La Grande Nation in der Krise

Vorgestellt von Michael Stürmer · 09.04.2007
In Frankreich stehen Präsidentschaftswahlen an. Doch ob der Nachfolger von Jacques Chirac die Probleme wird lösen können, ist fraglich. Das Land befindet seit einigen Jahren in der Dauerkrise. Alexander von Sobeck legt in seinem Buch "Ist Frankreich noch zu retten?" eine nüchterne Bestandsaufnahme vor.
Frankreich zieht seit einigen Jahren besorgte Blicke auf sich, französische und nicht-französische. Heute kann man in Pariser Buchläden unter zwei Dutzend Titeln wählen, die alle nur ein Thema haben, allerdings mit Variationen: Frankreich geht es schlecht, die Banlieue hat gebrannt, dem Land fehlen Führung, Richtung und inneres Gleichgewicht, es lebt über die Verhältnisse, es verliert seine Seele. "Die französische Krankheit", "Frankreich im Absturz", "Die Tragödie des Präsidenten", so und ähnlich lauten die Titel, selbstkritisch, erbarmungslos, und ohne das Versprechen irgendwelcher Patentrezepte. Die bald bevorstehende Wahl zum Präsidentenamt fokussiert die Debatte auf die Kandidaten, die achtbar sind. Aber ob der Retter der Gesellschaft sich da findet, ist offen. Manche sprechen vom Heraufziehen, nach de Gaulles Fünfter, der sechsten Republik.

Für Deutschland ist das nur begrenzt Zuschauersport; er ist vielmehr Teil der eigenen Möglichkeiten, Grenzen und Befindlichkeiten. Denn die deutsch-französische Sonderbeziehung ist nicht nur Poesie: Sie war immer der Motor der Europäischen Union, und wenn Frankreich durch sich selbst absorbiert ist, gibt es wenig Vorwärtsbewegung. Kanzlerin Merkel hat das in den vergangenen Monaten schmerzlich bemerken müssen. Dass die Dinge nach dem zweiten Wahlgang für das Präsidentenamt Ende Mai grundlegend besser werden, bedarf des Wunderglaubens.

In dieser Lage hat Alexander von Sobeck, als Chef des Pariser ZDF-Büros ein bekanntes Gesicht und eine markante Stimme, ein Buch geschrieben, das den Deutschen Frankreich erklären soll. Das ist nicht mehr Friedrich Sieburgs klassische Eloge "Gott in Frankreich", sondern die nüchterne Anatomie eines Landes, das in der Tat in mehreren Krisen steckt. Am deutlichsten das Malaise des Systems Chirac – Von Sobeck liefert, was er eine Chronologie des Versagens seit 2003 nennt, mit gravierenden Auswirkungen auf Deutschland und die EU:

"Staatspräsident Chirac tat das, was er am liebsten tat, seit er nach dem Streit mit Schröder in Nizza auf dem EU-Gipfel in Gerhard Schröder einen neuen Verbündeten gefunden hatte. Alle paar Wochen herzliche Umarmungen vor laufenden Kameras und anschließend ein Gläschen Rotwein – oder auch mehr. ... Blaesheim-Treffen hießen diese Veranstaltungen, nach einem Städtchen im Elsass, in dem die beiden ihren Streit begraben und in eine Männerfreundschaft verwandelt hatten. Objektiv gesehen war ihnen auch nicht viel anderes übrig geblieben, nachdem sie wegen ihrer ablehnenden Haltung zum Irak-Krieg in Washington völlig unten durch und auch innerhalb Europas in Isolation geraten waren."

Von Sobeck ist ein scharfer Beobachter mit der Fähigkeit, komplexe Vorgänge augenfällig zu machen. Da ging es im November 2005 um eine kleine Reform des Arbeitsrecht, mit der sich der Premierminister de Villepin redlich abgeplagt hatte. Der Präsident unterstützte ihn erst, als dann allerdings ein wütender Protest losbrach, ging er in Deckung:

"Wohlgemerkt, nur der Kündigungsschutz für Berufsanfänger bis zum 26. Lebensjahr sollte abgeschafft werden, nicht die Bürgerrechte. Studenten, Gewerkschafter, die linke Opposition zogen dagegen im Frühjahr 2006 auf die Straße, prügelten sich mit der Polizei; klammerten sich an den sozialen Besitzstand. Da protestierten Schüler für einen Kündigungsschutz in Arbeitsverträgen, die sie nie bekommen werden, weil es die Arbeitsplätze einfach nicht gibt, zumindest solange eben dieser Kündigungsschutz nicht gelockert werden kann."

Von Sobeck liefert aber nicht nur den schwierigen Stoff der Außen- und Sicherheitspolitik und der Sozialpolitik, sondern auch Beobachtungen und Momente, die den begabten Journalisten verraten – so auch über Essen und Trinken. Der Beaujolais Perimeur? Was in Deutschland gefeiert wird wie eine Offenbarung, gilt in Frankreich als Weg zu dauerhaftem Kopfschmerz. Chablis? Das Getränk der Schickeria in Deutschland ist dem Kenner zu sauer. Recht hat er. Er liefert sogar ein umständliches Rezept für Foie gras, Gänse- oder Entenstopfleber, so wohlschmeckend wie ungesund.

Aber der Schwerpunkt dieses Porträts der heutigen Franzosen liegt doch eindeutig in der Politik. So stellt von Sobeck die Frage, ob die Franzosen gute Europäer seien. Die Antwort:

"Franzosen sind in erster Linie eingefleischte Nationalisten. Zuerst kommt La Grande Nation und dann lange gar nichts."

Nichts war deutlicher als die Ablehnung der EU-Verfassung durch eine Mehrheit der Wähler:

"Da kam vieles zusammen. Die Diskussion über die Entsenderichtlinie…"

- der polnische Klempner war die Schreckensgestalt, die allen Franzosen alle kleinen Arbeitsplätze wegzunehmen drohte, in Wahrheit aber unsichtbar blieb.

"Der Streit vor allem mit London über die Finanzierung der Gemeinschaft, die Angst vor immer neuem Zuzug, vor Billigkonkurrenz auf dem Arbeitsmarkt, vor Kriminalität, Lohndumping und offenen Grenzen."

In einem Wort: Die Franzosen hatten genug von Brüssel, von Europa, von Globalisierung. Aber nicht nur die Wähler, auch die Regierung blieb ratlos, was denn stattdessen sein sollte. Da aber beginnt die französische Krankheit ansteckend zu werden für alle anderen Europäer, und Immunität ist nicht zu haben.

Was von Sobeck bietet, ist eine kluge, lesbare, informative Bestandsaufnahme, ein vielschichtiges Bild Frankreichs in Glanz und Elend, kritisch geschrieben, aber doch mit dem Schmerz dessen, der eigentlich noch die Vergangenheit der "douce France" festhalten möchte und weiß, dass das alles längst überholt ist von eben jenen Kräften, die die Franzosen nicht ins Haus lassen wollen. Die eine oder andere Flapsigkeit rutscht dem Autor durch, völlig überflüssig aber störend, und ein aufmerksamer Lektor hätte da eingreifen müssen.
Sonst aber ein Buch von deutlicher Aussprache, das, wie man in Frankreich sagt, eine Katze eine Katze nennt.

Alexander von Sobeck: Ist Frankreich noch zu retten?
Propyläen Verlag, Berlin 2007
Alexander von Sobeck: Ist Frankreich noch zu retten?
Alexander von Sobeck: Ist Frankreich noch zu retten?© Propyläen Verlag