"L'Histoire du Soldat" von Igor Strawinsky

Moritat mit faustischer Fabel

Der Komponist Igor Strawinsky (1882-1971)
Ein Meister, auch in der Beschränkung: Der Komponist Igor Strawinsky © dpa / picture alliance
Gast: Frank Schneider, Musikwissenschaftler; Moderation: Michael Dasche · 30.09.2018
Kurz, aber nicht schmerzlos: In Igor Strawinskys "Geschichte vom Soldaten" klingt der Erste Weltkrieg nach. Ein Soldat liefert sich dem Teufel aus, ein Jahrmarktsstück wird zum großen Welttheater. Einhundert Jahre später zeigt sich die Zeitlosigkeit des Werks.
Als der Dirigent Ernest Ansermet vor einhundert Jahren, am 28. September 1918, Igor Strawinskys "L'Histoire du Soldat" ("Die Geschichte vom Soldaten") aus der Taufe hob, wurden die letzten Schlachten des Großen Krieges geschlagen, den man später den Ersten Weltkrieg nannte. Die Male des Krieges trägt das Stück in mehrfacher Hinsicht: Wirtschaftliche Not zwang den im Schweizer Exil lebenden Komponisten und seinen Textautor, den waadtländischen Dichter Charles Ferdinand Ramuz, zu einem pragmatischen Konzept: "Warum nicht gemeinsam ein Stück schreiben, das keinen großen Saal braucht, ein Stück, dessen Musik nur wenige Instrumente erfordern würde und das nur zwei oder drei Personen hätte? Wir würden die alte Tradition der Gauklerbühnen, der Wander- und Jahrmarktstheater wieder aufnehmen", so Ramuz in seinen "Souvenirs sur Igor Strawinsky" über den Ursprung des Projekts.

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Aus der Not eine Tugend machen

Die kriegsbedingte Reduktion musiktheatralischer Mittel (die freilich auf der Linie zeitgenössischer Theater-Experimente von Debussy, Satie, Busoni und Schönberg, vor allem aber der antiromantischen und antiimpressionistischen Ästhetik Jean Cocteaus lag) – sie fand ihre thematische Entsprechung im Sujet. Allein dass es in Zeiten eines verheerenden Krieges um das Schicksal eines Soldaten ging, verlieh der "Geschichte" einen gleichnishaften Charakter.

Fahnenflucht und Teufelswerk

Strawinsky selbst hatte Anregungen für Ramuz' Textbuch in einer Sammlung russischer Märchen von Alexander Afanassjew gefunden, aus der vor allem "Der fahnenflüchtige Soldat und der Teufel" Pate gestanden haben dürfte. Denn im Kern geht es in der "gelesenen, gespielten und getanzten" Moritat um das Widerspiel dieser beiden Protagonisten: Ein Soldat auf Urlaub begegnet auf seinem Heimweg dem verkleideten Teufel. Kriegsmüde, ausgehungert und ohne Geld ist er leicht verführbar, bereit, sich mit zwielichtigen Gestalten einzulassen und mit unlauteren Mitteln sein kleines Glück zu machen. Selbst seine geliebte Geige lässt er sich vom Teufel abhandeln, tauscht sie gegen ein Zauberbuch ein, das seinem Besitzer großen Reichtum verschafft. Unwissend hat er damit seine Seele verkauft, sich dem Dämon ausgeliefert.
Fern einem politischen Lehrstück, belegt diese Sujetwahl dennoch die Sensibilität Strawinskys für die Zeichen der Zeit. Als Russe war ihm bewusst, dass die Soldatengeschichten Afanassjews die grausame Rekrutierungspraxis unter Zar Nikolaus I. reflektierten, unter dessen Regentschaft Soldaten zu Strafgefangenen der eigenen Armee wurden.

Ein "verlumpter Faust"

Gegenüber der persönlichen Tragik seines Helden, des "verlumpten Faust", wie der Philosoph Ernst Bloch die Figur nannte, zeigt sich Strawinsky musikalisch betont "sachlich". Im spielerischen Kindertrompetenton, in den parodistischen Verzerrungen der Musiknummern wird gar ein Moment von Distanzierung spürbar. Mitreißend ist die Musik dennoch – eben weil sie nicht "einfühlsam" daherkommt, sondern scharfe Artikulation mit schmissiger Rhythmik vereint, gestisch prägnante Motive kontrapunktisch raffiniert verknüpft. Zudem wird hier polyglottes Material verarbeitet, denn Strawinsky greift nicht nur auf russische Folklore, sondern auch auf damals modische Gebrauchsmusik und sogar den Jazz zurück, den der Komponist 1917 zunächst – ohne den Klang erlebt zu haben – durch Noten aus den USA kennengelernt hatte.

Dem Chaos entgegentreten

So sehr Strawinsky sich – mit kargem Instrumentarium und straffen Formen – vom "polierten" Klang der "oberen" Musik abzusetzen suchte, so sehr unterwarf er die archaische Sinnlichkeit der "unteren" Musik streng regulierter Artistik. Eben dies war und blieb für ihn unabdingbar: Mit der Ordnung in seiner Kunst dem Chaos der Welt – über das Jahr 1918 hinaus – Grenzen aufzuzeigen.
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