Langzeitarbeitslose in Deutschland

Die Abgeschriebenen

Menschen stehen am Dienstag (01.02.2011) Schlange im "Integrationscenter für Arbeit Gelsenkirchen - das jobcenter" in Gelsenkirchen
Passen offene Stellen und Qualifikationen der Langzeitarbeitslosen nicht zusammen? © pa/dpa/Stratenschulte
Von Ulrike Köppchen · 31.05.2016
Die Wirtschaft brummt, neue Jobs entstehen. Und dennoch: Die rund eine Million Langzeitarbeitslosen in Deutschland haben nahezu keine Chance auf einen Job. Zu den größten "Vermittlungshemmnissen" gehört die Arbeitslosigkeit selbst − sie macht auf lange Sicht oft krank.
"Der Arbeitsmarkt im April ist durch die Frühjahrsbelebung geprägt. Die Arbeitslosigkeit ist weiter gesunken und die Arbeitskräftenachfrage ist nach wie vor hoch."
Nürnberg, Ende April. Die Bundesagentur für Arbeit präsentiert ihre monatlichen Arbeitsmarktdaten. Seit einiger Zeit klingen die Meldungen vom Arbeitsmarkt geradezu euphorisch - auch wenn viele erwarten, dass die Arbeitslosigkeit im Lauf des Jahres aufgrund der Zuwanderung wieder steigen wird. Aber erst einmal wird gefeiert: In einigen Regionen herrscht Vollbeschäftigung - mehr geht nicht!
600.000 offene Stellen! Eine rekordniedrige Arbeitslosigkeit, seit der Wiedervereinigung jedenfalls. Die Zahl der sozialversicherungspflichtigen Beschäftigten steigt.
"Es signalisiert damit in der Summe eine gute Aussicht auf dem Arbeitsmarkt für die nächsten Monate."
Keine Frage, der Aufschwung am Arbeitsmarkt ist da. Aber nicht alle profitieren. Vor allem, wer ein Jahr oder länger arbeitslos war und damit als langzeitarbeitslos gilt, hat es sehr schwer, im Berufsleben wieder Fuß zu fassen.
"Wir haben im Prinzip so eine Zwei-Klassen-Entwicklung des Rückgangs der Arbeitslosigkeit."
Sagt die Politikwissenschaftlerin Sabrina Bersheim von der Hochschule Koblenz.
"Bei den Personen, die halt noch nicht so lange arbeitslos sind, die auch Arbeitslosengeld I beziehen, da ist der Abbau halt ganz gut vorangegangen. Und bei den Personen, die eben längere Zeit arbeitslos sind und die sich im Hartz-IV-System befinden, da ist das deutlich schwieriger.

37,4 Prozent Lanzeitarbeitslose

So gibt es zwar immer weniger Arbeitslose in Deutschland, aber darunter immer mehr Menschen, die ein Jahr oder länger ohne Arbeit sind. Inzwischen sind nach offiziellen Angaben 37,4 Prozent der Arbeitslosen Langzeitarbeitslose. Eigentlich seien es sogar noch mehr, meint Sabrina Bersheim. Denn mit ein paar statistischen Besonderheiten werde die Zahl künstlich klein gehalten.
Immer wenn die Bundesagentur für Arbeit ihre Zahlen zur Arbeitsmarktsituation präsentiert, wird auch Sabrina Bersheim aktiv: Die junge Politikwissenschaftlerin betreut das Projekt "O-Ton Arbeitsmarkt", eine Kooperation zwischen der Hochschule Koblenz und dem Evangelischen Fachverband für Arbeit und soziale Integration.

"Es geht grundsätzlich darum, dass wir eine Alternative bieten wollen zur offiziellen Berichterstattung der Bundesregierung, des BMAS und der Bundesagentur für Arbeit, weil die offizielle Arbeitsmarktberichterstattung natürlich auch interessengeleitet ist, hochkompliziert ist auch teilweise und einzelne Aspekte, vor allem auch, was die Arbeitslosigkeit und die Langzeitarbeitslosigkeit betrifft, nicht so ganz klar darstellt, wie wir finden, und da wollen wir eben eine Alternative bieten."
Etwa eine Million Langzeitarbeitslose gibt es laut offizieller Zählungen derzeit. Entlastet wird die Statistik durch sogenannte "schädliche Unterbrechungen".
"Wenn ein Mensch, der langzeitarbeitslos ist, an einer arbeitsmarktpolitischen Maßnahme teilgenommen hat oder länger als sechs Wochen krankgeschrieben war oder ein Kind gepflegt hat oder einen Angehörigen, dann fällt derjenige aus der Statistik, also, nach dieser Zeit zählt die Statistik ihn wieder als Neuarbeitslosen. Obwohl sich da an ihrem Status, der Langzeitarbeitslosigkeit, de facto nichts geändert hat, macht man aus ihnen Kurzzeitarbeitslose."
Wie viele Langzeitarbeitslose es tatsächlich in Deutschland gibt, weiß auch Sabrina Bersheim nicht. Ob 1,1 Millionen oder vielleicht auch 1,2 oder 1,3 Millionen Langzeitarbeitslose - es sind auf jeden Fall zu viele. Wer sind diese Menschen?

Seit 20 Jahren keinen sozialversicherungspflichtigen Job

Berlin-Neukölln. Eine Wohnanlage aus den 1920er-Jahren. Ali Can (Name geändert, der wirkliche Name ist der Redaktion bekannt) ist auf dem Weg zu einer Klientin. Zweimal in der Woche besucht er hier eine alte Dame, geht mit ihr einkaufen oder zum Arzt. Oder einfach nur spazieren.
Die alte Dame sitzt schon ausgehfein und abfahrbereit im Rollstuhl, mit blau geblümtem Kleid und Goldschmuck an den Fingern.
Jeden Vormittag kommt ein Pflegedienst vorbei, ansonsten ist die Frau den ganzen Tag allein. Im Gespräch betont sie, wie dankbar sie sei, dass Ali und eine Kollegin zweimal in der Woche nach ihr sehen und Zeit mit ihr verbringen.
Ali Can ist Mitte 50, kommt aus der Türkei und lebt seit Anfang der 1980er-Jahre in Deutschland. Seit kurzem arbeitet er als sogenannter Mobilitätshelfer für alte und kranke Menschen. Ermöglicht hat das das Programm Soziale Teilhabe am Arbeitsmarkt, das Bundesarbeitsministerin Andrea Nahles im vergangenen Jahr gestartet hat. Mit diesem Programm sollen besonders schwer vermittelbare Langzeitarbeitslose wieder an Arbeit gewöhnt werden: Menschen, die gesundheitliche Beeinträchtigungen haben oder die besonders lang arbeitslos sind. Ali Can ist so ein Fall. Seinen letzten sozialversicherungspflichtigen Job hatte er vor mehr als 20 Jahren.
"Meine Tante hat da in dieser Fabrik gearbeitet, das war eine Arzneimittelfabrik, und sie hat mich angesprochen, meinte, jetzt bei uns wird Leute eingestellt, schreib mal eine Bewerbung. Hab ich geschrieben, ich bin hingegangen, haben sie mich gleich eingestellt."
"Das war richtig mit Lohnsteuerkarte, hast Du da gut verdient?"
"Ganz gut verdient damals. Ich habe auch alleine vier Jahre nur nachts gearbeitet. Nachtschichtzulage. Damals war ja auch diese Berliner Zulage. War richtig gutes Geld. Immer über 3000 Mark. War gut."
Ali Can schiebt den Rollstuhl durch den Supermarkt. Die alte Dame will Vorräte fürs Wochenende kaufen.
"Sie ist eine von den leichtesten. Man kann sich mit ihr ganz gut unterhalten und sie ist nett irgendwie, macht keine Schwierigkeiten. Es gibt aber auch sehr schwierige Klienten, Klientinnen, die auch Demenz haben, und mit denen hast du natürlich Probleme. Aber man muss dabei auch sehr geduldig bleiben, was auch nicht immer so einfach ist."

Besser als ein Ein-Euro-Job

30 Stunden in der Woche arbeitet Ali Can jetzt und betreut pro Tag zwei bis drei Klienten. Nach vielen Jahren Hartz IV hat er jetzt einen Arbeitsvertrag bis 2018 und wird nach Mindestlohn bezahlt.
"Also finanziell ... bisschen hast du mehr, aber im Grunde fühlt man sich nicht so, als ob man beim ersten Arbeitsmarkt wäre. Aber trotzdem, es ist viel, viel besser als diese Ein-Euro-Job."
Nachdem er in den 1990er-Jahren seinen Arbeitsplatz verloren hatte, weil seine Abteilung aufgelöst wurde, hat er viele Jahre lang gar nicht gearbeitet, sondern von Arbeitslosengeld und Sozialhilfe gelebt.
"Erst wieder Anfang 2000 oder so habe ich langsam … dachte, so kann es nicht weitergehen, muss irgendwas machen. Erst habe ich diese türkisches Essenspezialitäten-Kursus gemacht, ein Jahr, also ich habe Kochen gelernt, aber das ist auch keine einfach Arbeit. Dachte ich, naja. Dann immer irgendwelche Maßnahmen vom Jobcenter, irgendwelche Kurse habe ich mich beteiligt und 2008 habe ich Pflegebasiskursus gemacht und gleichzeitig auch Betreuungsassistent, also was ich jetzt mache. Ich habe auch Zertifikate."
Doch keins davon führte in eine reguläre Beschäftigung, sondern nur zu immer neuen Ein-Euro-Jobs, meist in der Seniorenbetreuung. Auch Alis Kollegin ist langzeitarbeitslos und hangelt sich seit Jahren von einer arbeitsmarktpolitischen Maßnahme zur nächsten.
Ali und seine Kollegin reden über Maßnahmen des Jobcenters:
"Dann schaut man weiter. Dann kommt was anderes. - Irgendwas kommt immer. - Die ändern immer die Namen. - Aber dann wieder ein Jahr Pause. - Erst hieß das so Bürgerarbeit, danach sonst irgendein Blabla… - AGH habe ich auch schon gemacht. - Ja, genau."
Die beiden schleppen den Rollstuhl mit der alten Dame zur Wohnung im Hochparterre. Keine leichte Aufgabe für den 55-jährigen Ali - aber er will diese Arbeit machen.
"Ich würde mir wünschen, dass ich hier zum Beispiel mal fest angestellt werde, da, wo ich jetzt arbeite oder so. Das wäre super. Ansonsten … was soll man wünschen? Mehr Geld. Ab und zu mal Urlaub fahren, was ich ewig nicht gemacht habe. Schon 18 Jahre her. Das letzte Mal war ich 1998."
Das sind ziemlich bescheidene Wünsche. Aber selbst die dürften kaum erfüllbar sein. Ali Can gehört zu den besonders arbeitsmarktfernen Person: Ohne Schulabschluss und Berufsausbildung ist er auf dem deutschen Arbeitsmarkt nie über Hilfsarbeiterjobs hinausgekommen.
"Nee, ich habe nie dran geglaubt, dass ich hier was machen kann, was werden kann beruflich. Liegt vielleicht an der Erziehung. Keine Ahnung. Es ist aber so. Vielleicht brauche ich einen Psychologen, nicht Sachbearbeiter."
Arbeitsuchende warten am 30.03.2005 im Flur des Eigenbetriebes für Arbeit in Merseburg.
Langzeitarbeitslose haben kaum Chancen auf den Wiedereinstieg in den Arbeitsmarkt.© Waltraud Grubitzsch

Typische "Vermittlungshemmnisse"

Älter, ohne Berufsausbildung, Migrationshintergrund - solche Merkmale sind typisch für einen Langzeitarbeitslosen. Im Jargon der Bundesagentur für Arbeit heißt das "Vermittlungshemmnisse". Sabrina Bersheim:
"Das sind dann Faktoren, die es ihm schwer machen, eine Arbeit zu finden. Dazu gehört dann zum Beispiel ein höheres Alter, also über 50, alleinerziehend zu sein, Pflegeverantwortung zu haben, einen Migrationshintergrund zu haben und vor allem eine fehlende oder niedrige Qualifikation zu haben. Und ein ganz wichtiger Punkt sind eben auch gesundheitliche Einschränkungen. Bei Langzeitarbeitslosen kommen meistens mehrere dieser Faktoren zusammen, und die erschweren den Personen natürlich einfach die Arbeitssuche."
Etwa die Hälfte der Langzeitarbeitslosen hat keine oder nur eine sehr niedrige Berufsqualifikation. Andere haben zwar eine Ausbildung, aber sie ist veraltet. Für viele Langzeitarbeitslose kommen insofern nur einfache Tätigkeiten in Frage. Und davon gibt es auf dem deutschen Arbeitsmarkt immer weniger. Für einige Arbeitsmarktexperten ist das jedoch nur die halbe Wahrheit. Denn es gibt sehr wohl noch Jobs für Ungelernte: Knapp jede fünfte offene Stelle liegt im Bereich der Helfertätigkeiten. Das heißt allerdings nicht, dass sich nur Ungelernte für solche Tätigkeiten bewerben. Denn - Fachkräftemangel hin oder her - viele qualifizierte Kräfte finden keine Arbeit auf dem Niveau ihrer Ausbildung. Sigrid Betzelt, Professorin für Sozialwissenschaften an der Hochschule für Wirtschaft und Recht in Berlin:
"Die Strukturen des Arbeitsmarkts weisen ja noch andere problematische Kennzeichen auf, die wiederum in das Problem der Langzeitarbeitslosigkeit greifen, dass ja ganz viele von diesen sogenannten einfachen Tätigkeiten - bei Speditionen, im Auslieferungsdienst, in ganz vielen Dienstleistungsbereichen - von überqualifizierten Menschen geleistet werden, die eine Berufsausbildung, zum Teil sogar eine Hochschulausbildung haben, die diese einfachen Tätigkeiten ausführen, die natürlich locker jemand ohne so eine Ausbildung ausführen könnte."
Aber die Arbeitgeber stellen lieber Menschen mit einer abgeschlossenen Berufsausbildung ein, auch wenn diese fachlich überhaupt nichts mit der ausgeschriebenen Stelle zu tun hat.
"Jemand, der schon einmal eine Ausbildung abgeschlossen hat, gilt als zuverlässig, leistungsorientiert und so weiter. Während Leute, die das nicht haben, als weniger motiviert, weniger leistungsfähig eingeschätzt werden. Das ist aber im Grunde eine Diskriminierung von den Leuten, die das aus unterschiedlichen Gründen nicht geschafft haben. Das sind zum Teil ja auch junge Menschen, die einfach einen Einstieg bräuchten in den Arbeitsmarkt und die man parallel dann auch qualifizieren könnte. Das heißt, da passen diese zwei problematischen Arbeitsmarktstrukturen von unterwertiger Beschäftigung und Langzeitarbeitslosigkeit perfekt zusammen."
Eine der größten Hürden für Langzeitarbeitslose, wieder Arbeit zu finden, ist die Arbeitslosigkeit selbst. Sie verändert die Betroffenen.

Langzeitarbeitslosigkeit macht krank

"Einmal leiden sie natürlich unter den meistens materiell sehr schwierigen Situation. Dann geht Langzeitarbeitslosigkeit oft mit gesundheitlichen Belastungen einher, also starken seelischen Belastungen durch diesen Ausschluss aus der Gesellschaft tendenziell, was auch mit körperlichen Beschwerden einhergehen kann."
… sagt die Arbeitsmarktexpertin Sigrid Betzelt. Es ist ein Teufelskreis, aus dem die Betroffenen in der Regel kaum noch herauskommen. Viele werden arbeitslos, weil sie gesundheitliche Probleme haben und nicht leistungsfähig genug sind. Aber die Arbeitslosigkeit selbst macht sie noch kränker und noch weniger leistungsfähig.
Adamy: "Und was das aus Menschen macht, wenn man ständig nach Arbeit sucht, keine stabile Beschäftigung findet, heute beschäftigt ist, morgen wieder arbeitslos ist, übermorgen wieder in einem Ein-Euro-Job, dann wieder arbeitslos, dann vielleicht in Leiharbeit, was enormen Kraftaufwand auf der einen Seite mit sich bringt, was aber auch dazu führt, dass man aus einer finanziell engen Situation nicht hinauskommt."
Wilhelm Adamy, Vorstandsmitglied des DGB und dort für Arbeitsmarktpolitik zuständig.

Hoffnungslos, erschöpft, resigniert

Forscher haben untersucht, wie Langzeitarbeitslosigkeit die Betroffenen verändert und dabei typische Muster festgestellt. Wer arbeitslos wird, bemüht sich zunächst meist intensiv, wieder Arbeit zu finden. Klappt das nicht, gibt er oder sie irgendwann auf und hört auf zu suchen.
Betzelt: "Die Leute werden hoffnungslos, sind auch erschöpft, die Identität bricht so langsam in sich zusammen, und das macht die Leute noch resignativer sozusagen. Gleichzeitig leiden sie aber nach wie vor unter diesem Statusverlust, also, es ist nicht so, dass die Leute sich in dieser Phase komplett abgefunden hätten und dann, ja, es ihnen so ganz gut geht, sondern sie leiden nach wie vor sehr stark unter diesem auch als Statusverlust empfundenen Verlust des Selbst, quasi der eigenen Identität."
Schließlich ziehen sich viele Langzeitarbeitslose komplett aus der Gesellschaft zurück.
"Das ist individuell rational. Um eben nicht ständig mit dem 'Defizit' konfrontiert zu werden, sich 'einzurichten', sag ich mal so landläufig …"
… in Milieus, in denen sie mehr oder weniger unter sich sind. In denen für viele ein Ein-Euro- oder Mini-Job das höchste der Gefühle ist und in denen Jugendliche allen Ernstes als Berufswunsch "Hartz IV" angeben. Dahinter steht nicht nur, dass sie es von ihren Eltern nicht anders kennen. Sie ahnen auch, dass es sich für sie kaum lohnt, sich anzustrengen. Denn das gesellschaftliche Aufstiegsversprechen - wenn man nur fleißig ist und sich bemüht, werden es spätestens die eigenen Kinder einmal besser haben - funktioniert nicht mehr. DGB-Vorstandsmitglied Wilhelm Adamy:
"Ich selber habe noch acht Jahre die Volksschule besucht und habe erst danach angefangen, über den zweiten Bildungsweg mich weiterzuqualifizieren, aber zu unserer Zeit wusste man, die Zukunft ist positiv besetzt. Jugendliche, die heute die Hauptschule besuchen, haben es insgesamt wahrscheinlich viel, viel schwerer, ihre eigenen Talente zu entwickeln, als das zu meiner Zeit der Fall war."
Zwischenfrage der Autorin: Aber warum?! Die Möglichkeiten gibt es immer noch über den zweiten Bildungsweg, und es wird auch gefördert. Wer will, kann!
"Liegt es immer nur am Willen des Einzelnen oder müssen die Rahmenbedingungen in gewisser Weise da sein? Wenn ich in einem Umfeld aufwachse, wo eher soziale Probleme sind, umso größer muss die individuelle Kraftanstrengung sein, um aus diesem Umfeld herauskommen zu können und die Kraft zu haben, zu sagen, ich konzentriere mich darauf, auch tatsächlich meinen eigenen Weg zu gehen."

"Unglaublicher sozialer Sprengstoff"

Eine Zeitlang wurde das spezielle Problem der Langzeitarbeitslosigkeit von der Politik weitgehend ignoriert - oder man setzte darauf, dass der Markt es schon richten werde, wenn der Aufschwung erst einmal da ist und wieder mehr Arbeitskräfte gebraucht würden. Inzwischen ist deutlich geworden, dass das nicht funktioniert hat: Ein schwer oder gar nicht vermittelbarer Teil von über einer Million Menschen ist übriggeblieben. Und keine Gesellschaft kann es sich leisten, dass in bestimmten Milieus Armut und Arbeitslosigkeit vererbt werden und eine ganze Generation ohne Chancen und Perspektiven aufwächst, warnt die Sozialwissenschaftlerin Sigrid Betzelt:
"Das birgt einfach unglaublichen Sprengstoff. Da muss man jetzt nicht bis zu den Terroranschlägen gehen, aber auch das könnte man in dieser Reihe sehen, das ist aus ökonomisch-volkswirtschaftlicher Sicht eigentlich ein Skandal, den man sich da leistet."
Und so soll Langzeitarbeitslosigkeit jetzt stärker bekämpft werden, heißt es aus der Politik. Aber funktioniert es auch?
"Andreas Groicher ist mein Name. Ich bin der Personalreferent von der Firma Dussmann Service und freu mich, dass Sie hier sind. Sie sind für die Gebäudereinigung hier …"
Das Jobcenter in Berlin-Lichtenberg. Ein nüchterner Konferenzraum im fünften Stock mit Beamer, Flip-Chart und hufeisenförmig ausgerichteten Tischen. Vorne der Referent mit seinem Notebook, daneben sitzen der Pressesprecher und eine junge, blonde Frau in Jeans und Businessjackett.
"Ja, Hallo! Franziska Janicke ist mein Name, bin seit Mai 2015 Betriebsakquisiteurin im Jobcenter Lichtenberg im Rahmen des ESF-Programms zum Abbau von Langzeitarbeitslosigkeit."
Franziska Janickes Aufgabe ist es, Langzeitarbeitslose auf den ersten Arbeitsmarkt zu vermitteln. Dazu muss sie zum einen geeignete und interessierte Bewerber finden und zum anderen Betriebe, die bereit sind, diesen eine Chance zu geben. Allerdings wollen einer Umfrage zufolge zwei Drittel der Unternehmen keine Langzeitarbeitslosen einstellen. Auch Franziska Janicke hat bei ihrer Betriebsakquise nicht nur positive Erfahrungen gemacht, obwohl das Jobcenter bis zu 75 Prozent Lohnkostenzuschüsse zahlt, um eine eventuell längere Einarbeitungszeit oder geringere Arbeitsleistung zu kompensieren.
"Die, die skeptisch sind, die bleiben meistens auch skeptisch."
… aber es gibt auch andere:
"Da hatte ich jetzt erst gerade ein Unternehmen akquiriert, das im Facility-Management tätig ist, und da hat der Geschäftsführer tatsächlich gesagt, wir nehmen daran teil, weil es uns wichtig ist, Leuten eine Chance zu geben. Da waren fünf Menschen, die sich vorgestellt haben und jetzt unterzeichnen drei von denen einen Arbeitsvertrag über zwei Jahre, eine Dame in Teilzeit und zwei Herren in Vollzeit."
Auch heute findet wieder ein solches Vorstellungsgespräch statt: Der Gebäudedienstleister Dussmann will Reinigungskräfte einstellen. Drei Kandidaten stehen auf Franziska Janickes Liste. Erschienen ist einer.
Fensterputzer, Arbeit, Arbeitsmarkt, Konjunktur
Selbst für den Niedriglohnsektor reicht die Qualifikation oft nicht aus.© dpa / pa / Kumm
"Was Sie mitbringen sollten zumindest - deshalb steht es auch ganz oben - ist Motivation. Wie hoch die ist, werden wir sehen, die kann man natürlich auch steigern, aber ohne Ihre eigene Motivation säßen Sie auch heute nicht hier, also zumindest ist da schon mal eine Basis da, auf die man bauen kann … und Zuverlässigkeit!"
"Pünktlich und zuverlässig den Arbeitsplatz antreten und da die Aufgaben erledigen, ist für die Gebäudereinigung, ist grundsätzlich für alle Vorhaben im Leben … ob das Arbeit ist, wird man nur so erfolgreich sein können. In einer Branche, in der Sie viel lernen können, werden Sie das mit Ihrer eigenen Motivation auch schaffen. Man muss nur ein bisschen wollen. Dann gibt es bei uns Fachkräfte, die Ihnen zeigen."
Personalreferent Andreas Groicher klingt zwar gerade wie ein Sozialarbeiter, aber er beteuert, er sei nicht hier, weil Dussmann Gutes tun wolle. Sondern weil es trotz Tariflohn von 9,80 Euro in den letzten Jahren immer schwieriger geworden sei, Personal für Reinigung, Catering und Security zu finden.
"Wir haben jede Menge Stellen zu besetzen und können sie teilweise nicht besetzen. In der Dienstleistungsbranche ist es eben so, dass die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die wir eben haben, aus einem sozialen Umfeld eben kommen, wo zum Beispiel eine klassische Bewerbung schon ein Hindernis ist. Wenn dieses Hindernis besteht und wir diese Bewerbung von eventuell sogar arbeitswilligen Menschen nicht bekommen, müssen wir eben dahin gehen, wo diese Menschen sind, und das ist in der Regel eben hier in den Jobcentern."
"Gebäudereinigung - haben Sie das schon mal gemacht? - Ja. Knapp ein Jahr."
Mit dem heutigen Bewerber scheint Andreas Groicher Glück zu haben. Sogar eine Umschulung zum Glas- und Fassadenreiniger hat der Kandidat vorzuweisen.
"Dann sind Sie ja schon ein richtiger Spezialist. Momentan haben wir eine Stelle in Marzahn. Das wäre von montags bis freitags, fünf Stunden täglich, und geht immer los ab 15 Uhr."
Der Kunde druckst etwas herum und rückt dann doch mit der Sprache heraus. Die Arbeitsstelle sei zu weit von seinem Wohnort entfernt. In öffentlichen Verkehrsmitteln bekomme er Panikattacken. Und, nein, ein Fahrrad habe er nicht. Keinen Führerschein und natürlich auch kein Auto.
"Ja, dann ist natürlich schwierig. Weil eine Stelle, die bei Ihnen um die Ecke ist, haben wir gerade nicht anzubieten."
"Ich bin ja nicht aus der Welt."
"Genau, Sie sind ja nicht aus der Welt, vielleicht ergibt sich ja mal irgendwas."
"Gut, schön, dass Sie da waren. Vielleicht haben wir eine Chance, Sie noch in die Erprobung zu bekommen. Sie sollten auch noch mal überlegen, Fahrrad ist wirklich eine gute Alternative."

Ein Tropfen auf den heißen Stein

Das ESF-Programm zur Eingliederung von Langzeitarbeitslosen in den ersten Arbeitsmarkt ist nur eines von mehreren Sonderprogrammen, die auf Bundes- oder auf Landesebene in den letzten zwei Jahren gestartet wurden. Unumstritten sind sie nicht. Der häufigste Vorwurf, der ihnen gemacht wird: Symbolpolitik. Sabrina Bersheim:
"Man kann da so ein Kalkül dahinter vermuten, wenn man ein wenig böse ist und sagt, wenn man so ein Sonderprogramm auflegt, dann kann man das medienwirksam, PR-mäßig vermarkten. Dann bekommt man eine große Aufmerksamkeit und kann sagen, man tut halt was für die Leute."
Man tut was - aber nur für wenige Leute. Im Jobcenter Lichtenberg beispielsweise sollen über das ESF-Programm 200 Langzeitarbeitslose einen Job bekommen. Bundesweit haben die Jobcenter gerade einmal 24.000 Plätze beantragt. Angesichts von über einer Million Langzeitarbeitslosen ist das kaum mehr als ein Tropfen auf den heißen Stein. Die Regelförderung für Arbeitslose nach dem Hartz-IV-System hingegen ist in den letzten Jahren erheblich gekürzt worden.
Adamy: "Die Chancen von Langzeitarbeitslosen, die auf Hartz IV angewiesen sind, heute integriert zu werden in den Arbeitsmarkt, sind schlechter als noch 2007."
Bersheim: "Wir haben in den letzten fünf Jahren einen Rückgang des sogenannten Eingliederungsbudgets - das ist eben das Geld, das für die arbeitsmarktpolitische Förderung im Hartz-IV-System vorgesehen ist -, einen Rückgang von 40 Prozent. Bei den Personen, die man aber fördern könnte, hat es einen Rückgang von zehn Prozent gegeben. Also es kommt halt oft von Seiten der Politik das Argument, natürlich haben wir gekürzt, aber wir haben auch weniger Arbeitslose. Aber es steht halt eben in gar keinem Verhältnis.
Außerdem würden kaum noch Maßnahmen gefördert, die zu einem Berufsabschluss führten, sagt Sabrina Bersheim. Es geht nur noch um schnelle Vermittlung.
Adamy: "Jeder fünfte Langzeitarbeitslose, der eine Stelle findet, findet sie nur in der Leiharbeit. Dann sind sie aber nach relativ kurzer Zeit wieder arbeitslos. Oder sie finden nur eine Tätigkeit im Handel oder im Gastgewerbe, und wir haben festgestellt, dass die Arbeitsverhältnisse, die Langzeitarbeitslose finden, davon etwa jedes fünfte nach einem Monat wieder beendet ist."

Qualifizierung allein reicht oft nicht aus

Doch auch wenn mehr in nachhaltige Qualifizierung investiert würde, allein mit arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen lässt sich Langzeitarbeitslosigkeit nicht mehr bekämpfen. Dazu sind die sozialen, körperlichen und psychischen Probleme der Betroffenen zu verfestigt. Also müssten Jobcenter und Sozialfürsorge Hand in Hand arbeiten:
Adamy: "Hier gibt es durchaus Modellversuche, wo der Arbeitsvermittler und die Unterstützungskraft des Jugendamtes zusammen an einem Schreibtisch sitzen.
Wilhelm Adamy hat so ein Projekt besucht.
"Ich habe mit den Betroffenen und einer alleinerziehenden Frau gesprochen, was denn das Besondere an diesem Modellprojekt ist. Die Frau, die vermittelt wurde in Arbeit, sagte: die Menschlichkeit."
Die Arbeitsvermittler indes hätten erkannt, dass es in manchen Fällen nichts bringt, eine Vermittlung in den Arbeitsmarkt zu erzwingen, wenn nicht vorher andere Probleme gelöst wurden:
"Hier hat der Vertreter der Jugendhilfe gesagt: Wir müssen die Vermittlung im Moment zurückstellen, weil die soziale Stabilisierung des Haushaltes erforderlich ist. Dann fragte ich den Vermittler: Wenn Sie jetzt nicht hier am Schreibtisch sitzen, was hätten Sie denn dann getan? Er sagte: Ich hätte theoretisch die Jugendhilfe angerufen, aber ich hätte die Zeit nicht gehabt und hätte wahrscheinlich Sanktionen verhängt."
Letztlich können aber selbst die besten Modellprojekte nicht darüber hinwegtäuschen, dass sich nicht alle Langzeitarbeitslosen in den regulären Arbeitsmarkt integrieren werden lassen. Das liegt auch am deutschen Sozialrecht.
Betzelt: "Jeder, der einigermaßen krauchen kann und noch in der Lage ist, drei Stunden am Tag was Effektives zu tun, gilt hier als erwerbsfähig."
Und fließt damit auch in die Arbeitslosenstatistik mit ein.
"Ich denke, dass diese drei Stunden wirklich ein Witz ist. Erstens haben wir den Arbeitsmarkt dafür nicht und drei Stunden sind wirklich sehr marginal, und in anderen Ländern ist das anders, Hintergrund ist ja auch, in Deutschland ist ja auch die Erwerbsminderungsrente sehr gekürzt worden, auch der Reha-Bereich, und man hat mit diesen ganzen Umsteuerungen versucht, den Sozialstaat zu entlasten, aber es funktioniert ja offensichtlich nicht."
Sigrid Betzelt plädiert insofern dafür, den Umgang mit dem Thema Langzeitarbeitslosigkeit noch einmal ganz neu zu denken:
"Von daher wäre es schon sinnvoll, wirklich einen neuen Aufschlag zu machen und sich zu überlegen: Okay, was machen wir mit dieser Million? Und man müsst da schon noch mal stärker sortieren und überlegen, wen kann man noch motivieren, entsprechend der Fähigkeiten noch weitergebildet zu werden und dann auf den Arbeitsmarkt zu kommen? Für wen wäre vielleicht ein sozialer Arbeitsmarkt sinnvoll? Und wen müsste man wirklich berenten? Und den lässt man dann auch zufrieden."
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