Lärm und Stille (4)

Akustische Lücken

Gräber für deutsche Soldaten, die im Ersten Weltkrieg in Ostafrika gefallen sind, auf dem Militärfriedhof in Daressalam in Tansania.
Friedhöfe stellen die größte Herausforderung akustischer Lückenfüller dar. Geometrische Anordnung und Wege sollen Abhilfe schaffen. © picture alliance / dpa / Carola Frentzen
Leopold von Verschuer im Gespräch mit Kathrin Röggla · 05.03.2015
Manchmal wird unsere Aufmerksamkeit plötzlich auf eine ungewohnte Stelle gelenkt, alles um uns herum scheint still zu werden. Das liegt an "akustischen Lücken", wie der fiktive Beamte Leopold von Verschuer im heutigen "Originalton" erklärt.
Kathrin Röggla: Herr von Verschuer, was sind akustische Lücken in der Stadt?
Leopold von Verschuer: Ja, das ist eine sehr interessante Frage, Sie erleben das ja manchmal, wenn Sie durch die Stadt gehen und den Blick heben, weil etwas, eine ungewohnte Stelle ihre Aufmerksamkeit weckt, dass für einen Moment alles um Sie herum verstummt, das wäre eine Form der akustischen Lücke. Es handelt sich um ein psychoakustisches Phänomen.
Röggla: Nun sind Sie vom Raumdezernat angestellt als akustischer Lückenfüller – was kann man sich darunter vorstellen?
von Verschuer: Wie Sie wissen, ist jede Form der Abweichung in einer Gesellschaft wie der unseren nicht erwünscht, insofern ist es meine Aufgabe dafür zu sorgen, dass die Aufmerksamkeit der Menschen in einer Stadt wie der unseren, sich in möglichst vorausschaubaren Bahnen bewegt. z.B. die Fülle von Beschilderungen in der Stadt sind nur in zweiter Linie Verkehrsleitsysteme und dergleichen, in erster Linie binden sie die Aufmerksamkeit des Bürgers, und halten ihn davon ab, in solche akustischen Lücken zu stolpern.
Röggla: Gab es einen Auftrag, der Sie stolpern ließ?
von Verschuer: Ja ich muss sagen, der von der Stadt Berlin öffentlich verwaltete Friedhof ist eine solche heikle Aufgabe, weil man natürlich den Menschen nicht die Möglichkeit nehmen will, für einen Moment zurückzutreten, nichts desto trotz muss auch die Trauer in geordneten Bahnen verlaufen, und wenn Sie sich die Friedhöfe aufmerksam anschauen, bemerken sie eine sehr gezielte Form, z.B. die Begrünung, die Anordnung der Wege etc. Das alles ist dem Geometrischen verpflichtet, verführt nicht so leicht dem Schweifen der Aufmerksamkeit.
Röggla: Arbeiten Sie sozusagen an der Abschaffung ihrer eigenen Arbeit?
von Verschuer: Das könnte man so sagen, nun muss ich sagen, ich bin 62, ich habe noch 3 Jahre, bis ich in den wohlverdienten – ich hoffe, wohlverdienten - Ruhestand treten darf, insofern mache ich mir da für mich persönlich wenige Sorgen.
Röggla: Herr von Verschuer, ich danke für das Gespräch!

Die Autorin Kathrin Röggla wurde 1971 in Salzburg geboren. Sie studierte Germanistik und Publizistik in Salzburg und Berlin. Im Jahr 1992 entstanden die ersten Bücher sowie Kurzprosa. Seit 1998 verfasst und produziert sie auch Radioarbeiten – Hörspiele, akustische Installationen, Netzradio. Seit 2002 schreibt sie Theatertexte. Für die Reihe "Originalton" schreibt sie in dieser Woche über Lärm und Stille: Sie interviewt ihren Kollegen Ulrich Peltzer, ihre Kinder oder auch einen Fachmann für "akustische Lücken" - ihren Ehemann, den Autor und Schauspieler Leopold von Verschuer, der in die Rolle eines Bürokraten schlüpft, dessen Arbeitsbereich es in Wirklichkeit gar nicht gibt.

© dpa / picture alliance / Fredrik von Erichsen
"Originalton" heißt ein täglicher Bestandteil unserer Sendung "Lesart". Wir bitten Schriftsteller jeweils für eine Woche um einen kurzen Text. Er soll kleine Formen erproben und mit den Möglichkeiten des Radios spielen.
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