Last und Lust des Umziehens (1)

Am Ende der Welt

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Der Innenhafen Duisburg mit dem Landesarchiv NRW im Hintergrund. © picture alliance / dpa / Volker Hartmann
Von Franziska Gerstenberg · 16.02.2015
Für den Originalton hat die Autorin Franziska Gerstenberg Minidramen verfasst, in denen sie mit ihrem Lebensgefährten anschaulich macht, was einem widerfährt, wenn man umziehen will. Nach Berlin oder doch nach Duisburg?
F(rau): Du hast ja versprochen, dass du zu mir nach Berlin ziehst.
M(ann): Ja.
F: Also sehen wir uns jetzt Stadtviertel an, ja, und dann suchen wir uns eine Wohnung.
M: Ja.
F: In Charlottenburg gibt es ja überall frischgepressten Saft. An der Kantstraße. Orange-Minze-Ingwer-Apfel, sehr lecker.
M: Ja.
Geschirr geht zu Bruch.
M: Ach, du möchtest nicht zu mir nach Duisburg ziehen?
F: Nein.
M: Aber du weißt nicht, wie günstig hier eine 100-Quadratmeter-Wohnung ist, verglichen mit hundert Quadratmetern in Charlottenburg.
F: Nein.
M: Soll ich nicht meine Nachbarin überreden, dass sie zu ihrer Mutter zieht? Sie würde das für mich tun, hier im Ruhrgebiet helfen die Leute einander. Und dann durchbrechen wir die Wand und machen aus zwei Wohnungen eine. Die Wand ist sowieso aus Papier.
F: Nein.
Lautes Zerreißen von Papier. Geschirr geht zu Bruch.
M: Es könnte alles so schön sein. Warum musst du in Berlin leben?
F: Es könnte alles so schön sein. Warum musst du in Duisburg leben?
M: Berlin stinkt. Am schlimmsten sind die Leute. In der U-Bahn wird man getreten. Alle warten schon vorher darauf, mich treten zu können.
F: Du wohnst nicht einmal in Duisburg. Du wohnst am Ende von Duisburg, am Ende der Welt, auf einer Insel. Wenn die Brücke gesperrt ist, kommt niemand weg. Hinter der Insel der Deich, und dahinter schon Holland. Jeden Tag sieht man dieselben zwölf Leute.
M: Und dann noch die Form der Berliner Straßenlaternen. So preußisch. Sogar die Bäume sehen preußisch aus.
F+M zusammen: Dabei könnte alles so schön sein.
Geschirr geht zu Bruch.
F: Ein Meer wäre gut.
M: Oder wenigstens ein Fluss.
F: Berge.
M: Bisschen Kultur.
F: Freunde wären schön.
M: Hauptsache, meine Mutter wohnt da nicht.
F: Ich will ein Schwimmbad um die Ecke.
M: Ich will eigentlich nur den Deich.
F: Aber in Charlottenburg gibt es doch ...
F+M zusammen: Orange-Minze-Ingwer-Apfel.
Geschirr geht zu Bruch. Lautes Zerreißen von Papier.
F: In Hannover haben wir beide schon gelebt.
M: Da wissen wir aber auch beide, warum wir da weggezogen sind. In Leipzig haben wir auch beide schon gelebt.
F: Da wissen wir aber auch beide, warum wir da weggezogen sind.
Lautes Zerreißen von Papier.
F: A, B, C, D ...
M: Stopp.
F: D. Runde Sache.
M: Duisburg!
Kurzes Geschirrklirren.
M: Dill.
F: Dormagen.
M: Driedorf.
F: Dirlewang.
M: Dorn-Dürkheim.
M: Doberschau-Gaußig.
F: Dürnau Kreis Göppingen.
F: Dernbach bei Dierdorf.
M: Dürrröhrsdorf-Dittersbach.
Trommelwirbel.
F: Ach.
M: Und was jetzt?
F: Fahren wir halt weiter Zug.
M: Das halte ich aber auch nicht mehr aus.
F: Dann zieh doch zu mir nach Berlin?
M: Ja, oder du zu mir nach Duisburg!

Franziska Gerstenberg wurde 1979 in Dresden geboren. Nach dem Abitur arbeitete sie an einer Schule für geistig behinderte Jugendliche. Von 1998 bis 2002 studierte sie am Deutschen Literaturinstitut Leipzig die Fächer Prosa, Lyrik und Dramatik/Neue Medien, danach war sie zwei Jahre lang Mitherausgeberin der Literaturzeitschrift "EDIT – Papier für neue Texte". Für die beiden Erzählbände "Wie viel Vögel" (2004) und "Solche Geschenke" (2007) erhielt Franziska Gerstenberg zahlreiche Auszeichnungen, unter anderem ein Stipendium der Akademie Schloss Solitude in Stuttgart. 2012 erschien der erste Roman mit dem Titel "Spiel mit ihr". Dafür wurde ihr 2013 der Förderpreis zum Lessing-Preis des Freistaates Sachsen verliehen. Die Autorin leitet Schreibseminare und lektoriert. Für den Originalton hat sie kleine Minidramen verfasst, in denen sie mit ihrem Lebensgefährten sehr anschaulich macht, was einem alles widerfährt, wenn man einfach nur umziehen will.

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