraum beschränken. Das heißt, wir werden insgesamt überhaupt auch tagsüber stärker Möglichkeiten zur Vermeidung von Zwang nutzen müssen.
    Wir werden heute als Fachgesellschaft eine Leitlinie auch in Kraft setzen, die genau beschreibt, welche Möglichkeiten es gibt, dass es gar nicht erst zu Zwangsmaßnahmen kommen muss.
    "Es geht auch um eine Sensibilisierung für dieses Thema"
    Kaess: Was ist denn da möglich? Wie kann man das denn einschränken?
    Deister: Es geht zum einen um verschiedene Techniken der Deeskalation, wobei es da ganz wichtig ist, dass man ausreichend qualifizierte Menschen zur Verfügung hat, dass man in Beziehung kommen kann zu einem Patienten, der sich zum Beispiel in einem Erregungszustand befindet. Und das heißt natürlich auch, dass man entsprechend besetzt sein muss.
    Das ist natürlich das Gespräch letztendlich, das ist auch, wenn Patienten vielleicht – das kommt ja auch schon mal vor – wiederholt in Kliniken kommen, vorher mit einem Patienten darüber zu reden, wie es denn sein soll, falls so etwas wieder passiert. Es gibt dort verschiedene Maßnahmen. Aber vor allen Dingen geht es auch um die Sensibilisierung für dieses Thema.
    Kaess: Das hat man bisher noch nicht so stark genutzt und eventuell diese Zwangsfixierung zu schnell angewendet?
    Deister: Nein, das hat man schon genutzt – vielleicht noch nicht in jeder Situation und nicht so flächendeckend. Aber die Regeln sind jetzt schon stärker und massiver und deutlicher geworden, und das ist auch gut so.
    "Mehr investieren müssen, um diesen Anforderungen gerecht zu werden"
    Kaess: Jetzt nehmen wir mal den Fall, wie wir auch gerade im Beitrag gehört haben. Da kommt jemand in die Psychiatrie, der randaliert, der bringt eventuell andere und sich in Gefahr. Und man würde jetzt mit diesen Maßnahmen, die Sie gerade geschildert haben, nicht weiterkommen. Man fixiert ihn für eine halbe Stunde. Ist das realistisch, dass man das Problem innerhalb von einer halben Stunde lösen kann?
    Deister: Na ja, das stellt uns schon vor große Herausforderungen. Das geht sicherlich nicht einfach so. Das heißt, man wird das mit Begleitmaßnahmen insbesondere im personellen Bereich unterstützen müssen. Das Gericht hat allerdings gesagt: Bei Maßnahmen, die voraussichtlich nicht länger als 30 Minuten dauern – man weiß das ja vorher oft nicht so genau, wie das jetzt exakt umzusetzen ist. Damit müssen wir uns jetzt doch konkret auseinandersetzen.
    Kaess: Sagen Sie uns noch was zu diesen Alternativen, die Sie schon skizziert haben. Ist eine Alternative, die dann letztlich aber doch wieder sehr hart ist, den Patienten einzusperren? Denn wenn ich das richtig verstanden habe, wird das auch ab und zu schon gemacht.
    Deister: Na ja. Das wird genauso von den Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts betroffen. Die Vorgaben gelten nicht nur für die Fixierung, sondern für andere Maßnahmen auch. Die Frage, welche Maßnahmen man im Einzelfall ergreift, muss natürlich vom Einzelfall abhängig sein. Das heißt auch von dem, wie der Patient sich verhält, vielleicht auch von dem, was der Patient vorher gesagt hat. Das muss wirklich nach dem Bedarf des Patienten gehen. Aber die Regeln sind die gleichen, auch bei Isolierung.
    Kaess: Wie steht es mit den Ressourcen, die die psychiatrischen Kliniken zur Verfügung haben? Das ist ja doch relativ aufwendig, so wie das gerade im Bericht anklang.
    Deister: Ich will jetzt nicht einfach in den Reflex verfallen, mehr Geld oder mehr Personal zu fordern. Aber wir werden tatsächlich mehr Menschen brauchen. Wir müssen natürlich auch das Fach entsprechend attraktiv machen, dass es Menschen gibt, die sich dieser Aufgabe stellen wollen, denn es ist eine sehr schwierige Aufgabe, und auch Mitarbeiter sind ja manchmal gefährdet. Wir werden mehr investieren müssen, um diesen Anforderungen gerecht zu werden, um in der Beziehung zum Patienten zu bleiben, denn das bedeutet Zeit, Zeit von Menschen, die entsprechend ausgebildet sind.
    "Es werden unter zehn Prozent der Patienten untergebracht"
    Kaess: Kann man sagen, wie oft prozentual gesehen solche Zwangsmaßnahmen, nenne ich sie jetzt mal, nötig sind?
    Deister: Ja. Im Moment ist es so, man muss ganz klar sagen: Mehr als 90 Prozent, mehr als neun von zehn Menschen gehen freiwillig in die Psychiatrie, bleiben dort und werden auch freiwillig wieder entlassen. Es werden unter zehn Prozent der Patienten untergebracht und davon ein kleiner Prozentsatz, der nicht genau festgelegt ist und der sich auch unterscheidet, werden dann solchen Zwangsmaßnahmen unterworfen. In einer Studie, die wir gemacht haben, ist das um die ein Prozent.
    Kaess: Arno Deister war das. Er ist Präsident der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie. Herr Deister, vielen Dank für das Gespräch.
    Deister: Gerne. – Danke!
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.