Dienstag, 19. März 2024

Archiv

"Delayed Gratification"
Entschleunigter Journalismus aus London

"Delayed Gratification" ist ein 120-Seiten-Magazin aus London, das in einer Auflage von 5.000 erscheint. Aufgearbeitet werden die wichtigsten Schlagzeilen des vorherigen Vierteljahres. Und das mit tiefgründiger Analyse.

Von Jochen Spengler | 14.03.2015
    Das Magazin "Delayed Gratification" aus London: Vierteljahre im Überblick.
    Das Magazin "Delayed Gratification" aus London: Vierteljahre im Überblick. (Deutschlandradio - Jochen Spengler)
    Wir treffen Rob Orchard, den 34-jährigen Chefredakteur der Zeitschrift, in einem Café im Westflügel des klassizistischen Somerset Hauses am Themseufer. Rob gibt einen Kaffee aus und geht voraus:
    "Wenn wir das Magazin zusammenstellen, sind wir mehr Leute: der Art Direktor, weitere Redakteure, fünf oder sechs, aber Tag für Tag sind hier nur drei Leute."
    Rob selbst, eine Praktikantin und die Redakteurin Loes – die einzigen Vollzeitkräfte von "Delayed Gratification":
    "Jeder macht hier von allem etwas. Neben dem Internet sorge ich mich auch um den Vertrieb, die Post, aber auch um Stories. In der neuesten Ausgabe habe ich über den Sony-Hack durch Nordkorea geschrieben."
    Magazin jenseits der Eilmeldungen
    Rob führt in einen gesonderten Besprechungsraum und erklärt dabei, was ihn am Mainstream-Journalismus stört. Man werde stündlich bombardiert mit Eilmeldungen, Live-Blogs, Tweets, Emails, Anfragen in den sozialen Netzwerken.
    "Das ist alles zu viel, eine Rauschstörung - und oft gar nicht relevant. Es ist sehr schwer, zu entscheiden, was wichtig ist und was nicht."
    Natürlich, so sagt er, brauche man auch den tagesaktuellen Journalismus, aber "Delayed Gratification" verstehe sich als Korrektiv und Ergänzung.
    "Wir versuchen, Durchblick zu bringen, Analyse. Unser Motto lautet: Letzter bei den Eilmeldungen. Entschleunigter Journalismus ist eine Parallele zu Slow Food oder bewusstem Reisen. Sich Zeit zu nehmen für Qualität, für etwas, das mehr Befriedigung und Freude bringt. Es ist ein Aufruf zu gutem Journalismus, der den Autoren Zeit, Geld und Unterstützung gibt, damit sie das tun, was sie am besten können: Geschichten nachzugehen."
    Also müsst ihr eine Menge Geld haben?
    "Nein, wir haben fast gar kein Geld. Wir sitzen hier in diesem eigenartigen Sitzungsraum, wo der Putz von den Wänden bröckelt, die Fenster dreckig sind und eine tote Pflanze in der Ecke steht. Das ist nicht das Büro eines Medienmoguls."
    Titelblatt wird von einem Künstler gestaltet
    Rob blättert sichtbar stolz durch sein Produkt: Das Titelblatt wird immer von einem Künstler gestaltet.
    "Und dann beginnt das Magazin, es ist in drei Sektionen, die drei Monate des Vierteljahrs gegliedert. Die jetzt erschienene Ausgabe behandelt Oktober, November und Dezember des letzten Jahres. Wir haben einen Almanach mit lustigen Fakten und zusammengehalten wird alles durch diese durchlaufende Spalte am Rand, in der chronologisch die wichtigsten Ereignisse aufgeführt und eingeordnet werden."
    Schulbuchformat, Mehrfarbdruck auf dickem, mattem, stark riechendem Papier. Der Inhalt bunt, abwechslungsreich, vielfältig gespickt mit Fotos, preisgekrönten Infografiken und Texten, die einordnen: etwa das Massaker an 133 Schulkindern in Peshawar im Dezember.
    "Ich habe seitdem hier keine Artikel darüber mehr gelesen, obwohl es in Pakistan ein Riesenthema bleibt. Unser Autor berichtet, dass es jetzt großen Widerstand gegen die Taliban gibt, das Menschen, die sich vorher nicht trauten, im Fernsehen Stellung nehmen – es ist ein Ereignis, dass eine Grenze markiert und zu großem Wandel geführt hat."
    Inzwischen denkt die Redaktion schon nach über die nächste Ausgabe von "Delayed Gratification". Sie erscheint im Juni und bildet das erste Vierteljahr 2015 ab. Was war interessant, was wichtig?
    "Wir werden alles weglassen, was offensichtlicher Unsinn war, all die Geschichten, die von PR-Agenturen initiiert wurden, die Twitter-Streitereien und Aufreger in sozialen Medien, die irgendwie hochgepuscht wurden. Und dann liefern wir einen schönen, 120 Seiten Überblick über drei Monate auf der Welt."