Kurt Biedenkopf: "Aus meinem Tagebuch"

Sachsens Aufbaugeschichte - ohne Neonazis

Sachsens ehemaliger Ministerpräsident Kurt Biedenkopf (CDU) bei der Vorstellung seiner Tagebücher; Aufnahme vom September 2015
Sachsens ehemaliger Ministerpräsident Kurt Biedenkopf (CDU) bei der Vorstellung seiner Tagebücher; Aufnahme vom September 2015 © picture alliance / dpa
Von Sergej Lochthofen · 02.01.2016
Viele Details über den Aufbau der ostdeutschen Bundesländer und die starre westdeutsche Bürokratie beschreibt Kurt Biedenkopf, ehemals Ministerpräsident Sachsens, in seinen Tagebüchern. Aber den Aufstieg der Neonazis erklärt er nicht.
Wer sich eine unterhaltsame Lektüre vor dem Einschlafen, gespickt mit launigen Episoden und ätzenden Anekdoten erhofft, sollte sich lieber etwas anderes suchen.
Die Tagebuch-Aufzeichnungen von Kurt Biedenkopf sind genau das, was man erwarten muss – professoral, dozierend, manchmal anstrengend belehrend. So wie man ihn auch aus dem persönlichen Gespräch im kleinen Kreis oder aus Vorträgen und Talk-Shows kennt.
Vor allem den Lesern aus dem Osten wird einiges an Vorwissen aus Alt-Bundesrepublikanischer-Zeit abverlangt. Was man gerade im einstigen "Tal der Ahnungslosen" – wo sicher das Gros der Leser einer derartigen Lektüre zu verorten ist – nicht überall voraussetzen kann.
Interessantes jenseits von Eitelkeiten
Wer jedoch bereit ist, über all die kleinen Eitelkeiten hinwegzusehen, erfährt durchaus Interessantes, nicht nur vom segensreichen Wirken seiner Frau Ingrid, sondern auch über das bisweilen mühevolle Klein-Klein des Aufbaus in den neuen Ländern, das starre Beharrungsvermögen der alten westdeutschen Bürokratie, den zähen Widerstand der Ostseilschaften oder das Ränkespiel der alten und neuen politischen Eliten im vereinigten Deutschland.
Zugleich wird bereits nach wenigen Seiten bestätigt, was man im Grunde schon lange geahnt hat: Eigentlich war und ist Sachsen für die Größe seines Gedankenflugs von Anbeginn viel zu klein. Aber da gerade nichts anderes zur Verfügung stand, musste er sich damit begnügen, das Werk seiner Vorgänger – Könige und Kurfürsten – zu vollenden.
Und es gibt keinen Zweifel: Regent und Regierte, "König Kurt" und die Sachsen, passen gut zueinander. Dieses historische Aufeinandertreffen, davon ist man nach der Lektüre der vollen 1484 Seiten überzeugt, kann auch kein Zufall gewesen sein.
Bundeskanzler oder Bundespräsident?
Auf Seite 488 von "Ein neues Land entsteht" – dem zweiten Band der Erinnerrungen – bricht dennoch der Schmerz machtvoll aus ihm heraus: Was hätte Großes aus der Welt werden können, wenn er, Kurt Biedenkopf, damals nicht nur Landeschef in Sachsen, sondern Kanzler von Deutschland geworden wäre?
"Die CDU als Partei spielt keine Rolle mehr. Sie hat neben Kohl als Kanzler und der Fraktion kein Eigenleben mehr. Der Generalsekretär ist ungeeignet, der Vorstand weitgehend bedeutungslos ..."
Aber, er kennt den Super-Mann, der in dieser äußersten Notlage Deutschland hätte retten können:
"Chef einer großen Koalition, wenn es sein muss, kann ich mir vorstellen, obwohl ich lieber in Sachsen bleiben möchte. Für das Amt des Bundespräsidenten stehe ich nicht zur Verfügung."
Doch es kommt niemand und fragt – außer Ingrid, am 8. Juli 1993 im Bett:
"… ob es nun, nachdem wir (Manfred) Kanther (damals Bundesinnenminister, Anm. d. Red.) in Bonn hätten, der als Nachfolger Kohls in Frage komme, nicht doch bedenkenswert sei, das Amt des Bundespräsidenten anzustreben?"
Ein Glück, es ist Sommer, und er und Frau Biedenkopf erholen sich von den Strapazen eines politisch bewegten Jahres auf dem Landsitz und spielen mit der Garteneisenbahn. Was einen seltenen Einblick in das Innenleben eines Kurt Biedenkopf hinter Kurt Biedenkopf ermöglicht.
Den kleinlichen Aufschrei des Publikums, das sich nach Erscheinen der drei Bände fragt, warum die Veröffentlichung über 300.000 Euro "Zuschuss" durch den sächsischen Steuerzahler bedurfte, wird er genauso als Missgunst abtun, wie die Frage nach seiner Verantwortung dafür, dass Sachsen heute auf recht unrühmliche Art und Weise Schlagzeilen in der deutschen Politik macht.
Nichts zur rechten Szene
Die Tagebücher liefern viele Details zum Aufbau der neuen Länder im Allgemeinen und Sachsens im Besonderen. Wer jedoch Antworten auf Drängendes von heute sucht, wird leider enttäuscht.
Zum Beispiel: Wie konnte es passieren, dass sich trotz unbestrittener Aufbauleistung gerade in Sachsen Neonazis und Pegida festsetzten? Oder: Wie ist es dazu gekommen, dass ausgerechnet aus Sachsen heraus ein Mördertrio ausschwärmte, um Menschen in ganz Deutschland zu töten?
Auf all den vielen Seiten erfährt man dazu nichts. Obwohl für jeden, der damals die Ereignisse im Osten aus nächster Nähe erlebt hat, klar ist, dass gerade in den ersten Jahren nach dem Mauerfall nicht nur Heroisches vollbracht, sondern auch der Hass gesät wurde, dessen Saat heute aufgeht.
Doch mit solchen Nicklichkeiten hat sich ein Biedenkopf nicht befassen müssen, oder wollen. Man kann nur ahnen warum.

Kurt Biedenkopf
Von Bonn nach Dresden. Aus meinem Tagebuch Juni 1989 – November 1990
Siedler-Verlag, München 2015
432 Seiten, 29,99 Euro, auch als ebook

Ein neues Land entsteht. Aus meinem Tagebuch November 1990 – August 1992
Siedler-Verlag, München 2015
528 Seiten, 29,99 Euro, auch als ebook

Ringen um die innere Freiheit. Aus meinem Tagebuch August 1992 – September 1994
Siedler-Verlag, München 2015
528 Seiten, 29,99 Euro, auch als ebook

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