Kuratorin Vera Wieschermann

"Der Kaugummi ist aus der Kunst nicht wegzudenken"

Eine Skulptur von Qian Sihua steht in Sydney.
Eine Skulptur von Qian Sihua steht in Sydney. © WILLIAM WEST / AFP
Vera Wieschermann im Gespräch mit Ute Welty · 17.11.2018
In Stuttgart sollen Kaugummis künftig an Klebewänden entsorgt werden. Deren Geschichte reicht weit zurück: Schweden kauten ihn vor 9000 Jahren, Ella Fitzgerald besang das Kaugummi und heute werden selbst Burkas gelüftet, um Kaugummiblasen zu pusten.
Ute Welty: "Der Mensch ist nur ganz Mensch, wenn er kaut" – Friedrich Schiller möge mir diese Abwandlung verzeihen, aber wer in die Geschichte des Kaugummis schaut, der ahnt, dass der Kaugummi ein Spiegel der Gesellschaft ist. Seit Jahrhunderten kauen die Menschen auf irgendwas herum, auf Blättern, Hölzern, Harzen und das eigentliche Kaugummi entsteht Ende des 19. Jahrhunderts. Und damit auch das Problem, wohin mit den Resten? Das Internet ist voll mit Tipps, wie man Kaugummi von Schuhen, Hosen und Haaren am besten entfernt, in Stuttgart hat man jetzt die sogenannten Kaugummi-Wände eingerichtet – da kann man dann den ausgekauten Kaugummi auf einen Smiley kleben.
Intensiv hat sich Kulturmanagerin Vera Wieschermann mit der Geschichte des Kaugummis beschäftigt, unter anderem während der Vorbereitung einer Ausstellung in München, die sie kuratiert hat. Guten Morgen, Frau Wieschermann!
Vera Wieschermann: Guten Morgen!
Welty: Gehört ein ausgekauter Kaugummi an eine solche Wand wie jetzt in Stuttgart?
Wieschermann: Ich finde die Idee nicht so schön, weil ich denke, ein ausgekauter Kaugummi ist nicht unbedingt der ästhetische Geschmack eines jeden vorbeigehenden Menschen, deshalb bin ich persönlich nicht so überzeugt von dieser Idee.
An einen Laternenpfahl ist ein Metallkasten befestigt, auf den sind lachende Gesichter gedruckt. Auf dem Kasten steht: "Kauen, kleben, gehen".
Stuttgarter sollen ihre Kaugummis künftig an diese Metallkästen kleben© Marijan Murat/dpa
Welty: Wann haben Sie denn entdeckt, dass das Kauen von Kaugummis ein Thema für Sie ist?
Wieschermann: Das Kauen von Kaugummis habe ich als Thema entdeckt, als ich in Katar auf einer Burka-Messe war, und dort auf dieser Messe eben sehr viele verschleierte Damen waren, die immer wieder ihre Burka lupften und dann eine riesige Kaugummiblase zum Vorschein kam. Dann habe ich gedacht: Das ist doch wirklich faszinierend, egal in welcher Kultur, überall wird der Kaugummi gekaut. Das wollte ich erforschen, was da so spannend dran sein kann.
Welty: Ich bin jetzt fast geneigt, mit Ihnen weiter über die Burkamesse zu sprechen, weil das ist natürlich auch ein wahnsinnig interessantes Thema, aber wir bleiben mal beim Kaugummi. Verorten tut man ja den Kaugummi zwangsläufig in den USA. Ist das überhaupt richtig, ist der Kaugummi eine amerikanische Erfindung?
Wieschermann: Der Kaugummi ist tatsächlich eine amerikanische Erfindung. Wie Sie zu Beginn sagten, wird natürlich nicht erst seit Jahrhunderten, sondern seit Jahrtausenden gekaut, der älteste Kaugummi in dem Sinne war ein Harz, was gefunden wurde in Schweden. Aber die tatsächliche Herstellung des Kaugummis, wie wir ihn kennen, aus dem weißen Saft des Breiapfelbaums, dem Chicle, wurde von den spanischen Eroberern entdeckt und dann eben in Amerika professionalisiert. Der erste Kaugummi wurde 1848 tatsächlich in Amerika hergestellt von dem Herrn Mister Curtis Jackson.

"Der Kaugummi passt sich kulturellen Strömungen an"

Welty: Sie haben mal gesagt, Kaugummi stehe für Anpassung wie für Anarchie. Was genau haben Sie damit gemeint?
Wieschermann: Der Kaugummi passt sich interessanterweise sämtlichen kulturellen Strömungen an, gleichzeitig aber bricht er auch verkrustete, bestehende Tendenzen auf. Also zum Beispiel eine Frau, die Kaugummi kaut in den Dreißigerjahren, die war verrucht und stemmte sich quasi gegen die Erwartungen, wie eine Frau sich zu verhalten hatte.
Gleichzeitig aber passt sich der Kaugummi auch an Strömungen an: Beispielsweise in der Hippie-Zeit wurden bunte Klebebildchen in die Kaugummis gelegt oder im Hip-Hop wurden die Bubbles immer größer. So gesehen ist er gleichzeitig anpassungsfähig, aber er bricht auch bestehende Strukturen auf.
Welty: Warum ist die Werbung für Kaugummi eigentlich so bemerkenswert? Da werden ja Figuren geschaffen, die über die Jahre regelrechten Kultstatus erhalten.
Wieschermann: Die Werbung des Kaugummis ist eigentlich insofern bemerkenswert, weil gerade in der Werbung werden wirklich gesellschaftliche Strömungen dargestellt. Ich würde jetzt von den Kultfiguren eigentlich mal ganz weg gehen, aber zum Beispiel die erste offizielle Kaugummiwerbung war von Wrigley's. Dort wurde ein Orchester auf die Bühne gestellt, es tanzte eine Dame mit einem Herrn Walzer, die Dame im langen Ballkleid, und man sang "Wrigley's, Wrigley's, you are so beautiful!".
Später, im Laufe der Zeit, verwandelte sich die Rolle der Dame immer mehr und später kamen dann die ersten arbeitenden Frauen, die Kaugummi kauten. Sie erinnern sich bestimmt noch an die Werbung "Wrigley's Spearmint gum, gum, gum", wo auf einmal die Dame ein riesiges Paket Wrigley's unter dem Arm hielt und den Männern nur noch zuwinkte, das heißt, sie war auf einmal selbstständig geworden.
Das finde ich an der Werbung eigentlich das Spannende. Die zukünftige Ausrichtung hat sich auch schon angedeutet, zum Beispiel der Kaugummi hat als erstes Konsummittel die Genderwerbung mit aufgenommen.
Welty: Das heißt?

"Eine wunderbare, hyperflexible, künstlerische Verformungsmasse"

Wieschermann: Er hat zum Beispiel eine Werbung aufgenommen, wo einfach ein Transvestit mit einem Homosexuellen tanzt und sie sich verliebt an eine Kaugummikugel schmiegen. Das hat sich Coca Cola nicht gewagt, das hat sich niemand gewagt. Oder es gibt eine Werbung mit einer Sado-Maso-Szene, so einer leichten "Fifty Shades of Grey"-angehauchten Szene. Das heißt, der Kaugummi wagt sich in der Werbung auch in Tabuzonen, das ist natürlich toll, weil er bricht es damit auch wieder auf.
Welty: Wie viel Kunst kann der Kaugummi herstellen?
Wieschermann: Der Kaugummi selber stellt natürlich gar nichts her, aber er ist natürlich für Künstler eine wunderbare, hyperflexible, künstlerische Verformungsmasse. Selbst auf der Biennale in Venedig hat der Kaugummi Einzug gefunden, im Museum of Modern Art in Buenos Aires, er ist eigentlich aus der Kunstszene nicht mehr wegzudenken.
Ella Fitzgerald hat ihn schon besungen, eine Schlüsselszene in "Einer flog übers Kuckucksnest" ist, als der eigentlich als stumm gedachte Indianer zum ersten Mal mit Jack Nicholson spricht, als der ihm einen Juicy Fruit reicht. Und es gibt eben dann auch noch den mittlerweile sehr berühmten Künstler, der platt getretene Kaugummis in London auf der Straße mit wunderbaren kleinen Gemälden anmalt. Es gibt noch einen italienischen Künstler, der aus rosa Kaugummi gigantische Skulpturen baut. Also, die Bandbreite ist auch hier eigentlich grenzenlos, möchte ich sagen.
Welty: Die Geschichte des Kaugummis, die in Stuttgart und anderen Städten an den sogenannten Kaugummi-Wänden endet, wir haben einen Blick drauf geworfen mit Kulturmanagerin Vera Wieschermann. Ich danke Ihnen!
Wieschermann: Dankeschön, einen schönen Tag noch!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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