Längst nicht mehr subversiv

Rezensiert von Helmut Böttiger · 06.07.2006
Péter Esterházys "Einführung in die schöne Literatur" erschien unter komplizierten Umständen bereits 1986 im damals sozialistischen Ungarn. Unter den damaligen Verhältnissen konnten seine Texte noch provozierend wirken, heute wirken sie mitunter nostalgisch bis angestaubt. Dennoch bieten sie ein geistreiches Lesevergnügen, in denen die spezielle Ironie Esterházys durchblitzt.
Wer würde von diesen 888 Seiten nicht erschlagen? Alles sieht danach aus, als ob es ein geheimnisvolles, frühes Opus magnum von Peter Esterhazy wäre, dem Friedenspreisträger des deutschen Buchhandels und Autor des überall gefeierten Romans "Harmonia Caelestis" aus dem Jahr 2001. Der Titel "Einführung in die schöne Literatur" ist sehr suggestiv, und wir erfahren, dass das Buch im Original schon 1986 in Ungarn erschienen ist - als es Ost und West noch gab und in Ungarn der so genannte "Gulaschkommunismus" einen einigermaßen ruhigen Alltag gewährleistete, im Schatten der großen Sowjetunion aber dennoch einen gewaltigen gesellschaftlichen Druck produzierte.

Der Berlin Verlag, der dieses Frühwerk Esterhazys nun in prunkvoller Aufmachung herausbringt, lässt nur im Kleingedruckten erkennen, dass das Meiste aus diesem Buch schon längst auf Deutsch erschienen ist.

Esterhazy hat aus dem großen Konvolut, das er 1986 unter interessanten und komplizierten Umständen in Ungarn herausbrachte, seit Anfang der neunziger Jahre Stück für Stück kleinere Teile herausgelöst und im deutschsprachigen Raum publiziert, angefangen mit "Wer haftet für die Sicherheit der Lady" über die listige "Kleine ungarische Pornographie" bis zu den "Hilfsverben des Herzens". Es ist also beileibe kein Sensationsfund, den wir hier aufspüren dürfen.

Die "Einführung in die schöne Literatur" ist im engeren Sinne etwas für Esterhazy-Liebhaber und für solche Leser, die Sinn für historische Konstellationen haben. Denn 1986 besaß dieses Konvolut natürlich einen Sprengstoff, der sich heute weitgehend verflüchtigt hat. Vieles aus diesem Buch erscheint heute zeitverhaftet und veraltet.

Aber es gibt zwei Gründe dafür, dieses ausschweifende Textkorpus auch heute für wichtig erachten zu können: erstens gibt es natürlich einige längere Passagen, die bisher nicht ins Deutsche übersetzt worden sind, und zweitens ist die Zusammenstellung und Anmutung des Werks ein aufschlussreicher Ausdruck dessen, wie man in Ungarn zur Zeit des Ostblocks subversiv sein konnte und wie Esterhazy seine spezifische Art der literarischen Subversion, seine Erzähltechnik in den Anfängen anlegte.

Schon am Beginn des Buches überrascht Esterhazy den Leser mit Montagen, Druckbildern und literarischen Techniken, die aus der Zeit der klassischen Avantgarde stammen und im Reich des sozialistischen Realismus per se provokativ wirken konnten. "Flucht der Prosa" heißt der erste Teil, der ständig auf James Joyce und den Bloomsday verweist und sich explizit auf die Errungenschaften der literarischen Moderne beruft.

Im Wirrwarr der Wortspiele kann auch die "Selbstzensur" benannt werden, die bei einem im realen Sozialismus verlegten Werk per definitionem nötig ist, und in dieser Benennung wird sie zugleich fast schon wieder aufgehoben. Es ist ein lustiger Reigen von Anspielungen, von Zitaten, von augenzwinkernden Verweisen; manchmal ist es geistreich und verspielt-kokett, manchmal auch schal und angestrengt, aber verdienstvoll ist das allemal.

Esterhazy kultiviert hier auch seine Technik der "Gasttexte", das heißt der langen Zitate aus Texten der Weltliteratur. Die wunderbare Szene aus Kafkas "Schloss", als sich die Liebe zwischen Bierpfützen ereignet, kann da selbstverständlich nicht ausgelassen werden, und noch der letzte Satz zitiert Peter Handkes "Wunschloses Unglück" - Esterhazy schreibt ebenfalls über den Tod seiner Mutter.

Diese "Einführung in die schöne Literatur" ist also ein wunderbares Zeugnis aus einer Zeit, als die Literatur noch richtig provozieren konnte und lustvoll ihre gesellschaftliche Relevanz auskosten durfte - ein bisschen nostalgisch ist das schon, aber als Beleg für die frühe Ausprägung der Esterhazyschen Ironie auch aller Ehren wert.


Péter Esterházy: Einführung in die schöne Literatur
Übersetzt von Bernd-Rainer Barth, György Buda, und Zsuzsanna Gahse
Berlin Verlag 2006
888 Seiten