Kurzkritiken

Helden mit ungewöhnlichen Handicaps

Der Schauspieler Sam Worthington und Schauspielerin Jennifer Aniston bei der Premiere von "Cake"
Der Schauspieler Sam Worthington und Schauspielerin Jennifer Aniston bei der Premiere von "Cake" © Imago / Xinhua
Von Christian Berndt · 04.04.2015
Ein Film aus dem Tschad über einen behinderten, aber genialer Tänzer, ein US-Film über eine körperlich versehrte Zynikerin und ein polnischer Film über einen jungen Mann, der jahrzehntelang zu Unrecht für geistig behindert erklärt wurde - die Filme in unseren Kurzkritiken.
Die Menge brüllt nach Grigri. Dann endlich betritt der junge Mann die Tanzfläche und legt los: Grigri tanzt - und mit den fließenden Bewegungen seines muskulösen Körpers, der keine Knochen zu haben scheint, bringt er die Menge zum Kochen. Er ist die abendliche Attraktion eines Clubs in der Hauptstadt des Tschad.
Was Grigri beim Tanz einzigartig macht, ist im Alltag ein Handicap – er hat ein verkrüppeltes Bein. Tagsüber ist er ein Außenseiter, der einzig von einer Prostituierten, in die er sich verliebt hat, als richtiger Mann akzeptiert wird. Das Tanzen ermöglicht Grigri ein bescheidenes Auskommen – als allerdings sein Stiefvater erkrankt, braucht er Geld und lässt sich mit Schmugglern ein. Das geht schief.
Bald muss Grigri vor den Gangstern aufs Land fliehen. Mahamat-Saleh Haroun, der aus dem Tschad stammende und in Frankreich lebende Regisseur, erzählt in seinem in Cannes ausgezeichneten Film "Grigris Glück" eine schnörkellose Parabel von Armut und Ausbeutung, aber auch prallem Lebensgefühl und Solidarität.
Die Geschichte ist weniger komplex als Harouns, ebenfalls in Cannes prämierte Gesellschaftsdramen "Daratt" und "Ein Mann, der schreit". Aber der einfach gestrickte Handlungsablauf lenkt den Blick umso stärker auf die existenziellen Lebensbedingungen der Protagonisten – den Kontrast von Stadt und Land, atemberaubender Lust und verstörend eruptiver Gewalt. Das macht "Grigris Glück" zu einem ungemein dichten Stimmungsbild dieses afrikanischen Landes.
Claire und ihr loses Mundwerk
Unter einem körperlichen Handicap leidet auch Claire, die von Jennifer Aniston gespielte, schlecht gelaunte Heldin des amerikanischen Films "Cake". Ihr vernarbter Körper bereitet unerträgliche Schmerzen – man ahnt die Folgen eines schlimmen Unfalls. Claire besucht eine Selbsthilfegruppe, in der sie allerdings mit ihrem Zynismus aneckt - zum Beispiel, als die Gruppe den Selbstmord eines Mitgliedes verarbeiten muss.
Filmausschnitt "Cake": "Ich möchte, dass Sie Nina sagen, wie nahe Ihnen ihr Selbstmord gegangen ist. – Sie ist von einer Freeway-Brücke gesprungen und auf einem Pritschenwagen gelandet, der nach Mexiko fuhr. Ihre Leiche hing beim Zoll fest, ungefähr eine Woche. Super Aktion, Nina."
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Klar, dass Claire mit ihrem losen Mundwerk aus der Gruppe fliegt. Aber schon zeigt sich recht erwartbar, dass hinter der harten Schale ein mitfühlendes Herz steckt. Regisseur Daniel Barnz mag mit dem Zynismus seiner Heldin etwas irgendwie Subversives im Sinn gehabt haben. Doch mit der genreüblichen Sentimentalität reiht sich "Cake" nur ein in die jüngste Reihe amerikanischer Filme über traumatisierte Oberschicht-Querulanten, die sich einen Film lang zynisch geben müssen, bis sie nach gelungener Resozialisierung am Schluss wieder Tränen vergießen dürfen.
Ein satirischer Beobachter seiner Umwelt
Von einem Handicap zu sprechen, wäre beim Helden des polnischen Films "In meinem Kopf ein Universum" eine kaum zu überbietende Untertreibung. Mateus leidet unter einer zerebralen Bewegungsstörung, das heißt, er kann keinen einzigen Körperteil kontrollieren. Kommunikation mit seiner Umwelt scheint unmöglich, im Polen der Achtzigerjahre kann die Medizin mit solchen Fällen nichts anfangen. Das macht eine Ärztin Mateus' Mutter drastisch deutlich:
Filmausschnitt "In meinem Kopf ein Universum":
"Sie müssen sich damit abfinden."
"Es könnte sich doch herausstellen..."
"Sie meinen, er kann alles verstehen? Sie werden nie mit ihm kommunizieren können, nie! Sie sollten ihn weggeben, es gibt dafür spezielle Einrichtungen."
"Was reden Sie da?"
"Aber es ist die Wahrheit. Sein Gehirn arbeitet nicht, sehen Sie das nicht? Er ist Gemüse."
Das sehen Mateus Eltern anders. Und tatsächlich erfährt der Zuschauer durch Mateus' Off-Kommentar, dass der Junge im Kopf völlig klar ist und seine Umwelt präzise wahrnimmt. Maciej Pieprzyca erzählt mit "In meinem Kopf ein Universum" unsentimental und lakonisch – nach einer wahren Geschichte – von einem geduldigen Helden, der mangels Alternative zum passiven und satirischen Beobachter seiner Umwelt wird – eine realistische Version von Oskar Matzerath aus der "Blechtrommel".
Es dauert Jahrzehnte, bis Mateus' Potenzial erkannt wird, und diesen Prozess schildern Pieprzyca und sein großartiger Hauptdarsteller mit so viel Witz und Phantasie, dass man selbst erstaunt ist, wie gefesselt man einem Helden folgt, der weder sprechen noch laufen kann. Wieder eine Perle aus dem momentan ziemlich aufregenden Filmland Polen.
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