Kurzroman

Sinnliches aus dem Schloss

Von Wolfgang Schneider · 16.12.2013
Eduard von Keyserling zeigt die soziale Fragwürdigkeit der Adelsherrschaft. Trotz all der Schlösser, Wälder und Liebesnöte ist der Kurzroman kein Buch á la Rosamunde Pilcher. Eine ironische Erzählweise und der Verfall der Pracht verhindern das.
Baltische Landschaften, alte Schlösser, Wälder und Felder, kapriziöse Tanten, dazu die Liebes- und Lebensnöte einer jüngeren Generation, der die Zukunft nicht mehr viel zu bieten hat. Kein Zweifel, bei Eduard von Keyserling begegnen wir einer Welt von Vorgestern, einem inzwischen ziemlich stillen Winkel der Literatur, der sich - zumindest inhaltlich - nicht für die Moderne vereinnahmen lässt. Und doch hat Keyserlings Schlossgeschichte "Beate und Mareile“ nichts Rosamundepilcherhaftes. Ihre Ironie und Morbidität, ihre Schönheit und Verfallspracht, die überaus sinnliche Erzählkunst verhindern das.
Mit einer an Loriot erinnernden Beschwörung alten Adels beginnt es: "Aus dem Badezimmer erscholl ein gleichmäßiges Plätschern. Günther von Tarniff saß in seinem rotgelben Badebassin.“ Es ist das erste Signal einer sinnlichen Genusssucht, die für das Geschehen entscheidend wird. Günther hat nach einem munteren Junggesellenleben die eher strenge ("weiße“) Beate von Losnitz geheiratet, eine Verkörperung adeliger Tugenden. Die Ehe erscheint Günther als Hafen, auch wenn ihm die Metapher beim ehelichen Geplauder bezeichnenderweise ins Obszöne verrutscht: "Du bist ein hübscher, glatter, tiefer Hafen, gut ausgebaggert, man sieht bis auf den Grund.“
Indessen scheint alles seinen geordneten, gemäßigten Gang zu gehen - bis Beates Jugendfreundin nach Schloss Kaltin zurückkehrt, die Inspektorentochter Mareile Ziepe, die sich jetzt Mareile Cibò nennt. Sie hat Karriere als Sängerin gemacht, eine hinreißende Frau, die sich von den Männern einen Liebesschwur, eine Begehrensmeldung nach der anderen anhören muss. Eine schwüle Sinnlichkeit hält Einzug, die etwas vom Schwelgen und Blühen der summenden Sommergärten hat. Auch Günther ist bald infiziert. Mit der ihm eigenen Gefallsucht geht er an den Ehebruch. Aber der Ritt gegen die Konventionen seiner Klasse führt am Ende zu weit. Günther wird zur Raison gebracht, mittels eines Duells. Schwer verwundet bekehrt er sich zu den Vorzügen seiner "weißen“ Frau, und Mareile ballt die Faust beim Anblick von Schloss Kaltin - eine maskuline Gebärde, die den Machtwillen, der in ihrer sexuellen Betörung wirksam war, deutlich herausstellt.
Landschaften leuchten, als hätte sie van Gogh gemalt
Die soziale Fragwürdigkeit der Adelsherrschaft wird überdeutlich, wenn auch die Äcker wie "Seidenstreifen“ glänzen oder wenn der "gierige Lebenstrinker“ Günther nur ein einziges Mal bei Arbeit gezeigt wird, wobei es ihm bloß um den Effekt geht: "Es trieb ihn, vor Mareiles Fenster eine imponierende Gutsherrentätigkeit zu entfalten.“
Es gibt in diesem 1903 erschienenen Kurzroman einige Sätze, die heute merkwürdig anmuten, vor allem die Rede von edlem "Blut“ und die Pferdezuchtvergleiche, die die Situation des alten Adels kennzeichnen sollen. Es gibt aber viel öfter Beschreibungen, die so gut sind, dass man sie sich laut vorlesen möchte. Keyserlings Landschaften leuchten und glühen, als hätte sie van Gogh gemalt. Welcher andere Autor deutscher Sprache kann in knappen, intensiven Sätzen so viel Sommer- oder Herbststimmung einfangen?
Ohne Blümeranz sind die fiebrigen Beschreibungen sexueller Ekstase. Hier haben Keyserlings Figuren eine ganze Dimension mehr als die des thematisch verwandten Fontane, der erzählerische Dezenz wahrt. Die Verhaltenslehre der Kälte, die vor allem die herrschaftlichen Frauen als feinblasse "Marmordamen“ betrifft, treibt im Gegenzug die "Lebensungeduld“ hervor. "Beate und Mareile“ ist eine wunderbare Komödie der Sublimierungsanstrengung.

Eduard von Keyserling: Beate und Mareile. Eine Schlossgeschichte
Nachwort von Uwe Timm
Manesse Verlag, München 2013
222 Seiten, 19,95 Euro

Mehr zum Thema