"Land der unbegrenzten Möglichkeiten" – jedenfalls beim Doping

Das Gespräch führte Matthias Hanselmann · 02.08.2012
China sei sehr breit aufgestellt in der Arzneimittelchemie und die traditionelle Medizin bringe dort oft "was ganz Tolles raus", sagt der Nürnberger Pharmakologe Fritz Sörgel. Es werde viel experimentiert - das hätten natürlich auch die Sportfunktionäre mitbekommen.
Matthias Hanselmann: China bei den Olympischen Spielen in London: Mit 17 Gold-, neun Silber- und vier Bronzemedaillen führt das Land den Medaillenspiegel an und liegt damit weit vor den USA und Südkorea. Die Leistungen der Sportler beeindrucken sehr, und sie wundern auch. Wenn man da sieht, wie die 16-jährige Ye Shiwen zweimal scheinbar ohne Anstrengung zu Gold schwimmt, phasenweise sogar schneller als die Schwimmer Michael Phelps und Ryan Lochte. Oder der chinesische Gewichtheber, der mit einer Rekordlast von 379 Kilo gestern die olympische Goldmedaille holte und dabei aussah, na ja, als hebe er mal eben einen Einkaufskorb hoch.

Professor Fritz Sörgel ist Pharmakologe und Antidopingexperte in Nürnberg und jetzt für uns am Telefon. Guten Tag, Herr Sörgel!

Fritz Sörgel: Ja, guten Tag, Herr Hanselmann!

Hanselmann: Ja, also ganz einfach mal gefragt: Was sagen Sie denn zu den vielen Ausnahmesportlern aus China?

Sörgel: Gut, das sind wir von totalitären Systemen eigentlich schon immer gewöhnt, aber natürlich, auch in den Industrienationen hat es immer wieder und gibt es immer wieder außergewöhnliche Sportler. Ich denke, in beiden Systemen muss man nachfragen, wo kommt das her und wie entsteht auch Misstrauen.

Hanselmann: Also lassen Sie uns doch mal überlegen, inwieweit China eventuell Verfahren anwendet, die man hierzulande vielleicht noch gar nicht kennt.

Sörgel: Da treffen Sie genau den Punkt. Als Pharmakologe betrachte ich natürlich China fast als ein Land der unbegrenzten Möglichkeiten, wenn man so will, nicht unbedingt nur positiv. Man ist, denke ich, sehr breit aufgestellt in der Chemie, auch in der Arzneimittelchemie, auch die traditionelle chinesische Medizin, die ja bei uns ja zunehmend Zustimmung auch bekommt, und viele Menschen kaufen ja diese Medikamente – Hunderte von Millionen Umsatz sollte es mittlerweile haben. Klar, dass in einem solchen Land viel experimentiert wird und natürlich auch die Sportfunktionäre das mitbekommen. Und da, denke ich, liegt die Wurzel des Ganzen.

Hanselmann: Also das bringt mich in die Richtung zu denken, es gibt da tatsächlich irgendwelche angemischten Substanzen, die die westlichen Chemiker und Dopingkontrolleure und so weiter nicht kennen.

Sörgel: Ja, das Wort "angemischt" gefällt mir jetzt wirklich sehr gut, weil es eben, sagen wir mal, direkt die Verbindung zu dem Begriff traditionelle chinesische Medizin schafft. Ich will also jetzt um Gottes Willen nicht behaupten, dass traditionelle chinesische Pflanzenmedizin solche Leistungen hervorbringt, aber es ist klar, wenn man also so viele Stoffe untersucht im Rahmen der traditionellen chinesischen Medizin, dann kommt manchmal auch was ganz Tolles raus.

Ich will nur in diesem Zusammenhang erwähnen, dass das Artemisinin, ein Malariamittel, aus dieser traditionellen chinesischen Medizin kommt, das ist eine fantastische Substanz. Da frag ich mich dann natürlich als Pharmakologe, ja, wieso soll eigentlich, in Anführungszeichen, "nur" was für die Malariabehandlung, was ja für uns sehr wichtig ist und da freuen wir uns ja drüber, sondern nicht auch für den Sport und andere Bereiche.

Hanselmann: Sie haben es ja beobachtet, Sie haben ja die Leistungsschau der Chinesen bisher sicherlich mitverfolgt, also dieser unglaubliche Gewichtheber zum Beispiel gestern. Eine ganz klare Aussage von Ihnen: Vermuten Sie, dass da Doping im Spiel ist?

Sörgel: Ja, ich denke schon, aber eben, ich hab noch – das muss ich jetzt vielleicht kurz einfließen lassen – bis vor Kurzem gesagt, diese Dinge mit biotechnologischem Doping, mit Zellmaterial und so weiter, das wird alles noch ein bisschen dauern. Aber man hat jetzt den Eindruck, dass wir hier vielleicht ein bisschen nachlässig waren, vielleicht auch ein bisschen geschlafen haben und diese Dinge doch schon früher im Umlauf sind, als wir denken – nur leider eben nicht nachweisbar.

Hanselmann: Dann fehlen also mit anderen Worten neue und erweiterte Dopingkontrollmöglichkeiten?

Sörgel: Das ist genau der Punkt, aber hier müssen wir ganz klar sagen, das kann jetzt nicht in einer Kritik an den Dopinglaboren ausarten, denn die tun wirklich alles, was man also mit den heutigen technischen Möglichkeiten machen kann. Man darf nicht vergessen, dass wir bei den Standardsubstanzen mittlerweile ein enorm hohes Niveau haben und wirklich jeden Sportler, der dumm genug ist, Standardsubstanzen zu verwenden – und die gibt es ja noch, wie man während der Tour de France und auch in der Vorbereitung zu London gesehen hat.

Hanselmann: Also mit Standardsubstanzen meinen Sie zum Beispiel?

Sörgel: Epo, Wachstumshormone, dann natürlich dieser unglaubliche Unsinn, harntreibende Mittel, Diuretika, einzusetzen, wie es der Tour-de-France-Radfahrer oder der Luxemburger Fränk Schleck gemacht hat. Dann die Marokkanerin, die für den 1500-Meter-Lauf eigentlichen Goldmedaillen-Anwärterin war, hat das gemacht. Völlig unverständlich, dass man so was tut, denn diese Substanzen, die kriegen die Dopinglabore wirklich bestens.

Hanselmann: Das heißt, man kann ausschließen, zum Beispiel bei der chinesischen Schwimmerin Ye Shiwen, dass sie mit Wachstumshormonen gedopt ist, das wäre aufgefallen?

Sörgel: Na ja, bei Wachstumshormonen wäre ich jetzt schon wieder ein bisschen vorsichtiger. Das Problem bei Wachstumshormonen ist ja – Problem für die Dopingfahnder natürlich, für den Sportler ist es ein Vorteil –, es hat eine sehr kurze Überlebensdauer im Körper. Das heißt also, wenn Sie das zum Beispiel früh spritzen, kann unter bestimmten Bedingungen, das hängt ein bisschen auch von der Konstitution des Patienten ab und von seiner genetischen Disposition, dann kann es sein, dass Sie nach 24 Stunden schon nichts mehr finden. Das ist ein großes Problem beim Wachstumshormontest. Das hängt nicht damit zusammen, dass er nicht spezifisch wäre, was ja oft bei Dopingtests immer infrage gestellt wird, sondern er ist einfach nur zu kurz wirksam.

Dass jetzt eine Sportlerin, die also in einem Endkampf ist, jetzt Wachstumshormon zum Endkampf benutzt, also das – ich bin vorsichtig –, aber das würde ich nun wirklich nicht annehmen. Das heißt, wenn man das günstig macht, dann kann man eigentlich hier auch entkommen. Und eins möchte ich auch noch hinzufügen, weil das kurz vor der Olympiade ein bisschen so in den allgemeinen Olympiathemen untergegangen ist: Das Urteil gegen Patrik Sinkewitz, der ja des Wachstumshormondopings bezichtigt worden ist, ist ja vom Schiedsgericht aufgehoben worden, weil die wissenschaftliche Absicherung nicht ausgereicht hat. Also da müssen wir sehr vorsichtig sein.

Hanselmann: Deutschlandradio Kultur, das "Radiofeuilleton". Wir sprechen mit Fritz Sörgel, er ist Leiter des Instituts für Biomedizinische und Pharmazeutische Forschung in Nürnberg. Unser Thema: Doping bei Olympia. Herr Sörgel, wie laufen denn eigentlich die Kontrollen bei den Olympischen Spielen in London?

Sörgel: Ja, also da hat sich nicht viel geändert. Natürlich wird jeder Medaillengewinner getestet, es werden dann zusätzlich noch andere in den Top Ten ausgelost und auch jenseits der Top Ten, also das geht wie schon seit vielen Jahren, da hat sich nicht viel geändert, auch was die Strenge sozusagen der Urinabgabe oder auch der Blutabnahme anbetrifft. Da, denke ich, gibt es – wenn ich das mal so ein bisschen schmunzelnd sagen darf – nichts technologisch sonderlich Neues.

Also natürlich, diese wirklich unangenehme Situation, wo ja auch mal von Sportlern aus dem Basketballbereich die Frage gestellt worden ist, ob das noch menschenwürdig ist, wenn jemand also jetzt seinen Urin gewissermaßen unter Beobachtung eines gleichgeschlechtlichen Prüfers oder Dopingkontrolleurs machen muss, das läuft alles noch gleich ab. Aber auch da ist dazu zu sagen, dass ja das vom IOC und auch von den internationalen Verbänden nicht erfunden worden ist, um die Sportler hier besonders menschenunwürdig zu behandeln, sondern man musste es ja tun, weil die Sportler eben auch bei diesen Dingen betrogen haben. Nicht nur, dass sie Substanzen eingenommen haben, sondern eben auch, dass sie die Abnahme von Urin und Blut versucht haben zu manipulieren.

Hanselmann: Herr Sörgel, in Deutschland, da kann es einen Spitzensportler ja ständig treffen mit einer überraschenden Dopingkontrolle, da wird wirklich völlig unvorhergesehen geklingelt und kontrolliert. Wie ist das eigentlich bei Sportlern in China?

Sörgel: Na ja, das ist ja genau das Problem. Sie brauchen also ein Visum, dann, wenn Sie also im günstigsten Fall, wenn Sie also jetzt vorhaben, nächste Woche zu testen, wenn Sie im günstigen Fall, sagen wir mal drei, vier Tage vorher das Ganze bekommen, dann ist das natürlich längst gemeldet, denn Sie müssen ja einen Grund angeben, warum Sie nach China kommen. Sie können ja hier sich zwar relativ frei mittlerweile bewegen, aber es ist klar, dass das System so organisiert ist, dass hier gemeldet wird, hier kommt jemand. Das ist natürlich nicht ganz gerecht, und wenn man jetzt retrospektiv die Dopingskandale um die Chinesen betrachtet, dann waren das ja oft auch – also zu Zeiten, wo also noch etwas nachgewiesen wurde bei den Chinesen –, da waren das ja auch oft Fälle, bei denen sich die Chinesen außerhalb des Landes befunden haben.

Hanselmann: Man kann ja nun Urinproben und Blutplasma einfrieren und aufheben. Was würden Sie sagen, wie groß ist denn die Chance, dass Dopingsünder auch noch Jahre nach diesen Olympischen Spielen überführt werden könnten?

Sörgel: Also erst mal, es ist komplett richtig und das hätte schon sehr viel früher erfolgen müssen, dass Proben eingefroren werden. Also man friert Plasma ein, das ist sehr wichtig, Blut kann man nicht eingefrieren, das heißt also, man kann im Nachhinein alles, was mit roten Blutkörperchen zu tun hat, nicht machen, weil die roten Blutkörperchen kaputt gehen – Urin kann man nämlich problemlos eingefrieren –, man darf sich aber hier keiner Illusion hingeben. Wenn wir jetzt hören, dass von den 2004er-Proben jetzt auch auf einen gewissen Druck der Medien die Analysen gemacht worden sind, dann sind sie auch hier nur auf ein, zwei Substanzen hin gemacht. Also das, was man versucht hat, gewissermaßen als Drohung in den Raum zu stellen, also auch noch nach sieben Jahren entdecken wir noch die unmöglichsten Substanzen, das ist nicht so.

Wir können nur die Substanzen entdecken, die auch tatsächlich in irgendeiner Form mal bei einem Sportler entdeckt worden sind. Wenn also jetzt geschickte Substanzen, also im Sinne der Chemie, ihrer chemischen Struktur, dass sie nicht gut nachweisbar waren, verwendet worden sind, dann ist das zwar ganz nett, dass die Proben eingefroren sind, aber das Problem bleibt das gleiche. Wir können sie nicht nachweisen.

Hanselmann: Herr Sörgel, letzte Frage: Gehen Sie ganz persönlich mit Ihrer umfangreichen Erfahrung auf diesem Gebiet davon aus, dass chinesische Sportler mit großer Wahrscheinlichkeit gedopt sind?

Sörgel: Ja, also ich denke, es wird nicht bei jedem Sportler im gleichen Maße erfolgen, und man muss sicher auch überlegen, ob es nicht eben – wenn ich noch mal auf den Anfang unseres Gespräches zurückkommen darf, traditionelle chinesische Medizin –, es kann auch durchaus sein, dass dieses harte, dieses brutale Training, diese Selektion, plus Teile der traditionellen chinesischen Medizin, die im Moment nicht durch unsere Dopingregeln beziehungsweise die Verbotssubstanzen abgedeckt werden, zu solchen Leistungen kommen. Das können wir nicht ausschließen.

Hanselmann: Aber Akupunktur können wir ausschließen?

Sörgel: Ja, also ich denke schon, obwohl natürlich, also das muss man auch sagen, also ein Sportler, der vielleicht sehr beruhigt in den Wettbewerb geht, ein Schütze, davon profitiert. Das ist eine interessante Frage. Warum darf ein Schütze keinen Betablocker nehmen, um sich ruhigzustellen und darf aber Akupunktur machen. Sie sehen, es wird immer gleich kompliziert.

Hanselmann: Fritz Sörgel, Leiter des Instituts für Biomedizinische und Pharmazeutische Forschung in Nürnberg zum Thema Doping bei Olympia. Danke schön, Herr Sörgel, schönen Tag!

Sörgel: Gerne, schönen Tag noch!

Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Fritz Sörgel, Leiter des Instituts für Biomedizinische und Pharmazeutische Forschung (IBMP)
Fritz Sörgel, Leiter des Instituts für Biomedizinische und Pharmazeutische Forschung (IBMP)© dpa / picture alliance / Daniel Karmann
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