Landflucht

Vom Schrecken der Provinz

Die Straße eines unterfränkischen Dorfes.
Blick in die Provinz: aufgeräumt und langweilig? Die Straße eines unterfränkischen Dorfes. © Deutschlandradio/Heiner Kiesel
Von Heiner Kiesel · 10.08.2015
Die Bevölkerung in Dörfern und Kleinstädten schrumpft gewaltig. Doch was macht die Großstadt attraktiv – die Großstadt, in der doch auch so mache Provinzposse tobt? Ein Feature über das Für und Wider des Landlebens und das Städtische als Produkt unserer Einbildung.
Die Provinz ist verpönt - und natürlich der damit verbundene Provinzialismus. Aber wo ist die Provinz? Schon der Begriff lässt sich schwer fassen. Und das Konzept der Provinz? Es steht im Gegensatz zur positiv konnotierten Urbanität und dem Kosmopolitismus.
Die Stadt lockt mit Offenheit, Vielfalt und dem Versprechen, der sozialen und intellektuellen Enge zu entkommen. Doch kann man dem Provinziellen, zumal im föderal geprägten Deutschland, wirklich entfliehen?
Hören Sie dazu unser Zeitfragen-Feature.

Manuskript - "Vom Schrecken der Provinz - Erkundungen eines gesellschaftlichen Zustands":
Kolja Mensing: "Ich lebe inzwischen seit 20 Jahren in Berlin. Ich komme eigentlich aus der tiefsten Provinz. Aus der Kleinstadt Westerstede, das ist eine Kleinstadt in der Nähe von Oldenburg in Niedersachsen. Und dann habe ich auch in der Provinz studiert. Erst in Oldenburg und später in Münster. Und irgendwann hat es mich dann Mitte der 90er Jahre nach Berlin verschlagen."
Das klingt nach einem Zufall, so wie es Kolja Mensing beschreibt - es hat ihn verschlagen. Dabei war es eine Flucht, die ihn hierher gebracht hat. Er hat ein Buch über den Schreckensort geschrieben, dem er entkommen wollte: "Wie komme ich hier raus? Aufgewachsen in der Provinz".
Das liegt jetzt vor ihm auf dem Tisch, in einem Berliner Café, im Bezirk Prenzlauer Berg. Mensing ist die Flucht gelungen - auf den ersten Blick jedenfalls. Er passt gut rein, weinroter ausgebeulter Kapuzenpulli, die lange Gestalt lässig zurückgelehnt auf der Eckbank. Er hat den Großstadtblick: aufmerksam, aber nicht überinteressiert. Er trinkt eine hippe Limo, von der 50 Kilometer weiter kaum je jemand gehört hat. Geschweige denn in Westerstede.
Kolja Mensing: "Und das ist auch so ein provinzielles Lebensgefühl, das man als Teenager hat, dass man halt denkt, so geht das ja gar nicht: Man kann natürlich auch gar keinen Fall auf einem Dorf, in einer Kleinstadt leben, da ist irgendetwas Größeres, was da draußen auf mich wartet. Und vor dem, was ich hier habe, was man irgendwie spießig findet, muss ich weglaufen."
Vor den großen Fensterscheiben des Cafés, draußen liegt Mensings Fluchtpunkt. Es könnte die Maximalentfernung von der Provinz sein. Metropole, Hauptstadt. Geschäft an Geschäft - für jeden Wunsch. Junge Menschen, in abgerissenen bis schicken Outfits warten an der Ampel. Eine staubgraue Kreuzung, vierspurige Straßen, voller Autos, dazwischen Trambahnschienen, darüber rattert noch die Hochbahn - Beschleunigung und Verdichtung.
Kolja Mensing: "Bin ja richtig in so einer Kleinstadt-Einfamilienhaussiedlung aufgewachsen: Häuser, die alle Anfang der 80er Jahre gebaut worden sind, Häuser, die alle diese superhübschen Klinkerfassaden hatten, die alle diese wunderschönen roten Dachziegel hatten, die alle einen wirklich gepflegten Vorgarten hatten, die alle ihre alten Eisenbahnschwellen hatten, um ihre Beete so zu begrenzen. Das war halt so richtig, das war halt so richtig geleckt."
Die Bevölkerung schrumpft, aber die Dörfer schrumpfen noch schneller
Das geleckte Leben auf dem Land oder in der Kleinstadt - original erfahren das immer weniger Menschen in Deutschland. Die Bevölkerung schrumpft, aber die Dörfer und Städtchen schrumpfen noch schneller, sagen die Statistiker. Die Provinz stirbt aus, das liest man oft. Aber ist das wirklich so schlimm? Bei allem was man so hört über die Provinz. Der Ort, von dem der moderne Mensch gerne möglichst weit weg ist, mit dem man ungern in Verbindung gebracht wird.
Kolja Mensing:"Und aus dieser normierten Idylle auszubrechen hat mich gereizt und da war dieses komische runtergerockte, heruntergekommene Ostberlin ein toller Gegensatz. Da wollte man hin, das war wie so ein Abenteuerspielplatz, auf dem man sich austoben wollte."
Der Gegensatz zwischen Stadt und Land - da stellen sich bei den meisten schnell übereinstimmende Bilder ein. Es gibt eine gewissermaßen prototypische Vorstellung vom Leben hier wie dort. Aber, dass sich diese Ideen so scharf von einander abgrenzen, ist eine relativ junge Entwicklung, meint Elenore Scholze-Irrlitz. Die Professorin lehrt im Fachbereich Europäische Ethnologie der Humboldt Universität zu Berlin.
"Im 19 Jahrhundert, also mit den entstehenden Städten, den entstehenden Industriezentren, gehen die Erfahrungsbereiche auseinander. Es ist zunächst ein ländlicher Raum, der in Arbeitsformen weiterbesteht, die doch schon aus der frühen Neuzeit kommen. Währenddessen, wenn sie dann schon in die Stadt der 1870er-Jahre kommen, sind das vollkommen andere Lebenserfahrungen. Es ist ein anderer Arbeitsrhythmus, der sich dort entwickelt hat, andere Wohnbedingungen und natürlich auch, dass sich bestimmte Bevölkerungsgruppen, Ausbildungsgruppen in der Stadt konzentrieren, die auf dem Land weniger werden."
Das Kapital konzentriert sich in den Metropolen, Wissenschaft und Kunst folgen
Für die Städte in der Industrialisierung bedeutet das einen enormen Schub. Das Kapital konzentriert sich in den Metropolen, ihm folgen Wissenschaft und Kunst, so wie sie zuvor von den vielen kleineren Fürstenhöfe der deutschen Kleinstaaten angezogen wurden. Die neue Stadt nähert soziale Schichten räumlich an, vermischt Menschen aus unterschiedlichen Regionen und Denktraditionen. Bald beginnen Intellektuelle, meist selbst Metropolenbewohner, von den menscheitsbeglückenden Wirkungen des Stadtlebens zu schwärmen.
Leonore Scholtze-Irrlitz, Ethnologin am Institut für Europäische Ethnologie der HU zu Berlin
Leonore Scholtze-Irrlitz, Ethnologin am Institut für Europäische Ethnologie der HU zu Berlin© Deutschlandradio/Heiner Kiesel
Es befreie den Verstand von den Einschränkungen des Gemüts und der Tradition. Georg Simmel, der Begründer der Stadtsoziologie, schreibt 1903 in seinem Essay über die Großstadt und das Geistesleben:
Hier bietet sich in Bauten und Lehranstalten, in den Wundern und Komforts der raumüberwindenden Technik, in den Formungen des Gemeinschaftslebens und in den sichtbaren Institutionen des Staates eine so überwältigende Fülle kristallisierten, unpersönlich gewordenen Geistes, dass die Persönlichkeit sich sozusagen dagegen nicht halten kann.
Die Stadt wird als Reagenzglas der Gesellschaft gedeutet. Sie verdichtet, sie beschleunigt, sie geht voran. Und die Provinz, ursprünglich war das ein neutraler Verwaltungsbegriff der Römer, sieht dagegen ganz schön alt aus.
"Provinz hat auch bei uns noch diese beiden Teile. Einerseits diese Vorstellung, dass das Leben dort in einer anderen Lebensgeschwindigkeit ablaufen würde, das Leben in der Provinz. Und dann aber, verbunden mit der Industrialisierung und Zentrumsbildung, die Provinz als das, was etwas abgeschlagen, was nicht ganz auf der Höhe der Zeit ist."
- O-Ton –Collage: Politiker im Bundestag -
Anton Hofreiter: "Gut die FDP, die CDU/CSU und Teile der SPD sind provinziell und sagen, es muss in Deutschland sein."
Sigmar Gabriel: "Im Gegenteil es ist ein Schritt zurück in den Provinzialismus und Nationalismus."
Christian Lindner: "Angesichts dieser Tatsachen wirkt manche Diskussion, die wir in der deutschen Innenpolitik führen etwas provinziell."
Norbert Röttgen: "Dann glaube ich, ist ihre kleinkarierte provinzielle Mäkelei einfach deplatziert."
Im politischen Streit gehört der Vorwurf des Provinzialismus, des Provinziellen mit zum Gemeinsten, im rhetorischen Arsenal. Wer sich dagegen wehrt, wirkt umso provinzieller. Politiker, denen dieses Etikett anhängt, wird gemeinhin abgesprochen Karriere in der Bundespolitik machen zu können. Da reicht eine fettige Leibspeise, eine Akzent-Färbung in der Sprache: Der beschränkte Provinzler, dem Geschliffenheit und der Blick für das große Ganze fehlen. Hat er erst Macht, sieht man ihn als gefährlich an, gerne rücksichtslos.
Franz Josef Strauß: "Blasierte Anhänger der Schickeria in den Nobelquartieren unserer Städte!"
Edmund Stoiber: "Wenn Sie vom Hauptbahnhof in München mit zehn Minuten."
Günther Oettinger: "In my Homeland Baden-Württemberg with it's shares of high-tech industries."
Kurt Beck: "Zwischenzeitlich kriegt man vorgeworfen, dass man sich für seine Heimat und den eigenen Wahlkreis einsetzt."
Edmund Stoiber: "... dann starten sie im Grunde genommen am Flughafen, am Hauptbahnhof in München ihren Flug."
Die dicke Haut gehört zum Bild vom Provinzler und Hinterwäldler der ganz oben mitspielen will untrennbar dazu.
Helmut Kohl: "Ich war 25 Jahre Parteivorsitzender, ich war 16 Jahre Bundeskanzler und acht Jahre Ministerpräsident, das ist ein langes Leben in der Politik."
Das Ländliche kann auch in der Stadt sein - und das Städtische auf dem Land
Helmut Kohl ist in Ludwigshafen geboren, einer Stadt mit rund 160.000 Einwohnern in Rheinland-Pfalz. Keine Metropole, - aber Provinz? Wo fängt die eigentlich an? Und wenn er, ein Jurist und erfolgreicher Parteiführer mit dunklen Seiten und einer starken proeuropäischen Haltung als Provinzler galt, wo hört das Provinzielle auf?
Christoph Baumann: "Also wenn Sie statistisch vorgehen, dann finden sie das Land relativ einfach, wenn Sie bestimmte Indikatoren zu Grunde legen. Am häufigsten wird die Bevölkerungsdichte verwendet. Also ab einer bestimmten Schwelle gilt ein Gebiet als Land, ein anderes als Stadt. Die zweite Antwort darauf kann man nicht so leicht verorten, denn das Ländliche, wie auch das Urbane sind Kategorien unserer Einbildung. Kategorien, mit denen wir unserem Leben in gewisser Weise einen Sinn geben. Und so gesehen ist das Ländliche dort, wo Menschen versuchen irgendwie ländlich zu leben, und vice versa mit der Stadt eben auch. Und so gesehen kann das Ländliche eben auch in der Stadt sein und das Städtische auch auf dem Land."

Christoph Baumann, Kulturgeograph am Institut für Geographie der Universität Erlangen
Christoph Baumann, Kulturgeograph am Institut für Geographie der Universität Erlangen© Deutschlandradio/Heiner Kiesel
Christoph Baumann forscht am Institut für Kulturgeographie der Universität Erlangen. Sein Spezialgebiet ist die Geographie des Ländlichen, des Provinziellen. Dabei interessiert ihn der reale Ort weit weniger als die Idee, die es in unserer Gesellschaft davon gibt.
Christoph Baumann:"Also das Provinzielle, genauso wie das Ländliche, das Periphere, das Lokale, das sind alles räumliche Konzepte, die ihren Sinn dadurch bekommen, dass sie sich von etwas abgrenzen. Also in dem Fall das Städtische, das Großstädtische, das Metropolitane, das Zentrale. Wenn man jetzt einen Raum als Provinz bezeichnet, dann sagt man nicht nur, das ist eine Provinz, sondern man sagt auch, ohne es zu sagen, das es etwas nicht ist. Also etwas städtisches, etwas globales, weltgewandtes. Und das Interessante an diesen Unterscheidungen ist, dass sie natürlich enorm normativ sind."
Der Kulturgeograph will das provinzielle untersuchen, die Provinzler in ihrer Provinz. Aber er kann nicht einfach eine Bevölkerungsstatistik und eine Landkarte zur Hand nehmen, um sie zu finden, ihr Wertesystem zu untersuchen und es dann mit dem der Stadtmenschen zu vergleichen. Denn: Die Provinzler leben eigentlich immer irgendwo anders.
Christoph Baumann: "Diese Unterscheidungen sind in unserer heutigen Zeit - und unsere heutige Gesellschaft ist vor allem eine urbane Gesellschaft - relativ hinfällig. Also der Stadtbewohner geht ähnlichen Beschäftigungen nach, wie der Landbewohner, sie haben gleiche symbolische Bezugssysteme - durch die Kommunikation, durch den wirtschaftlichen Wandel. Es gibt Soziologen, die mittlerweile von einer ubiquitären Urbanität sprechen, das heißt, dass unsere gesamte Gesellschaft mittlerweile urbanisiert sei und dass es überhaupt keinen Sinn mehr mache, zwischen Land und Stadt zu unterscheiden."
Das Alte Rathaus von Bamberg, der Brückenturm, steht mitten im Wasser auf 2000 Eichenstämmen.
Das Alte Rathaus von Bamberg, der Brückenturm, steht mitten im Wasser auf 2000 Eichenstämmen.© Claudia Kalusky
Bamberg - "In fünf Minuten in der Universitätsbibliothek, Im Theater, im Kino"
Gudrun Schury: "Sagen wir mal, ich will heute Mittag Spinat machen. Ich fahre 500 Meter mit dem Fahrrad zu meiner Gärtnerei. Dann sage ich: 'Habt ihr einen frischen Spinat?' Dann sagt die Gärtnerin: 'Oh der ist mir gerade ausgegangen' - und schreit ihrem Mann zu 'Andreas hol' noch einen Spinat für die Frau Schury'. Andreas geht aufs Feld, schneidet mir den Spinat und gibt ihn mir mit. Zehn Minuten später liegt er im Topf. ."
Die Autorin und Literaturwissenschaftlerin Gudrun Schury wohnt in Bamberg. Die Stadt hat 70.000 Einwohner, eine barocke Altstadt mit Dom. In Berlin, Hamburg oder Nürnberg wird es viele geben, die dort die Provinz vermuten. In München sowieso. Dort ist Schury geboren, aber sie will lieber nicht in der Bayernmetropole leben. Raus in die Peripherie?
Gudrun Schury: "Seit es das Internet gibt, ist es eigentlich überhaupt kein Problem mehr, wo man lebt. Ich könnte sogar noch auf dem Dorf leben, dann müsste ich jedoch alles mit dem Auto machen. Das würde mir überhaupt nicht gefallen. Was ich an einer kleineren Stadt schätze ist, dass man einerseits vernetzt ist, wenn es sein muss mit der ganzen Welt, andererseits doch noch seine Dinge in der nächsten Umgebung hat, die man mit dem Fahrrad erreichen kann. Ich bin hier in fünf Minuten in der Universitätsbibliothek, im Theater, im Kino, das schätze ich hier sehr."
Die Bevölkerung überall im Land hat es wirklich selten weit bis ins nächste Museum oder Theater. Das ist wahrscheinlich eine Folge der deutschen Kleinstaaterei mit ihren vielen Fürstenhöfen bis ins 19. Jahrhundert und der bis heute bestehenden föderalen Gliederung der Bundesrepublik. Als Intellektuelle in der deutschen Provinz hat Gudrun Schury gute Gesellschaft - auch historisch gesehen. Man muss es ja nicht übertreiben und wie der Philosoph Martin Heidegger in einer Schwarzwaldhütte arbeiten.
Gudrun Schury: "Weimar war wirklich eine Provinzstadt und plötzlich waren da Herder, Schiller, Wieland und Goethe da. Und am Hof wurde musiziert, da wurde geschrieben, da wurde diskutiert. Man hätte meinen können, da ist das Zentrum der Welt, war es natürlich nicht. Man wusste, da wo ich bin, da ist das intellektuelle Zentrum, man hatte dieses Selbstbewusstsein und im Umkreis waren dann sehr gute Musiker, sehr gute Schauspieler, Schauspieldirektoren da, und man hat das Gefühl entwickelt, ja Weimar ist zwar weit weg, aber hier ist das Zentrum."
Den Begriff "Provinz" ersetzt sie durch "Region"
Sie sei kein Typ für die Metropole, sagt Schury. Die Ex-Münchnerin hat viele Gründe, selbstbewusst in der Provinz zu leben. Ja, es gibt mehr Events in Berlin, aber wer nimmt die dort schon alle wahr? Das auch bei Kleinstadt- und Landbewohnern geübte Schlechtreden ihres Umfelds liegt ihr nicht. Man ist nicht mehr aus der Welt, wenn man in der Provinz lebt. Und der Begriff passt ihr nicht so recht.
"Ich sage ja lieber Region. Während die Region bei uns immer besser angesehen wird - also ich kann ja nichts Besseres tun, als regional einzukaufen, regional zu essen - ist die Provinz immer mehr abgedriftet, in die Richtung: unmodern, spießig, eben provinziell. Und wenn mich jetzt jemand Provinzler schimpft, dann sage ich: Wo ist bitte der Unterschied zwischen Region und Provinz?"
Wolfgang Thierse: "Ich habe gar keinen so negativen Begriff von Provinz. Ich bin ja selber in einer Kleinstadt aufgewachsen, habe dann zwei Jahre in Weimar gelebt. Also von einer Stadt mit 6000 Einwohnern bin ich dann zu einer Lehrausbildung in eine Stadt mit 60.000 Einwohnern gezogen und nun lebe ich über 50 Jahre schon in Berlin. Aber ich habe eine plastische Vorstellung, wie das Leben in einer kleinen oder mittleren Stadt ist."
Ein Besuch bei Wolfgang Thierse im Berliner Regierungsviertel. Der SPD-Politiker und ehemalige Bundestagspräsident war die zentrale Figur in einem eigenartigen Streit zwischen Metropole und Provinz. Thierse preist die Stadt zwar auch im Sinne der frühen Stadtsoziologen als Ort der Herausforderung und Bewegung. Aber er sieht seine Stadt auch kritisch.
"In Berlin kann man doch auch viel Provinzlerisches erleben, auch in dem Abschätzigen des Wortes. Viel Borniertes, viel Desinteresse gegenüber Neuem, viele Vorurteile - das gibt es in Berlin auch. Ich weiß nicht, wie es in Paris, London oder Rom ist, aber über Berlin sagt man immer, es ist eine Ansammlung von Dörfern."
Thierse weiß wovon er spricht. Er den Schwabenstreit angefacht, eine echte Provinzposse bei der sich Berliner Lokalpatrioten und Neubürger in den Haaren gelegen haben. Das war eher ein Missverständnis, wie Thierse sagt. Eigentlich wollte er sein Unbehagen darüber ausdrücken, dass sich sein Lebensumfeld im Bezirk Prenzlauer Berg in den vergangenen Jahren deutlich verändert hat. Viele sind in die Großstadt gekommen, haben Alteingesessene verdrängt. Mit den Zuzüglern sind nicht nur die Mieten gestiegen, sondern sie haben ihre Heimat als geistiges Gepäck mitgebracht.
WolfgangThierse:"Diese Veränderung ist auch etwas schmerzlich, und darauf bezog sich auch meine ironische Bemerkung, sie sollten uns doch weiterhin die Chance geben, Schrippe zu sagen und nicht Weckle von uns zu fordern, dass wir das so sagen. Eine ironische Bemerkung, aber sie hat offensichtlich einen Nerv, sowohl bei den Berlinern getroffen, wie auch erst recht bei den Schwaben, die durch die Bild-Zeitung dann aufgehetzt mir dann massenhaft hasserfüllte Beschimpfungsmails geschickt haben. Und das hat mich schon überrascht."
Die Veränderung geht viel weiter, als Thierses Schwabenstreit auf den ersten Blick vermuten lässt. Die Stadt als Idee verändert sich, weil es die Provinz als Ort so kaum mehr gibt - diesen Ort im schwach besiedelten Raum an dem gedankliche Enge, Tradition und eiserne Sozialkontrolle vorherrschen. Selbst im deutschen Süden gibt es Grüne-, Schwule- und sogar Frauen als Dorfbürgermeister. Wer in die Stadt zieht, macht dies heute wegen der Infrastruktur und der Karriere, aber nicht, weil er der Kleinstadt, dem Dorf entkommen will. Damit verliert die Metropole aber ihre ideelle Grenze. Sie löst sich auf als Ort, an dem sich der Einzelne neu erfinden soll. Das Festhalten am Gewohnten steht dort nicht mehr in Frage. Es ist sowieso schon so viel in Bewegung geraten.
Wolfgang Thierse: "Wir leben aus Beheimatungen und haben auch immer das Bedürfnis nach Beheimatung, wenn uns Heimat verloren geht. Gerade in einer Zeit, in der wir wieder leben, in der es so dramatische, entsetzliche Fluchten gibt. Da bemerkt man wieder, wie gut, wie lebensnotwendig Heimat ist und Heimat ist eine andere Bezeichnung von Provinz."
"Egal wo es mich hinverschlägt, ich bleibe immer ein Kleinstadtjunge"
Kolja Mensing: "Ich bin natürlich ein Kleinstadtjunge, ich bin in der Kleinstadt aufgewachsen und egal wo es mich hinverschlägt, ich bleibe immer ein Kleinstadtjunge."
Es fehlt immer etwas, ob man nun bleibt oder geht. Kolja Mensing, der vor 20 Jahren aus der niedersächsischen Kleinstadt Westerstede in die Großstadt geflohen ist, lebt mit diesem Gefühl auch.
Kolja Mensing: "In einer Stadt wie Berlin habe ich jetzt als Literaturkritiker, als freier Schriftsteller habe ich ja ideale Arbeitsbedingungen, die hätte ich in meiner Heimatstadt Westerstede nicht. Also es ist alles richtig hier. Meine Frau ist hier geboren in Berlin, die kommt hier her, meine Kinder sind hier geboren. Also eigentlich alles klasse und trotzdem... ist da was in mir was sagt: Nee, aber das echte Leben, das echte wirkliche Leben findet in irgendwelchen Kleinstädten statt."
Das echte Leben - vielleicht ist das auch die Idee von einem unmittelbareren Leben, irgendwie ehrlicher und natürlicher und überschaubarer. Ländlich vielleicht? Das echte Leben ist ziemlich gesucht in der Gegenwart unserer Städte.
Kolja Mensing:"Das finde ich ganz verrückt, zu sehen, wie mitten in der Stadt so ein provinzieller Lebensstil gepflegt wird, das man überall in den großen Städten Leute sieht, die sich in Outdoor-Kleidung kleiden, so als ob sie gerade auf einem totalen Abenteuertrip im Himalaya sind. Dann fahren alle Mountainbikes oder wenn sie Auto fahren, so einen Off-Roader. Das ist so, als ob man mitten in der Stadt Provinz spielen will. Diese ganzen Bio-Supermärkte, die in Berlin entstehen."
Christoph Baumann: "Der Soziologe Giddens hat die Globalisierung als Entbettungsprozess beschrieben und das heißt, dass sich globalisierte, modernisierte Gesellschaften immer stärker aus ihrem ortsgebundenen Zusammenhang herauslösen in ein globalisiertes Referenzsystem. Zeitgleich gibt es auch ein gegenläufiges Moment. Da spielen so Kategorien wie das Provinzielle und das Ländliche eine große Rolle. Weil sie die Möglichkeit bieten, ein überschaubares, ein klar verortbares symbolisches Bezugssystem zu liefern."
Kulturgeograph Christoph Baumann sieht einen regelrechten Boom des Ländlichen in unserer Gesellschaft. Er macht das an dem großen Erfolg der Landmagazine fest. Landlust, Landidee, Landküche und ähnliche haben etwa drei Millionen Leser, schätzt Baumann zurückhaltend - wahrscheinlich sind es doppelt so viele. Die Auflagenzahlen steigen beständig. Und etliche TV-Formate versuchen die Zielgruppe ebenfalls zu erreichen.
"Die Ländlichkeit der Landmagazine ist vor allem eine idyllische Ländlichkeit. Eine Ländlichkeit, die sich auf ein gutes Leben konzentriert, auf eine gewisse Lebensqualität, auf das Genießen, das in Zusammenhang mit ganz bestimmten Handlungsweisen steht, für eine gewisse Entschleunigung steht. Interessant ist, dass man jetzt nicht sagen kann, das lesen nur Städter oder das lesen nur Landbewohner. Da geht es quer durch."
Die Magazine geben für die urban lebenden Landbewohner und die ländlich orientierten Städter eine beruhigende Anleitung. Während die globalen Produktionsprozesse undurchsichtig sind, sind die Zutaten für die selbstgekochte Marmelade einigermaßen überschaubar, die Zuwanderung ins Eigenbau-Insektenhotel ebenso. Wem die Landlust-Landidee zu süßlich ist, der engagiert sich bei der gärtnerischen Urbarmachung der Stadt, dem Urban Gardening, oder er kämpft draußen dagegen an, dass der ländliche Raum - bis auf ein paar Erholungsecken - längst zum durchrationalisierten Wirtschaftsraum geworden ist.
"Es gibt natürlich ganz unterschiedliche Vorstellungen davon, was das Ländliche sein soll. Und diese unterschiedlichen Vorstellungen können dann auch auf lokaler Ebene zu Konflikten führen. Also zwischen einer zu entwickelnden Ländlichkeit auf der einen Seite und einer idyllischen Ländlichkeit auf der anderen Seite."
Honig von Bienen, die in Berlin fliegen, soll besonders toll sein
Kolja Mensing: "Urban Gardening sagt, dass man das richtige Leben im falschen leben kann, du kannst da in der Stadt anfangen Rüben im Garten zu ziehen. Oder Imkern: Beim Kaisers gegenüber kann man Berliner Honig kaufen, der von Bienen in Berlin gesammelt wird. Der soll auch noch besonders toll sein, sagt man, weil sich die Bienen hier besonders anstrengen müssen, um überhaupt Pollen zusammenzutragen und dadurch eine ganze Vielzahl von Pollen zusammentragen und dadurch schmeckt der Honig dann besonders gut. Während die faulen Bienen auf dem Land natürlich einfach ins nächste Rapsfeld fliegen, da die Pollen sammeln und dann hat man eben Rapshonig."
Mensing, der Zugezogene aus der Provinz, spottet über seine Mitmenschen in der Metropole. Aber unter Umständen trifft sein Bienengleichnis den Kern. Metropole und Provinz - was ist wo? Das bessere Landleben findet vielleicht mittlerweile in der Metropole statt. Eines, das sich besser mit den romantischen Vorstellungen davon verträgt. Vielleicht wohnen dort auch die besseren Provinzler, mit einer rosigen Vorstellung vom natürlichen Leben, der sehnsuchtsvollen Wertschätzung der intakten Bindungen, der Ruhe, der Traditionen in den Stadtvierteln. Die Stadt birgt ihre eigene Provinz. Ein Entkommen ist nicht möglich.
"Es gibt so einen Fluchtreflex, du wächst in der Provinz auf und denkst du musst da schon mal weg. Und dann biste aber draußen und dann merkt man plötzlich, das hat dir aber auch nichts gebracht. Und dann gibt es zwei Möglichkeiten: Der eine Weg führt zurück, du gehst zurück. Und der andere ist, du rennst immer weiter. Und das kann ziemlich anstrengend werden."
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