Lange Nacht über Martin Luther King jr.

"Ich bin auf dem Gipfel des Berges gewesen"

Nach der Unterzeichnung des Bürgerrechts-Gesetzes am 2.7.1964 in Washington DC. reicht US-Präsident Lyndon Baines Johnson (l) den Federhalter an den Bürgerrechtler Martin Luther King weiter und gibt ihm die Hand. Das Bürgerrechtsgesetz sollte eine Gleichberechtigung der farbigen Bevölkerung in den Vereinigten Staaten von Amerika garantieren und galt als eine der wichtigsten Gesetzes-Entscheidungen in der Geschichte der USA. King wurde am 4.4.1968 im Alter von 39 Jahren in Memphis von James Earl Ray erschossen.
Martin Luther King bei der Unterzeichnung des Bürgerrechts-Gesetzes am 2.7.1964 in Washington DC. zusammen mit US-Präsident Lyndon Baines Johnson © picture-alliance / dpa / epa AFP
Von Christian Blees · 03.03.2018
Dass mit Barack Obama im November 2008 erstmals ein Afroamerikaner in das Amt des US-Präsidenten gewählt wurde, wäre ohne das Wirken eines Martin Luther King jr. (1929 - 1968) wohl undenkbar gewesen. Wie kaum jemandem nach ihm gelang es dem Bürgerrechtler, die Politik eines ganzen Kontinents zu beeinflussen.
Und obwohl Martin Luther King spätestens seit seiner Ermordung am 4. April 1968 zu einer Legende wurde, hält sich das Wissen über dessen Leben und Wirken - nicht nur bei jüngeren Generationen - in Grenzen.
Dies will die Lange Nacht anlässlich Martin Luther Kings 50. Todestag ändern. Zeitzeugen kommen zu Wort, die mit dem prominenten Kämpfer gegen Rassismus, Krieg und Armut privat und beruflich eng vertraut waren. Darüber hinaus hinterfragt die Sendung, wie viel von Kings berühmten Traum, in einer Welt ohne Rassenprobleme zu leben, in den USA bis heute wahr geworden ist.

Lesen Sie das komplette Manuskript zur Sendung in seiner ungekürzten Vorsendefassung hier: Manuskript als PDF/Manuskript als TXT. Die Webbegleitung zu dieser Sendung ergänzt und fokussiert das Thema der Sendung, bietet einen eigenen Zugangsweg zu dem Thema.


Kings Wirken als Gemeindepfarrer
Juandalynn Abernathy ist als Baby von Martin Luther King persönlich getauft worden. Juandalynn ist die älteste Tochter von Ralph Abernathy, Martin Luther Kings engstem Freund und Vertrauten. Sie wächst ab Mitte der 1950er-Jahre im Süden der USA auf – in Montgomery, der Hauptstadt des Bundesstaates Alabama. 40 Prozent der 120.000 Einwohner in Montgomery sind Schwarze. Die Rassentrennung in Restaurants, Schulen und an öffentlichen Plätzen gehört hier seit jeher zum Alltag. Auch gibt es für Schwarze und Weiße getrennte Toiletten. Der tägliche Rassismus begegnet der kleinen Juandalynn auch im engsten Freundeskreis. Eines Tages darf Susan, eine weiße Klassenkameradin, bei ihr übernachten.
"Ich dachte, sie war meine Freundin. Sie hat bei mir übernachtet. Und sie war schockiert, als sie in unser Haus kam. Ich weiß nicht, was sie gedacht hat, ob wir in einer Hütte wohnen. Und später habe ich erfahren, dass ihre Mama zu ihr gesagt hat, sie dürfe nicht bei uns baden. Weil: Wenn sie bei uns baden würde, dann würde meine Hautfarbe auf sie kommen – solch ein Quatsch. Auf jeden Fall, sie hat das Badezimmer nie benutzt und hat die Handtücher auch nicht benutzt. Und dann habe ich sie gejagt auf den Spielplatz. Mithilfe von Yolanda und ein paar anderen Kindern."
Juandalynns Vater, Ralph Abernathy, ist Pfarrer der First Baptist Church in Montgomery. Wie alle anderen Schwarzen sieht auch er sich immer wieder mit rassistischen Bemerkungen oder Vorfällen konfrontiert. Dennoch predigt Ralph Abernathy seiner Gemeinde immer wieder, selbst im Falle gewalttätiger Übergriffe durch Weiße nie mit Gegengewalt zu reagieren. Der Pfarrer ist überzeugt davon, dass sich die Aufhebung der Rassentrennung - wenn überhaupt - nur gewaltfrei erreichen lässt. Umso enttäuschter ist er deshalb über die Reaktion seiner eigenen Tochter.
Nur wenige Straßenblocks entfernt von der First Baptist Church, der Ralph Abernathy vorsteht, befindet sich eine weitere Kirchengemeinde. Betreut wird sie von Ralph Abernathys Freund und Kollegen Martin Luther King junior. King, dessen Vater ebenfalls als Pfarrer arbeitet, hat sich schon während seines Theologiestudiums für die Schriften Mahatma Gandhis interessiert und sich von diesem inspirieren lassen. Eigentlich hätte ihm eine glänzende akademische Karriere offen gestanden. Doch Martin Luther King entscheidet sich anders. Im September 1954 tritt er eine Stelle als Pastor in der Dexter Avenue Baptist Church von Montgomery, Alabama, an. Coretta King, Martins Ehefrau, schreibt später in ihren Memoiren:
"Im Kampf gegen die allgegenwärtige Rassendiskriminierung hält Martin Luther King es genauso wie sein Freund und Kollege Ralph Abernathy: Gewalt als Mittel der Auseinandersetzung lehnt er strikt ab."
Rosa Parks Verhaftung
Rosa Parks
US-Bürgerrechtlerin Rosa Parks.1955 wurde sie verhaftet, weil sie sich in Montgomery, Alabama, weigerte, ihren Platz im Bus für einen weißen Fahrgast zu räumen.© imago/UIG
Am 1. Dezember 1955 wird die schwarze Näherin Rosa Parks verhaftet – und zwar nur deshalb, weil sie sich geweigert hat, ihren Sitzplatz im Bus für einen weißen Fahrgast freizumachen. Octavia Vivian, eine Freundin der Familie King, erklärt rückblickend die Bedeutung von Rosa Parks’ Verhaftung für all das, was anschließend in den USA passieren wird.
"Mrs. Parks, eine sehr charmante Frau mit einwandfreiem Ruf und Charakter, gehörte in der afroamerikanischen Gemeinde zu den am meisten respektierten Personen. Es war irgendwie geheimnisvoll, dass diese scheue, kleine Dame ins Gefängnis musste. Es schweißte die afroamerikanische Gemeinde zu einer Einheit zusammen."
Martin Luther King erklärt sich dazu bereit, den Widerstand der afroamerikanischen Bürgerinnen und Bürger gegen Rosa Parks’ Verhaftung zu organisieren. Er und Ralph Abernathy fordern ihre Gemeindemitglieder auf, sich ab sofort nur noch zu Fuß oder per privater Fahrgemeinschaft auf den Weg zur Arbeit zu machen – auf keinen Fall aber mehr mit dem Bus.
Was zunächst kaum jemand zu hoffen wagt, klappt tatsächlich: Von einem Tag auf den nächsten verlieren die Busse in Montgomery praktisch alle ihre farbigen Fahrgäste. Der Boykott hält über ein Jahr lang an. Den betroffenen Transportunternehmen droht der wirtschaftliche Kollaps. Dann, endlich, fällt das oberste Gericht der USA ein entscheidendes Urteil: Die Rassentrennung in öffentlichen Verkehrsmitteln wird aufgehoben. Martin Luther King weiß, dass dies erst der Anfang eines langen Weges ist.
"Freiheit lässt sich nur durch ständigen Widerstand erreichen, durch ständiges Agitieren, durch ständiges Aufstehen gegen das System des Bösen. In den Bussen von Montgomery gibt es keine Rassentrennung mehr. Aber glaubt nicht, ihr könnt jetzt deswegen eure Hände in den Schoß legen." (King)
April/Mai 1963: Demonstration in Birmingham
Die Familie King ist inzwischen von Montgomery nach Atlanta umgezogen. Hier befindet sich das Hauptquartier der Southern Christian Leadership Conference, von wo aus an Ostern 1963 eine der wichtigsten Großdemonstrationen gegen die Rassentrennung überhaupt organisiert wird. Stattfinden soll diese in der Industriemetropole Birmingham im Bundesstaat Alabama. Martin Luther King weiß auch ganz genau, warum.
"Im ganzen Land gab es keinen Ort, der mit Birmingham vergleichbar gewesen wäre. So lange sind die Menschenrechte hier mit Füßen getreten worden, dass Angst und Unterdrückung schwelend über der Stadt lagen – wie der giftige Qualm der Fabriken."
Insgesamt 17 Bombenanschläge auf schwarze Kirchen hat es in Birmingham in den vergangenen sechs Jahren gegeben. Hinzu kommt, dass der rechtsradikale Ku-Klux-Klan die afroamerikanische Bevölkerung regelmäßig mit Märschen durch die Schwarzenviertel einzuschüchtern versucht, ohne dass die örtliche Polizei ernsthaft dagegen vorgeht. Anfang April 1963 machen sich mehrere Dutzend schwarze Bürgerrechtler trotz eines offiziellen Demonstrationsverbotes auf den Weg in das weiße Geschäftsviertel der Stadt. Mit Martin Luther King und Ralph Abernathy an der Spitze fordern sie unter anderem, die Rassentrennung in den Geschäften aufzuheben und schwarze Angestellte besser zu bezahlen. Sämtliche Demonstranten werden von der Polizei verhaftet.
Martin Luther King jr. bei einem Protest der schwarzen Bürgerrechtsbewegung im Jahr 1966.
Martin Luther King jr. bei einem Protest der schwarzen Bürgerrechtsbewegung im Jahr 1966.© imago/UIG
Hier, in einer Einzelzelle, schreibt Martin Luther King seinen berühmten "Brief aus dem Gefängnis von Birmingham". Das Schreiben richtet sich an acht weiße, lokale Geistliche unterschiedlicher Konfessionen. Sie alle haben Kings Vorgehen zuvor als "unklug" bezeichnet und stellen ihren Kollegen als Extremisten hin. Der Bürgerrechtler, so behaupten sie, sei von außerhalb nach Birmingham gekommen, um den Frieden zu stören. In seinem Brief antwortet King:
"Ihr habt unsere Tätigkeit in Birmingham als "extrem" bezeichnet. War nicht Jesus ein Extremist der Liebe, als er forderte: Liebt eure Feinde, tut Gutes jenen, die euch hassen und verfolgen?"
Nach acht Tagen Haft werden Martin Luther King und Ralph Abernathy freigelassen. Sie machen sich umgehend daran, eine Großdemonstration zu organisieren. Erneut in Birmingham – und diesmal unter Beteiligung Tausender Kinder und Jugendlicher. Das Medieninteresse ist riesig. Das Fernsehen berichtet live. Bull Connors, der berüchtigte lokale Polizeichef, verliert daraufhin die Nerven. Coretta King erinnert sich.
"Er konzentrierte Polizei in den Straßen um die Sixteenth Street Church. Als Tausende Kinder und Teenager auf sie zu marschierten, befahl er, die Wasserwerfer aufzudrehen. Die Wucht des Wassers warf die Kinder flach zu Boden und riss einigen von ihnen die Kleider vom Leib. Dann ließ Connor die Polizeihunde los, die bellend und beißend zwischen die Kinder fuhren."
Die Bilder, die das Fernsehen überträgt, verfehlen ihre Wirkung nicht. Im Weißen Haus in Washington treffen unzählige Telegramme ein. Präsident Kennedy sieht sich gezwungen, einen Abgesandten nach Birmingham zu entsenden, um die Lage vor Ort zu entschärfen. Nach zähen, wochenlangen Verhandlungen lenken die Geschäftsleute und der Stadtrat von Birmingham endlich ein. Die Rassentrennung in Toiletten, Erfrischungs- und Anproberäumen wird aufgehoben. Auch ist es in Zukunft untersagt, Schwarze bei ihrer Einstellung oder Beförderung in Industrie, Wirtschaft, Handel und Kirche wegen ihrer Hautfarbe zu diskriminieren.
28. August 1963: "I have a dream"
Martin Luther King am 28. August 1963 in Washington, D. C. winkt den Demonstranten zu.
Martin Luther King am 28. August 1963 in Washington, D. C. © AFP
Martin Luther King gibt sich mit diesem Teilerfolg nicht zufrieden. Denn die Rassentrennung ist keineswegs nur ein lokales oder regionales Problem, sondern durchaus ein nationales. Um das zu verdeutlichen, haben sich am 28. August 1963 vor dem Capitol in Washington über 200.000 Menschen versammelt. Unter ihnen sind auch Ralph Abernathy und seine Kinder. Sie alle bekommen hautnah mit, wie Martin Luther King seine berühmteste Rede hält.
"Als die Architekten unserer Republik die großartigen Worte der Verfassung und der Unabhängigkeitserklärung geschrieben haben, haben sie einen Schuldschein unterzeichnet, zu dessen Einlösung alle Amerikaner berechtigt sein sollten. Dieser Schein enthielt das Versprechen, das allen Menschen – schwarzen Menschen ebenso wie weißen – die unveräußerlichen Rechte auf Leben, Freiheit und den Anspruch auf Glück garantiert würden. Darum sind wir gekommen, diesen Scheck einzulösen – einen Scheck, der uns auf Verlangen die Reichtümer der Freiheit und die Sicherheit der Gerechtigkeit geben wird. Ich habe einen Traum, dass eines Tages diese Nation sich erheben und der wahren Bedeutung ihres Credos entsprechend leben wird. Wir halten diese Wahrheit für selbstverständlich, dass alle Menschen gleich erschaffen sind. Ich habe einen Traum, dass meine vier kleinen Kinder eines Tages in einer Nation leben werden, in der man sie nicht nach ihrer Hautfarbe, sondern nach ihrem Charakter beurteilen wird."
"I have a dream that my four children will one day live in a nation where they will not be judged by the colour of their skin but by the content of their character."
Nach weiteren Übergriffen auf Schwarze wird Anfang August 1965 der Voting Rights Act erlassen, der es auch Afroamerikanern erlaubt, an Wahlen teilzunehmen. King - er ist inzwischen sogar mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet worden – weiß, dass auch damit der Kampf noch lange nicht gewonnen ist. Dazu der Historiker David J. Garrow:
"Mitte der 60er-Jahre wird King und anderen allmählich klar, dass wirtschaftliche Ungleichheit und Armutsfragen für schwarze Amerikaner ein genauso großes Problem darstellen wie Rassismus und Diskriminierung. Darum erweitert King 1965/66 seinen Themenkatalog entsprechend. Und anstatt sich selbst zu seinen Siegen zu gratulieren, die er in Sachen Antirassismus errungen hat, sieht er sich nun mit der Tatsache konfrontiert, dass das, was zu tun ist, viel schwieriger ist als alles, was er sich bis dahin vorgestellt hat. Neben seinem Engagement für einen wirtschaftlichen Wandel wird King ab 1967 auch zu einem ausgesprochenen Kritiker des Vietnamkriegs."

Über David J. Garrow:
David J. Garrow arbeitet als Autor und Lehrbeauftragter, zuletzt als Professor an der University of Pittsburgh. Er ist 1987 für seine King-Biografie mit dem Pulitzer-Preis ausgezeichnet worden.

Letze Rede in Memphis
Als Martin Luther King Anfang April 1968 nach Memphis kommt, hat er etwas gutzumachen. Der Journalist Earl Caldwell, der zu dieser Zeit für die "New York Times" arbeitet, erinnert sich.
"Als er zum ersten Mal nach Memphis gekommen war, hatte ein Protestmarsch stattgefunden, der schon im Gange war, als King auf der Bildfläche erschien. Der Marsch endete in Krawallen, bei denen ein Jugendlicher getötet wurde. Anschließend beschloss Martin, mit seinen eigenen Leuten aus der Bürgerrechtsbewegung wiederzukommen. Er wollte eine neue Demonstration anführen – die diesmal gewaltfrei ablaufen sollte."

Über Earl Caldwell:
Es ist Freitag, kurz nach drei Uhr nachmittags, in New York City. In einem kleinen Rundfunkstudio im Stadtteil Manhattan sitzt ein farbiger Journalist am Mikrofon und begrüßt die Hörer zu seiner wöchentlichen Radiosendung. Sein Name ist Earl Caldwell. Caldwell, Jahrgang 1935, zählt zu den herausragenden Journalisten der USA. 1979 ist er der erste Farbige, der Kolumnen für eine der führenden Tageszeitungen des Landes schreibt. 1995 wird er von der Vereinigung Schwarzer Journalisten mit dem renommierten "President’s Award" ausgezeichnet. Nicht nur deshalb ist Earl Caldwell ein ganz besonderer Reporter. Er ist auch als einziger Journalist vor Ort, als der schwarze Bürgerrechtler Martin Luther King in Memphis erschossen wird. Die Uhr zeigt genau eine Minute nach 18 Uhr, am Donnerstag, dem 4. April 1968. Earl Caldwell befindet sich in seinem Zimmer im Erdgeschoss des Lorraine Motels. Hier ist auch Martin Luther King abgestiegen. Die Zimmertür ist nur angelehnt. Plötzlich hört Earl Caldwell draußen einen lauten Knall. Mit zwei Schritten ist er an der Tür.

Am Abend desselben Tages ist in Memphis in einer großen Kirche eine Massenversammlung geplant. Es geht darum, die Menschen einzustimmen auf den großen Protestmarsch zugunsten der städtischen Müllfahrer, der in Kürze stattfinden soll. Im Mason Temple haben sich mehrere Tausend Zuhörer versammelt. Alle warten darauf, Martin Luther King reden zu hören. Doch der ist wegen der Strapazen der vergangenen Tage völlig erschöpft und will eigentlich lieber in seinem Motelzimmer bleiben. Auf Ralph Abernathys Drängen macht sich Martin Luther King schließlich doch noch auf den Weg zum Mason Temple. Er will die 4000 Zuhörer, die dort auf ihn warten, nicht enttäuschen. Als er in der Kirche ankommt, wird er frenetisch begrüßt. Dann hält King die letzte öffentliche Rede seines Lebens.
"Ich weiß nicht, was jetzt geschehen wird. Schwierige Tage liegen vor uns. Aber das macht mir jetzt wirklich nichts aus. Denn ich bin auf dem Gipfel des Berges gewesen. Ich mache mir keine Sorgen. Wie jeder andere würde ich gerne lange leben. Langlebigkeit hat ihren Wert. Aber darum bin ich jetzt nicht besorgt. Ich möchte nur Gottes Willen tun. "
4. April 1968: die Ermordung Martin Luther Kings
"Ich stehe in der Türöffnung und blicke mich um. Was ist passiert? Ich schaue raus, und auf dem Balkon über mir sehe ich ein paar von Kings Leuten hektisch herumspringen. Ich frage mich, was die da machen. Ich sehe mich um, um festzustellen, ob irgendjemand einen Feuerwerkskörper angezündet hat. Da bemerke ich plötzlich in einem Gebüsch auf der anderen Straßenseite einen Mann. Das Gebüsch ist sehr dicht, so dass sich dort sehr leicht jemand verstecken kann. Der Typ starrt rüber in meine Richtung, und ich versuche herauszufinden, wo genau er hinschaut. Denn dadurch, so glaube ich, wird er mir verraten, was eigentlich los ist." (Earl Caldwell)
Earl Caldwell sieht, wie der Unbekannte aus dem Dickicht hervorkriecht und das Weite sucht. Erst dann bekommt der Journalist mit, was genau passiert ist. Schräg über ihm, auf dem Balkon des Motels, liegt Martin Luther King im Sterben. Auf dem Parkplatz vor dem Motel begegnet Earl Caldwell einem Augenzeugen. Er heißt Solomon Jones und ist Martin Luther Kings Chauffeur. Als der Schuss gefallen ist, hat Jones in seinem Wagen auf King gewartet. Auch er hat den Mann im Gebüsch gesehen. Und nicht nur das. Jones ist auch sicher, dass von dort der tödliche Schuss abgegeben worden ist. Als der Mann davongelaufen sei, so Jones, habe er ihm eigentlich folgen wollen. Doch der sei in der schnell wachsenden Menschenmenge verschwunden. Was Earl Caldwell zu diesem Zeitpunkt noch nicht weiß: Er hat aller Wahrscheinlichkeit nach Martin Luther Kings Mörder gesehen. King wurde am 4. April 1968 erschossen.
Trailer zum Film "Selma" (2014) über Martin Luther King auf Youtube:
Earl Caldwell fliegt gleich am nächsten Morgen nach Atlanta. Dorthin wird auch Martin Luther Kings Leiche gebracht. Viele Schulen, Verwaltungsgebäude und Geschäfte bleiben als Zeichen der Anteilnahme an diesem Tag geschlossen. Präsident Lyndon B. Johnson erklärt Sonntag, den 7. April, zum nationalen Trauertag. Wichtige Sport- und Kulturveranstaltungen werden verschoben oder ganz abgesagt. Bei Kings Familie in Atlanta treffen Tausende von Beileidsbriefen und –telegrammen aus der ganzen Welt ein. Coretta King, die Witwe, schreibt in ihren Memoiren.
"Der Tod meines Mannes hatte allerdings auch ein bedauerliches Nachspiel. In 63 Städten des Landes brachen Krawalle aus. Obwohl ich die Verzweiflung verstand, mit der die Anführer auf Martins Tod reagierten, so war es doch nicht der rechte Tribut für einen Prediger der Gewaltlosigkeit."
Als die Redaktion der "New York Times" durch Caldwell vom Attentat erfährt, schickt sie sofort ihre schwarzen Reporter in das Stadtviertel, in dem die meisten Afro-Amerikaner leben.
Beerdigung von Martin Luther King am 9. April 1968
Schließlich findet am Dienstag, dem 9. April 1968, in Atlanta Martin Luther Kings Beerdigung statt. Zuvor erhalten die engsten Angehörigen und Freunde Gelegenheit, am offenen Sarg Abschied zu nehmen.
Noch 40 Jahre später kämpft Juandalynn Abernathy mit den Tränen, wenn sie an diesen Tag zurück denkt. Sie wird auch nie vergessen, welchen Schock Martin Luther Kings Tod bei ihrem Vater auslöst. Zehn Jahre lang haben beide Männer fast jeden Tag miteinander verbracht. Jetzt steht Ralph Abernathy plötzlich und für immer ohne seinen engsten Freund und Weggefährten da.
"Wir haben immer gedacht: Was ist mit ihm los? Er war so still, so nachdenklich, so traurig, so leer. Und das waren viele Jahre, wo mein Vater einfach leer war."
Trotz seiner tiefen persönlichen Betroffenheit ist es Ralph Abernathy, der den Trauergottesdienst für Martin Luther King abhält. In der Ebeneezer Baptist Church in Atlanta finden nur 750 Menschen Platz. Gekommen sind 150.000.
Die Umstände der Ermordung
Earl Caldwell ist nur einen Tag in Atlanta geblieben, um von dort aus für die "New York Times" über die Vorbereitungen zur Trauerfeier zu berichten. Jetzt, rund 36 Stunden nach Kings Ermordung, kommt der Journalist wieder zurück nach Memphis. Er will seine restlichen Sachen aus dem Zimmer im Lorraine Motel abholen, die er dort zwei Tage zuvor zurückgelassen hat. Als er dort ankommt, erlebt Caldwell eine Überraschung.
"Ich komme zurück in mein Zimmer im Motel, und als ich vor meiner Tür stehe, schaue ich mich um. Irgendetwas stimmt nicht. Nur was? Dann sehe ich es: Das Gebüsch, in dem ich unmittelbar nach dem Schuss den Mann gesehen hatte, in dem ihn auch Solomon Jones gesehen hatte – es war komplett verschwunden. Jemand hatte den Tatort total verändert und alles dem Erdboden gleichgemacht. Von den Büschen war nichts mehr da."
Earl Caldwell wundert sich über noch etwas ganz anderes: Weder die Polizei noch das FBI wollen offenbar von ihm wissen, was er zur Tatzeit gehört oder gesehen hat. Also meldet er sich selbst bei den Ermittlern – und erlebt die nächste Überraschung. Dass er - und auch Martin Luther Kings Chauffeur - im Gebüsch gegenüber vom Motel einen unbekannten Mann gesehen haben, scheint niemanden zu interessieren. "Dort war nie ein Gebüsch", bekommt Caldwell zu hören. Also könne sich dort auch niemand versteckt gehalten haben. Doch der Journalist weiß, was er gesehen hat – und so fängt er an, auf eigene Faust zu recherchieren. Er will herausfinden, ob vielleicht jemand vom örtlichen Gartenbauamt das Dickicht aus irgendeinem Grund hat beseitigen lassen.
Die Polizei bestreitet, dass der tödliche Schuss aus jenem Gebüsch gekommen sein könnte, in dem Earl Caldwell nur Sekunden nach der Tat den mysteriösen Fremden gesehen hat. Denn das hat ja angeblich gar nicht existiert.
Stattdessen konzentrieren sich die offiziellen Nachforschungen der Ermittler von Beginn an auf eine Pension. Diese befindet sich knapp hundert Meter Luftlinie entfernt vom Lorraine Motel, auf der anderen Straßenseite – und zwar am hinteren Ende exakt jenes Geländes, auf dem sich laut Caldwell im Vordergrund kurz zuvor noch das Gebüsch befunden hat. Laut Polizei ist der tödliche Schuss von einem Badezimmerfenster der Pension aus abgegeben worden. Darauf deuten Spuren hin sowie ein Bündel, das der vermeintliche Täter offenbar kurz nach der Tat vor dem Eingang der Pension zurückgelassen hat. Das Bündel enthält unter anderem ein Gewehr – vermutlich die Tatwaffe. Die Ermittlungen der Polizei führen dazu, dass zwei Monate nach dem Attentat in London ein Mann verhaftet wird. Sein Name ist James Earl Ray. Rays Fingerabdrücke stimmen mit Fingerabdrücken auf dem Gewehr überein, das die Polizei unmittelbar nach der Tat am Eingang der Pension sichergestellt hat.
James Earl Ray ist 41 Jahre alt und hat bis zu seiner Verhaftung die Hälfte seines Lebens im Gefängnis verbracht. Auf sein Konto gehen vor allem Diebstähle und Raubüberfälle. Neun Monate später, im März 1969, wird Ray in Memphis vor Gericht gestellt. Wer aber mit einem spektakulären Prozess gerechnet hat, der wird enttäuscht. Percy Foreman, Rays Verteidiger, überrascht die Öffentlichkeit mit einem verblüffenden Schachzug: Sein Mandant, so verspricht Foreman, wird sich gleich zu Prozessbeginn zum Mord an King schuldig bekennen – unter der Voraussetzung, dass ihm dafür der elektrische Stuhl erspart bleibt. Eine langwierige Gerichtsverhandlung mit umfangreicher Beweisaufnahme und Zeugenverhören wäre damit hinfällig.
Der vorsitzende Richter erklärt sich mit dem Angebot des Verteidigers einverstanden. Die Mitglieder der Geschworenen-Jury werden zu Beginn der Verhandlung unter Druck gesetzt: Wer der Abmachung zwischen Gericht und Verteidigung nicht zustimmt, wird ausgetauscht. Der Rest des Prozesses ist reine Formsache. James Earl Ray bekennt sich schuldig. Allerdings weicht er in einem kleinen Detail von dem ab, was zuvor zwischen Verteidigung und dem Richter vereinbart worden ist: In seinem kurzen Statement besteht Ray ausdrücklich darauf, nicht alleine gehandelt zu haben. Stattdessen behauptet er, Teil einer Verschwörung gewesen zu sein.
Damit sorgt er bei den anwesenden Reportern für erhebliche Unruhe – nicht aber beim vorsitzenden Richter oder seinem eigenen Anwalt. Beide scheinen von dieser Behauptung völlig unbeeindruckt. So wird James Earl Ray nach kurzer Gerichtsverhandlung zu 99 Jahren Haft verurteilt. Für die Justiz ist der Fall damit offiziell erledigt. Die "New York Times" kommentiert am nächsten Tag.
"Der verkürzte Prozess gegen James Earl Ray ist ein schockierender Vertrauensbruch für die amerikanischen Bürger, weiß wie schwarz."
Die persönliche Abneigung des FBI-Chefs
Könnte es wirklich sein, dass in das Attentat auf Martin Luther King Regierungsstellen verwickelt waren? Bekannt ist immerhin, dass King erstmals schon Anfang der 60er-Jahre in den Fokus der Bundespolizei FBI gerät. Ein Mitarbeiter Kings, Stanley Levison, ist in den 50er-Jahren einer der führenden Köpfe der kommunistischen Partei der USA gewesen. Seitdem hat ihn das FBI regelmäßig überwacht. Jetzt kümmert sich Levison unter anderem darum, Spendengelder für Kings Southern Christian Leadership Conference einzutreiben.
FBI-Chef J. Edgar Hoover bittet Präsident John F. Kennedy und Justizminister Robert Kennedy darum, Stanley Levison abhören zu dürfen. Er will feststellen lassen, ob Martin Luther King – und damit die gesamte schwarze Bürgerrechtsbewegung - durch Levison tatsächlich kommunistischen Einflüssen unterliegt.
"1962/63 musste das FBI feststellen, dass Levison – obwohl man ihn rund um die Uhr abhörte – in keiner Weise die kommunistische Partei oder gar die Sowjetunion vertrat oder dass seine Ratschläge an King in irgendeiner Art und Weise kommunistische Tendenzen enthielten." (David J. Garrow)
Dass Martin Luther King kommunistischer Infiltration ausgesetzt ist, hat ihm das FBI im Zuge umfangreichen Abhöraktivitäten nicht nachweisen können. Dennoch behält die Bundespolizei den Bürgerrechtler weiter im Auge. Grund dafür ist in erster Linie eine Pressekonferenz, auf der sich Martin Luther King über das FBI beschwert. Vor allem in den südlichen Bundesstaaten, so King, würden die Mitarbeiter des FBI meist tatenlos zusehen, wenn der rechtsradikale Ku-Klux-Klan die Gebäude schwarzer Kirchengemeinden in Brand setzt oder anderweitig mit Gewalt gegen schwarze Bürgerrechtler vorgeht. Kings öffentlich geäußerter Vorwurf bringt FBI-Chef J. Edgar Hoover in Rage. Ein FBI-Mitarbeiter erinnert sich:
"Auf jeden Fall war das der Zeitpunkt, an dem Hoover seinen persönlichen Rachefeldzug gegen King ins Rollen brachte. In den 20 Jahren, die ich für das FBI gearbeitet habe, habe ich wirklich viele Untersuchungs- und Fahndungsaktionen mitbekommen. Aber das, was von da an in Sachen King angeleiert wurde, war einfach einmalig."
Der Zeitpunkt für Kings Ermordung könnte aus Sicht seiner politischen Gegner jedenfalls kaum günstiger gewählt worden sein. Denn King steht im Frühjahr 1968 unmittelbar vor dem größten politischen Kraftakt seines Lebens.
"In den letzten acht, neun Monaten seines Lebens plant King einen Marsch der Armen in die US-Hauptstadt Washington. Dieser soll im April 1968 stattfinden." (David J. Garrow)
Ursprünglich hätten im Mai 1968 Hunderttausende Mitglieder der untersten Einkommensschichten aus den ganzen USA nach Washington marschieren sollen – unabhängig von ihrer ethnischen Herkunft und Hautfarbe. Jetzt, nach Kings Ermordung, fällt der Protestmarsch vergleichsweise bescheiden aus.
Journalistische Recherchen rund um die Ermordung
Earl Caldwell lässt die aus seiner Sicht schlampige Fahndungsarbeit des FBI keine Ruhe. Eines Tages macht ihn ein Kollege auf einen Obdachlosen namens Harold Carter aufmerksam. Carter hat sich an dem Abend, an dem King erschossen wird, auf dem Grundstück gegenüber vom Lorraine Motel niedergelassen. Seine Behausung besteht aus einem großen Umzugskarton. Sie befindet sich in unmittelbarer Nähe zu dem Gebüsch, aus dem Earl Caldwell und Salomon Jones den unbekannten Mann haben hervor kriechen sehen. Um kurz vor 18 Uhr hat es sich Harold Carter in seiner primitiven Unterkunft gerade bequem gemacht. Da hört er plötzlich Schritte. Als er vorsichtig nach draußen schaut, sieht er einen Mann mit ungewöhnlich weiten Hosen. Die Aussage des Obdachlosen, von der Caldwell durch den Kollegen erfährt, deckt sich mit seinen eigenen Beobachtungen und auch mit dem, was Solomon Jones gesehen hat. Es sieht tatsächlich so aus, als sei der tödliche Schuss nicht aus dem Badezimmerfenster der Pension gekommen, sondern aus dem Gebüsch. Caldwell fasst neuen Mut – und recherchiert weiter.
"Etwa einen Monat später rief mich jemand an und sagte: Mach dich auf den Weg nach Summerville, Tennesse, und wende dich an einen Typen namens John McFerren. Er weiß etwas, das du dir unbedingt anhören solltest. Als ich auf der Karte nachschaute, wo dieses Summerville lag, sah ich, dass das im tiefsten Süden war – in einer Gegend, wo ich als Schwarzer nie und nimmer freiwillig hingefahren wäre. Also rief ich einen Kollegen an, Jack White. Er arbeitete in Nashville, Tennessee, und sagte mir, er würde mich begleiten. Also fuhren wir zusammen nach Summerville."
Der Informant, den Caldwell und sein Kollege zu Hause aufsuchen, hat eine interessante Information zu bieten. Er behauptet, per Zufall einem Telefongespräch gelauscht zu haben, in dem Martin Luther Kings Ermordung angekündigt worden sei. Als Earl Caldwell und Jack White aufbrechen wollen, wissen sie nicht, was sie von dieser Aussage halten sollen. Sicher ist nur: Vor dem Haus steht schon seit geraumer Zeit ein merkwürdiger Wagen. Darin sitzen zwei Männer.
"Die beiden trugen Anzug und Krawatte. Sie hatten die ganze Zeit über in ihrem Wagen gesessen und das Haus beobachtet. Auch, als wir im Haus das Licht ausknipsten, blieb der Wagen draußen stehen. Unser Informant warnte uns: "Wenn ihr zurückfahrt, dann nehmt am besten die Nebenstraße, dann sieht euch keiner." Wir folgen also seinem Rat – und als wir gerade mal drei Minuten unterwegs sind, hängen die beiden Typen mit ihrem Wagen schon an unserer Stoßstange. Wir versuchen sie abzuschütteln – vergeblich. Als wir in die Berge kommen, ist der andere Wagen plötzlich neben uns und versucht, uns von der Straße abzudrängen. Wenn die es geschafft hätten, uns den Berg hinunterzuschubsen, dann könnte ich heute nicht davon erzählen."
Earl Caldwell wird das Ganze allmählich unheimlich. Er beschließt, seine Recherchen in einem Buch zu verarbeiten. Also macht er sich noch einmal auf den Weg nach Memphis, um Harold Carter, den Obdachlosen, aufzuspüren. Auch will er Solomon Jones noch einmal interviewen. Aber der Journalist hat keinen Erfolg: Harold Carter ist inzwischen tot. Und Solomon Jones, Kings ehemaliger Chauffeur, scheint plötzlich wie vom Erdboden verschluckt. Earl Caldwell schreibt sein Manuskript trotzdem. Als er es schließlich allen möglichen Verlagen anbietet, hagelt es dutzendweise Absagen.
Ein anderer Autor namens Gerold Frank hat offenbar mehr Glück. Schon 1972 veröffentlicht er ein eigenes Buch zum Attentat auf Martin Luther King. Es trägt den Titel "An American Death" – "Ein amerikanischer Tod" – und beschreibt den offiziellen Mörder, James Earl Ray, als rassistisch gesinnten Einzeltäter. Wiederum ein paar Jahre später taucht in den Akten des FBI ein handschriftlicher Vermerk auf. Dieser ist datiert vom 11. März 1969. In dem Vermerk heißt es:
"Jetzt, wo Ray verurteilt ist, möchte ich vorschlagen, dass uns der Direktor erlaubt, einen verlässlichen Autor zu bitten, ein Buch über den Fall zu schreiben."
Neue Erkenntnisse durch den vermeintlichen Attentäter
Im Gegensatz zu Earl Caldwell gibt sich die Öffentlichkeit weitgehend mit der offiziellen Version zufrieden. Erst Ende der 1970er-Jahre kommt neue Bewegung in den Mordfall King. Das liegt unter anderem auch daran, dass sich ausgerechnet der vermeintliche Attentäter selbst zu Wort meldet. Ralph Abernathy ist das Gefühl nie richtig losgeworden, dass James Earl Ray schon in dem Aufsehen erregenden Prozess im März 1969 die Wahrheit gesagt hat, nämlich, dass er Teil einer Verschwörung gewesen ist. Jetzt, acht Jahre später, lassen ihm die dauernden Anrufe des angeblichen Attentäters keine Ruhe. Ralph Abernathy beschließt, James Earl Ray im Gefängnis zu besuchen. Ralph Abernathy will sich dabei aber nicht nur auf sein eigenes Urteil stützen. Darum wendet er sich an William Pepper.
"Das war im August 1978. Ralph Abernathy rief also an und fing an, mit mir über das Attentat zu diskutieren. Er fragte, ob ich dazu bereit wäre, in seinem Beisein James Earl Ray im Gefängnis einer Befragung zu unterziehen. Ich fragte ihn, warum. Immerhin seien seit dem Mord über zehn Jahre vergangen, und es gebe doch wohl keinen Zweifel daran, dass Ray der Täter sei. Er sagte: Ich will ihn einfach mal kennen lernen und sehen, wie er reagiert, wenn er unter Stress gerät. Ich machte ihm klar, dass ich mich mit Rays Fall nie beschäftigt hatte." (William Pepper)

Über William Pepper:
William Pepper hat in den 1960er-Jahren als Journalist gearbeitet. Durch ihn hat Martin Luther King Anfang 1967 überhaupt zum ersten Mal von den Greueltaten erfahren, die US-amerikanische Soldaten im Vietnam-Krieg anrichten. Pepper arbeitet als Menschenrechtsanwalt.

Abernathy stellt klar, dass er selbst nie an die offizielle Version von James Earl Ray als alleinigem Attentäter geglaubt hat. Außerdem rufe der ständig bei ihm zuhause an und behaupte unablässig, er sei das Opfer einer Verschwörung. Das erste Treffen mit James Earl Ray im Brushy-Mountain-Gefängnis von Tennessee dauert fünf Stunden.
"Er war sehr ruhig und verhielt sich ganz anders, als wir es erwartet hatten. Er sprach mit leiser Stimme und war freundlich. Abernathy war sicher, dass Ray kein Rassist war. Seine Antworten kamen alle gerade heraus, und am Ende unseres Gesprächs waren wir überzeugt davon, dass er nicht der Schütze war. Wir wussten nicht, welche Rolle er gespielt hatte, aber wir waren sicher, dass er nicht geschossen hatte. Von Waffen hatte er offenbar überhaupt keine Ahnung." (William Pepper)
Wenn James Earl Ray nicht der Todesschütze war - warum hat er die Tat dann damals im Prozess überhaupt gestanden? In seiner Autobiografie, die Anfang der 1990er-Jahre erscheint, präsentiert Ray der Öffentlichkeit eine Antwort. Er behauptet, von seinem Anwalt, Percy Foreman, seinerzeit unter Druck gesetzt worden zu sein.
Als erstes macht sich der Anwalt Pepper daran, die Aussage jenes Mannes zu untersuchen, den die Staatsanwaltschaft im Prozess vom März 1969 als einzigen Augenzeugen präsentiert hat. Er heißt Charlie Stephens. Stephens will James Earl Ray direkt nach der Tat gesehen haben. Und zwar im Treppenhaus jener Pension, von der aus der tödliche Schuss auf King abgegeben worden sein soll. Das, was William Pepper in Memphis über den einzigen Belastungszeugen der Anklage erfährt, macht ihn mehr als nur stutzig.
"Über Charlie Stephens gibt es nicht viel zu sagen. Er war betrunken und hat nicht viel gesehen. Er hat sich für Geld dazu bringen lassen, das Profil von James Earl Ray auf einem Foto zu identifizieren."
Dass Stephens in der Pension tatsächlich jemanden gesehen hat, der aus dem Badezimmer gekommen und durch das Treppenhaus verschwunden ist, bestreitet selbst William Pepper nicht. Denn auch Charlie Stephens Ehefrau hat kurz nach dem Schuss dort einen Mann beobachtet. Nur schwört sie, dass es auf keinen Fall James Earl Ray gewesen ist. Grace Stephens hat diese Aussage gegenüber der Polizei schon 1968 gemacht. Wie sich herausstellt, ist sie wenig später unter falschem Namen in eine psychiatrische Klinik eingeliefert worden. Und das, obwohl sie zuvor noch nie als psychisch labil aufgefallen ist. Erst Ende der 1970er-Jahre gelingt es, Grace Stephens ausfindig zu machen. Zu diesem Zeitpunkt ist sie körperlich und seelisch schon stark in Mitleidenschaft gezogen. Trotzdem bleibt sie bei ihrer Aussage: Der Mann, der aus dem Badezimmer der Pension gekommen und durch das Treppenhaus verschwunden ist, war nicht James Earl Ray.
James Earl Rays Aussage wird auch durch zwei Indizien gestützt: Erstens sind seine Fingerabdrücke nur an dem Gewehr gefunden worden, das die Polizei am Eingang der Pension sichergestellt hat - nicht aber im Badezimmer, von dem aus er geschossen haben soll. Und: Das FBI hat bis heute nicht zweifelsfrei nachweisen können, dass die tödliche Kugel tatsächlich aus dem Gewehr abgefeuert wurde, auf dem sich Rays Fingerabdrücke befinden. Das ist aber noch nicht alles: William Pepper findet auch heraus, dass sich auf dem Gelände zwischen der Pension und Martin Luther Kings Motel zur Tatzeit tatsächlich ein Gebüsch befunden hat – genau so, wie es Earl Caldwell seit Anfang an behauptet.
William Pepper hat sich längst dazu entschlossen, in James Earl Rays Namen eine Wiederaufnahme des Verfahrens zu erreichen. Obwohl er den Justizbehörden umfangreiche neue Beweise und Zeugenaussagen vorlegt, wird sein Antrag über Jahre hinweg immer wieder abgelehnt. Das Einzige, was der Anwalt in 15-jähriger Arbeit erreicht, ist ein Fernsehprozess. Ein US-amerikanischer Kabelsender erklärt sich 1993 bereit, eine Gerichtsverhandlung zu übertragen, die unter realen Bedingungen stattfindet: Mit einem richtigen Richter, einem Staatsanwalt, einer Jury aus normalen Bürgern, mit ausführlicher Beweisaufnahme und mit der Vernehmung aller noch lebenden und auskunftswilligen Augenzeugen – darunter auch Earl Caldwell. Nach zehn Tagen mit insgesamt 50 Stunden Gerichtsverhandlung fällt die Geschworenen-Jury ihr Urteil: James Earl Ray ist unschuldig. Die Medien im Lande – bis auf den produzierenden Kabelsender - ignorieren den Fernsehprozess völlig.
James Earl Ray stirbt im April 1993, wenige Wochen nach Ausstrahlung des Fernsehprozesses.
Seit 1986 gibt es, immer am dritten Montag im Januar, mit dem "Martin Luther King Day" sogar einen gesetzlichen Feiertag zu Ehren des Bürgerrechtlers. Man sollte also annehmen, dass King und seine politische Bedeutung zumindest einmal pro Jahr in das kollektive Gedächtnis der US-Amerikaner zurückgerufen werden. Manning Marable, Leiter des Instituts für afro-amerikanische Studien an der New Yorker Columbia University:
"Es gibt zwei Martin Luther Kings. Einmal denjenigen, der 1963 auf den Stufen des Lincoln Memorials steht und seine "I have a dream"-Rede hält. Das ist der Martin Luther King, den alle kennen: Der Mann, der Demonstrationen anführt, der gegen Polizeihunde und Wasserwerfer angeht und der sich 1956 im Bus nach vorne setzt in Montgomery, Alabama. Aber es gibt noch einen zweiten Martin Luther King. Und der wird in den USA weitestgehend unterdrückt. Das ist der Martin Luther King, der sich gegen den Vietnam-Krieg ausgesprochen hat, der ein flächendeckendes Gesundheitssystem gefordert hat, der verlangt hat, dass die Regierung Banken und Unternehmen kontrollieren solle, der – wenn er auch kein demokratischer Sozialist war - zumindest ein scharfer Kapitalismus-Kritiker gewesen ist."
US-Präsident Barack Obama spricht auf einer Konferenz in Washington.
US-Präsident Barack Obama spricht auf einer Konferenz in Washington.© AFP / Saul Loeb
Am 4. November 2008 hat eine deutliche Mehrheit der US-Amerikanischen Wähler sich für den Afro-Amerikaner Barack Obama als 44. Präsidenten der Vereinigten Staaten von Amerika entschieden. Auch wenn er den Namen Martin Luther King nicht direkt ausspricht, nimmt Obama zumindest zwischen den Zeilen deutlich Bezug auf ihn und die Bürgerrechtsbewegung der 1960er-Jahre:
"Bei dieser Wahl gab es viele Premieren und viele Geschichten, die man sich noch über Generationen hinweg erzählen wird. Aber an diesem Abend denke ich vor allem an eine Frau, die heute in Atlanta wählen gegangen ist – stellvertretend für Millionen andere, die ihrer Stimme bei dieser Wahl Gehör verschaffen wollten. Mit einer Ausnahme: Diese Frau, Ann Nixon Cooper, ist 106 Jahre alt.
Sie gehört zur ersten Generation, die nach Abschaffung der Sklaverei geboren wurde, zu einer Zeit, in der es Menschen wie ihr aus zwei Gründen verboten war, zu wählen: Weil sie eine Frau war und weil sie farbige Haut hatte. Heute Abend denke ich an all das, was sie in ihrem Jahrhundert in Amerika erlebt hat – an die Kopfschmerzen und die Hoffnung, an den Kampf und den Fortschritt; an die Zeiten, in denen uns gesagt wurde, dass wir es nicht schaffen, und an die Menschen, die trotz allem weiter an dem Credo festgehalten haben: Yes, we can - Ja, wir können es schaffen."
Eines steht fest: Ohne Martin Luther King wäre die Lage für die meisten Afro-Amerikaner in den USA heute kaum besser als noch vor 40 Jahren. Heute, da sein Bild in Millionen einfacher Hütten, in gewöhnlichen Häusern und feierlichen Sälen hängt, kann man sich kaum noch vorstellen, dass er seiner eigenen Organisation verbot, sein Bild zu verbreiten. Er wollte nicht vergöttert, er wollte gehört werden. Er schrieb seinen eigenen Nachruf, um sich in den eigenen Worten seines Herzens darzustellen.
"Ich möchte, dass jemand an dem Tag sagt: "Martin Luther King jr. versuchte, mit seinem Leben anderen zu dienen." Ich möchte, dass jemand an jenem Tag sagt: "Martin Luther King versuchte, Liebe zu üben." Ich möchte, dass ihr an jenem Tag sagt, dass ich versuchte, in der Kriegsfrage auf der richtigen Seite zu stehen. Ich möchte, dass ihr sagt, ich versuchte, die Menschheit zu lieben und ihr zu dienen. Ja, wenn ihr sagen wollt, dass ich wie ein Tambourmajor vorausging, dann sagt, dass ich ein Tambourmajor für Gerechtigkeit war, dass ich ein Tambourmajor für Frieden war, dass ich ein Tambourmajor für Rechtschaffenheit war."

Produktion dieser Langen Nacht:
Autor: Stefan Zednik, Regie: Beate Ziegs, Redaktion: Dr. Monika Künzel, Webproduktion: Jörg Stroisch

Über den Autor:
Christian Blees studierte an der FU Berlin Publizistik, Politik und Theaterwissenschaften. Seit 1992 ist er als freier Journalist und Autor tätig, sehr stark für den öffentlich-rechtlichen Hörfunk. Schwerpunkt seiner Arbeit sind Radiofeatures zu kulturellen und politischen Themen, wie etwa der US-Rundfunkgeschichte, Martin Luther King, Glenn Miller, Nationalsozialismus und Stasi. Für sein Feature "Mythos JFK - Leben und Sterben des John F. Kennedy" erhielt er 2014 den Radiopreis der RIAS Berlin Kommission.