Lange Nacht über Anarchismus

Kein Gott, kein Staat, kein Vaterland

Das Wrack eines von einem Feuer zerstörten Autos steht am 03.12.2013 in Leipzig (Sachsen) in einer Nebenstraße. Darauf ist das Anarchie-Zeichen gesprüht.
"Anarchie"-Schriftzüge, wie hier in Berlin, gehören zum Straßenbild - aber was steckt hinter diesem Kampfbegriff? © dpa / Jan Woitas
Von Rolf Cantzen · 02.05.2020
Anarchie gleich Chaos – so ein sorgfältig gepflegtes Vorurteil. Aber Herrschaftsfreiheit heißt nicht unbedingt Unordnung. Tatsächlich bündelt der Anarchismus ein schillerndes Aufgebot utopischer Ideen – und ist damit hochaktuell.
"Keine Macht für Niemand", so sang in den Siebzigern die Anarcho-Band "Ton, Steine, Scherben". Dafür wurden sie und andere Anarchisten von rechts bis links scharf kritisiert: Konservative und Liberale sahen in der herrschenden Macht des Staates mit seinem Gewaltmonopol den Garanten für Recht und Freiheit. Sozialdemokraten und Kommunisten wollten Macht haben, um eine sozialistische oder kommunistische Gesellschaft zu verwirklichen.
Bereits Marx und Engels bekämpften die Anarchisten in der "Internationale". Unter Lenin in der revolutionären Sowjetunion gehörten sie zu den ersten, die von den Vertretern der Sowjetmacht liquidiert wurden. So saßen Anarchisten von jeher zwischen allen politischen Stühlen. Die maßgeblichen politischen Kräfte – von rechts bis links – hatten größtes Interesse an der bis heute gängigen Gleichsetzung: "Anarchie gleich Chaos, Gewalt und Terror."
Dabei verbindet sich mit dem Begriff Anarchismus durchaus ein positives – wenn auch vielgestaltiges – Programm, wie der Kulturwissenschaftler Olaf Briese betont: Anarchisten seien nicht einfach nur gegen Machtausübung, sondern auch "für eine möglichst herrschaftsfreie Gesellschaft, für ein Leben in Assoziationen, Kooperationen, Genossenschaften, für ein selbstbestimmtes Leben in Freiheit."

Welcher Anarchismus darf’s denn sein?

Dass sich die Gleichsetzung von Anarchie mit Chaos und Gewalt trotzdem so hartnäckig hält, hat verschiedene Ursachen. Die eine liegt in der philosophischen Tradition seit der Antike: "Der ursprüngliche Wortsinn von Anarchie bedeutet ja nichts anderes als Führerlosigkeit oder Herrschaftslosigkeit. Und die politische Phantasie seit der Antike hat nicht ausgereicht, sich ein solche Leben vorzustellen", sagt Briese.

Zwar meint Anarchie Herrschaftslosigkeit, Ablehnung einer Machtausübung, doch auf welchen Herrschafts- oder Machtbegriff sich Anarchisten beziehen, ist unklar. Oft ist die Rede von Selbstbestimmung, Dezentralität, Selbstverwaltung, Antiautoritarismus, auch von Kommunismus und Gewaltfreiheit. Es gibt und gab verschiedene Strömungen im Anarchismus, so der Politikwissenschaftler Maurice Schuhmann:
Ein Mitglied der London Anarchist Group bei einer improvisierten Rede vor Passanten am Londoner Tower.
Ein Mitglied der London Anarchist Group bei einer improvisierten Rede vor Passanten am Londoner Tower.© akg-images / Bildarchiv Pisarek
"Je nachdem, wovon man ausgeht, kann man sagen, es gibt vier Anarchismen, es gibt 8 Anarchismen. Andere Forscher sprechen von 48, besondere Schlaumeier sagen, es gibt so viel Anarchismen, wie es Anarchisten gibt, weil die alle so individuell sind. Ich denke, sinnvoll ist es, zu unterscheiden zwischen Individualanarchismus als einem Anarchismus, der stärker die liberale Seite des Anarchismus in den Fokus nimmt im Gegensatz zu einem Sozialanarchismus, der stärker die soziale, kollektiv-kommunistische Seite bevorzugt."
Nach einigen Vorläufern in der Frühaufklärung haben sich die meisten dieser Denkansätze im 19. und frühen 20. Jahrhundert entwickelt: In ihrer Konkurrenz zum Marxismus erlangen hier vor allem sozialistische Strömungen Bedeutung. Die Anarchisten in der Arbeiterbewegung lehnten den Staat als Organisator von Sozialismus ab.

Stattdessen entwarfen sie basisdemokratische und föderalistische Konzepte einer Organisation "von unten nach oben", wie etwa der Franzose Pierre-Joseph Proudhon. Proudhons Ziel war es, so etwas wie einen nicht-staatlichen Sozialismus ins Leben zu rufen, der auf eine vorangegangene Revolution verzichten könne. Dazu gehört auch eine solidarische Verteilung von Gütern.
Proudhon und seine Kinder, Gemälde von 1865 von Gustave Courbet
Proudhon und seine Kinder, Gemälde von 1865 von Gustave Courbet© picture alliance / akg images
Sehr ähnlich dachte der russische Anarchist Michail Bakunin, der in der ersten "Internationale" das anarchistische Lager um sich scharte – anders als Proudhon, der als Frauenhasser bekannt war, vertrat Bakunin aber auch in Geschlechterfragen eine radikal egalitäre Perspektive. In der Gruppe um Bakunin "waren von Anfang an auch viele Frauen dabei, die auch namentlich bekannt sind", erzählt die Politologin Antje Schrupp. Und im Programm wurde explizit mehrfach die Freiheit von Frauen und Männern erwähnt.
Mikhail Alexandrovich Bakunin, russischer Revlutionär und Anarchist
Mikhail Alexandrovich Bakunin, russischer Revlutionär und Anarchist© picture alliance / Photo12 / Ann Ronan Picture Library
Später übernahm die spanische Arbeiterbewegung viele Ideen Bakunins – und dort organisierten sich explizit auch anarchistische Frauengruppen, die "Mujeres libres" – im patriarchal geprägten Spanien ein regelrechter Emanzipationsschub.
Bakunin mit seinem herrschaftskritischen anarchistischen Denken wurde zum Gegenspieler von Marx und Engels und ihrem "Wissenschaftlichen Sozialismus". Obwohl Bakunin und seine antiautoritären Positionen innerhalb der "Internationale" mehrheitlich auf Zustimmung traf, gelang es Marx durch allerlei Intrigen Bakunin und seine Anhänger auszuschließen.

Prophetische Kritik am Staatssozialismus

Dabei, so Antje Schrupp, erscheinen die anarchistischen Ideen von damals heute deutlich anschlussfähiger als die der Marxisten. In ihrer Forschung hat sie festgestellt, "dass ihre Vorschläge für politische Praxis besser für heute nutzbar sind, als die marxistischen, die sich doch sehr auf eine bestimmte Gesellschaftsform gestützt haben, nämlich den Industriekapitalismus. Wohingegen die Anarchisten mehr ganzheitlich Gesellschaftskritik betrieben haben, Ökonomie war ein wichtiger Aspekt, aber es ging eben auch um Familienverhältnisse, um Kultur, um alle möglichen Aspekte des Lebens."
Porträt der Autorin Antje Schrupp.
Die Politologin Antje Schrupp hat zur anarchistischen Bewegung in der Internationale geforscht - insbesondere zu Anarchistinnen.© Laurent Burst
Der Streit zwischen Staatssozialisten und Anarchisten setzte sich bis weit ins 20. Jahrhundert fort, in Fragen der Theorie und Strategie sogar bis heute. Gerade auch die Kritik der Anarchisten am heraufkommenden Staatssozialismus und einer "Diktatur des Proletariats" erscheint aus heutiger Sicht geradezu prophetisch. So prognostiziert Bakunin, "dass eine Diktatur kein anderes Ziel haben kann, als nur das eine, sich zu verewigen. Freiheit kann nur durch Freiheit geschaffen werden ..."

Selbstverwaltung statt Interessenvertretung

Die Ideen von Proudhon und Bakunin lebten in den anarchosyndikalistischen Teilen der Arbeiterbewegung weiter: "Der Anarchosyndikalismus war eine Idee, die besagte, dass es mit Reformen nicht getan ist, dass es mit Appellen an Politik nicht getan ist, sondern dass diejenigen, die die gesellschaftlichen Werte produzieren auch fähig sind, die gesellschaftlichen Werte zu verwalten", sagt Helge Döhring, Historiker am Institut für Syndikalismusforschung in Bremen.
Im Gegensatz zu den Arbeiterparteien ist es dem Anarchosyndikalismus nicht darum zu tun, die Arbeiter in bestimmten politischen Parteien zusammenzufügen. Im Anarchosyndikalismus bilden die Räte die Basis für eine andere Gesellschaft. Es geht darum, Strukturen aufzubauen, die nach und nach – im Falle eines Machtvakuums auch unmittelbar – in der Lage sind, Wirtschaft und Gesellschaft zu organisieren.

In der Freien ArbeiterInnen Union – kurz FAU – lebt heute die Tradition des Anarchosyndikalismus fort: Die kleine basisdemokratische Gewerkschaft setzt auf direkte Beteiligung der Mitglieder, auf kurze Wege und "direkte Aktionen". Und der Sprecher der Berliner Gruppe erklärt: "Wir sehen uns auch als Transformationsgewerkschaft … weil unser Ziel auch gesellschaftliche Veränderungen sind, unter anderem auch die Vergesellschaftung von Produktionsmitteln."
Eine Gruppe Menschen mit rot-schwarzen Transparenten steht vor dem Berliner Kino "Babylon", Auf den Transparenten sind das Logo der "FAU" und die Aufschrift: "Endlich in die Offensive - revolutionäre Gewerkschaften überall"
Die Freie Arbeiter*innen Union Berlin, bei einer ihrer "direkten Aktionen" - hier für bessere Arbeitsbedingungen im Berliner Kino Babylon.© Oliver Wolters

Kooperation statt Konkurrenz

Ein anderer russischer "Klassiker" des Anarchismus, Pjotr Alexejewitsch Kropotkin, kritisierte auch den verbreiteten Sozialdarwinismus seiner Zeit. Dagegen setzte er einen Entwurf sozialen Lebens, der auf Gleichberechtigung, Solidarität und Kooperation basiert: "Die wichtigste Waffe im Kampf ums Dasein ist die Kooperation, die gegenseitige Hilfe." Kropotkin entwickelt eine Utopie der Herrschaftsfreiheit, in der der Einzelne seine individuelle Freiheit in der Gruppe entwickelt.

Diese Utopie der "Gegenseitigen Hilfe" basiert auf einem Menschenbild, das – auch heute noch – ein Korrektiv oder eine plausible Gegenthese sein könnte zur Anthropologie des Menschen als "Wolf des Menschen", mit der der neoliberale Konkurrenzkapitalismus legitimiert wird.
Pjotr Kropotkin, rusischer Schriftsteller und Revolutionär (Vertreter des kommunistischen Anarchismus),
Pjotr Kropotkin 1913© picture alliance / akg images / Archiv S.D.Merkurow
Rezipiert wurde Kropotkin auch von kritischen Ethnologen: Sie stellten fest, dass es überall auf der Welt Ethnien ohne Führer gab und noch immer gibt: herrschaftsarme Gesellschaften ohne Staat, Gesellschaften in denen es nur befristet akzeptierte Autoritäten gibt.
Die Marxisten reagierten auf die linke Konkurrenz durch die Anarchisten mit einer gezielten Verunglimpfung – auch die hat zur nachhaltigen Gleichsetzung von Anarchie mit "Chaos" beigetragen. Eine weitere Ursache jedoch liegt im Anarchismus selbst.

Tatsächlich begingen Anarchisten Ende des 19. Jahrhunderts Attentate, die weltweit Aufmerksamkeit erregten. Es war eine Zeit, in der Anarchisten keine Möglichkeit zur legalen politischen Betätigung sahen: Anarchistische Gewerkschaften waren verboten, ihre Demonstrationen wurden von Staatsorganen oft blutig niedergeschlagen. In den USA kam es wiederholt zu Justizmorden; Unternehmer ließen dort – mit polizeilicher Duldung – streikende Arbeiter mit Maschinengewehren niederschießen.
Aquarell des "Bombenattentat auf einen Beamten durch Terroristen" im Russischen Reich im 19. Jahrhundert.
Aquarell des “Bombenattentat auf einen Beamten durch Terroristen” im Russischen Reich im 19. Jahrhundert.© akg-images / Sotheby's
Vertretern des Staatsapparates, vor allem des Geheimdienstes, kam der Terror so sehr gelegen, dass sie ihn zum Teil selbst organisierten: 1881 inszenierte etwa der Frankfurter Polizeirat Rumpf ein Attentat auf sich. Die blutrünstigsten Zeitschriften gaben in Frankreich Polizeispitzel heraus. Und ein führendes Mitglied der russischen Anarchisten war ein Spitzel des Innenministeriums.

Verfolgung trotz Gewaltverzicht

Unter Anarchisten waren diese Attentate immer umstritten: Einige prominente zeitgenössische Anarchisten befürworteten Attentate als Teil einer klassenkämpferischen Strategie, einer "Propaganda durch die Tat". Spätestens um 1900 jedoch distanzierten sich nahezu alle bekannten Anarchisten von Attentatsstrategien. Einige lehnten jede Gewalt nun kategorisch ab. Was alle Anarchisten bis heute ablehnen, sind Gewalt und Zwang, um die angestrebte herrschaftsfreie Gesellschaft einzuführen: Eine Gesellschaft der Freien und Gleichen, die Anarchie, kann nicht erzwungen werden.
Verfolgt aber wurden die Anarchisten weiterhin: In den USA inszenierten die Hüter des Bestehenden Justizmorde, in der Sowjetunion liquidierte die Geheimpolizei und die Rote Armee die oppositionellen Anarchisten; in Deutschland ermordeten 1919 rechtsradikale Freikorps Gustav Landauer und andere Anarchisten; in Spanien wurden sie von den Franco-Faschisten und in Deutschland von den Nationalsozialisten umgebracht. Erich Mühsam und andere Anarchisten starben in den KZs.
Heute sind die Anarchisten zumindest ihre einst mächtigen Gegner auf der "Linken" losgeworden: Einen autoritären Staatssozialismus wie den in der untergegangenen Sowjetunion oder der DDR bietet heute niemand mehr als System-Alternative an. Auch der Marxismus hat als "linke Leittheorie" abgewirtschaftet. Übrig geblieben sind die repräsentative Demokratie mit ihrer kapitalistischen Marktwirtschaft sowie autoritäre Regimes, die wenige reich machen, viele in Armut halten und kräftig an der Zerstörung der natürlichen Grundlagen unseres Planeten mitwirken.

"Es tritt also kaum etwas an die Stelle, was die Phantasie öffnet, dass es tatsächlich Alternativen gibt, für die es sich zu kämpfen lohnt, den globalen Neoliberalismus abzusetzen. Und da tritt der Anarchismus das Erbe des Marxismus als Alternative an." So Lou Marin, Mitglied im Herausgeber*innenkreis des Buch-Verlags "Graswurzelrevolution" und aktiv im Centre Internationale de Recherches sur l’Anarchismus in Marseille.
Ein Anarcho-Wandbild in London wünscht Margaret Thatcher zur Hölle (Burn in Hell, Maggie!, wobei das 'A' als Anarchiezeichen gesetzt ist.) - stellvertretend für den Neoliberalismus?
Ein Anarcho-Wandbild in London wünscht Margaret Thatcher zur Hölle - stellvertretend für den Neoliberalismus?© akg-images / Universal Images Group / Marc Vallace / PYMCA
Auch die Spuren ökologischen Denkens, die sich etwa beim deutschen Anarchisten Gustav Landauer finden, sind heute wieder anschlussfähig: Landauer brach mit einem homogenen Fortschrittsmodell und dachte eine gleichberechtigte Vielfalt zwischen Mensch und Natur.
Und schließlich könnten die anarchistischen Ideen auch für die Demokratie selbst ein "Lebenselixier" sein. Der Anarchist und Kognitionspsychologe Rainer Mausfeld jedenfalls betont die Gemeinsamkeiten: "Anarchismus und Demokratie sind in den Zielen sie fast deckungsgleich, nämlich eine menschenwürdige Gesellschaft zu konzipieren und zu realisieren." Das antiautoritäre anarchistische Denken könnte dabei ein kritisches Korrektiv bilden. Denn vor allem ist der Anarchismus eine Ideologiekritik: Er delegitimiert Herrschaft und zwingt die Herrschenden, sich zu rechtfertigen.

Lesen Sie das vollständige Manuskript zur Sendung: Manuskript als PDF.

Produktion dieser Langen Nacht:
Autor: Rolf Cantzen; Sprecher: Eva Meckbach, Bernhard Schütz, Viktor Neumann; Regie: Philippe Brühl; Redaktion: Dr. Monika Künzel; Webbearbeitung: Constantin Hühn

Über den Autor:
Rolf Cantzen, Studium der Politikwissenschaft, Philosophie, Germanistik; seit vielen Jahren freier Autor für den Hörfunk verschiedener Sender; einige Bücher u.a. zum Anarchismus und zur Esoterikkritik sowie ein Krimi. Themenschwerpunkte: Philosophie, politische Theorie, Religionen, Kulturgeschichte, Literatur.

Zum Weiterlesen:
Rolf Cantzen: "Weniger Staat - mehr Gesellschaft: Freiheit - Ökologie - Anarchismus"
Trotzdem-Verlag, 1997268 Seiten, 14 Euro

Rolf Cantzen, Bodo Dringenberg: "Biere, Tiere, Anarchie - Jaroslav Hasek - mehr als Schwejk"
Launenweber, 2018
160 Seiten, 22 Euro

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