Kuratorin: Sportler wollten nicht in der DDR eingemauert sein

Jutta Braun im Gespräch mit Gabi Wuttke · 16.04.2012
In Neubrandenburg wird in der Ausstellung "Zentraler Operativer Vorgang 'Sportverräter'" die Flucht von DDR-Sportlern in den Westen dokumentiert. Man komme dazu, zu erkennen, dass Themen wie Republikflucht im Sport eine große Rolle gespielt haben, erklärt die Kuratorin Jutta Braun.
Gabi Wuttke: "Durch den Sport habe ich die Welt wirklich sehen können und aufgrund dieser Welt hinter der DDR war ich nicht mehr einzutakten." So kommentiert die einstige Spitzensportlerin Ines Geipel ihre Flucht in den Westen Deutschlands. Sie und 14 weitere Athleten bebildern die Ausstellung "Zentraler Operativer Vorgang 'Sportverräter' - Spitzenathleten auf der Flucht", die mit dem heutigen Tag in Neubrandenburg in Mecklenburg-Vorpommern angekommen ist.

Am Telefon begrüße ich deshalb um 8:40 Uhr Kuratorin Jutta Braun vom Zentrum für Sportgeschichte. Guten Morgen!

Jutta Braun: Guten Morgen!

Wuttke: War der Blick in die weite Welt für DDR-Spitzensportler der hauptsächliche Grund, das Weite zu suchen?

Braun: Es war nicht der hauptsächliche Grund, aber es war natürlich ein sportspezifischer Grund, weil Sportler natürlich immer ein bisschen was von der Welt gesehen hatten und sich dann schlecht vorstellen konnten, nach dem Ende ihrer aktiven Karriere wieder in der DDR eingemauert zu sein. Ansonsten gab es zahlreiche Gründe und wir versuchen, in unserer Ausstellung anhand von 15 Schicksalen eben auch die Vielzahl dieser Motive darzulegen. Das war Flucht vorm Doping-Zwang, Flucht vor dem Leistungsdruck, aber natürlich auch Gründe, die andere DDR-Bürger ebenso hatten wie Verärgerung über die politische Gängelung im System der DDR.

Wuttke: Zentraler Operativer Vorgang - was genau meinte das?

Braun: Das war ein bürokratischer Vorgang, angelegt vom Staatssicherheitsdienst der DDR, der darauf abzielte, aus der DDR geflüchtete Sportler weiter unter Beobachtung zu halten. Das heißt, man hat mit der Flucht diese Personen nicht aufgegeben, nein, man hat sie auch im Westen weiter bespitzelt, man hat ihre Angehörigen in der DDR weiter bespitzelt, man konnte sich sozusagen davon nicht lösen. Auf den Fußballspieler Eigendorf waren ja zig Spitzel angesetzt. Das war bekannt. Was eben weniger bekannt ist, ist die Tatsache, dass das für die anderen geflüchteten eben auch galt.

Wuttke: Worauf wurde denn von der Stasi mehr Energie verwendet, diese einstigen Sieger des DDR-Sports zu diffamieren, oder ihre Familien in der DDR unter Druck zu setzen?

Braun: Man hat sich auf beiden Gebieten große Mühe gegeben, muss man sagen, und die Diffamierung war etwas, was natürlich nach außen sichtbar war. Man hat Propagandaartikel geschrieben, man hat auch im Westen versucht, die Personen zu diffamieren. Was bislang aber eher unbekannt war, war die lange Leidensgeschichte der Familien, weil sie ja sozusagen kein Sprachrohr hatten.

Die Familie und Freunde wurden verhört und jahrelang von der Stasi überwacht oder sogar wegen Mitwisserschaft ins Gefängnis geworfen. Uns war es sehr, sehr wichtig, diese doch eher private unbekannte Seite hier auch in der Ausstellung zu präsentieren.

Wuttke: Haben die Familien darüber nach so langer Zeit leicht gesprochen?

Braun: Sie haben primär ja mit den Sportlern selber gesprochen und sie hatten natürlich in diesen Interview-Filmen, die wir in der Ausstellung zeigen, große Probleme, sich an diese unangenehmen Sachen zu erinnern, denn ein gewisses Schuldbewusstsein ist natürlich zuweilen da: weil ich geflohen bin, wurde meine Mutter unter Druck gesetzt.

Das war natürlich etwas, was von der SED-Diktatur auch ganz gezielt eingesetzt wurde und was dennoch bei den Betroffenen natürlich tief sitzt, und da sind schon ein paar Tränen geflossen, wenn sich der eine oder andere an seine Schwester oder an seine Mutter erinnert und was ihnen passiert ist.

Wuttke: Und wie muss man sich diese öffentliche Diffamierung via DDR-Medien vorstellen?

Braun: Es wurde ja grundsätzlich geleugnet, dass die Betroffenen freiwillig in den Westen abgehauen sind. Als zum Beispiel der Radfahrer Jürgen Kissner über den Lastenaufzug eines Hotels in Köln flüchtete, stand am nächsten Tag im Neuen Deutschland "Menschenraub am Kölner Dom". Also es wurde immer so hingestellt, dass die Geflüchteten Verräter seien, oder dass sie gegen ihren Willen entführt wurden, alles nur keine freiwillige Entscheidung aus politischen Gründen.

Wuttke: Der Fall Manfred Steinbach ist insofern besonders, weil dessen Flucht, wie ich in der Ausstellung gelernt habe, eine ideologische Disziplinierungswelle über den DDR-Sport brachte. Vielleicht können Sie uns das noch mal erklären.

Braun: Ja, das ist auch ein Aspekt, der bislang noch sehr stark unterforscht ist. Es gab natürlich viele Fälle politischer Justiz auch im DDR-Sport, und als Manfred Steinbach floh, wurde ein Schauprozess in stalinistischer Manier abgehalten, wo Lehren für die Bevölkerung gezogen wurden. Sein Trainer und ein ehemaliger Kollege wurden beschuldigt, sie hätten diese Flucht mit organisiert, und wurden sozusagen als Sündenböcke der Bevölkerung präsentiert und zu Zuchthausstrafen verurteilt. Hier wurde ganz klar politische Justiz angewandt, um abschreckende Wirkung zu erzielen.

Wuttke: Und warum ist das ganze noch unterforscht, wie Sie sagen?

Braun: Generell ist ja das Thema Repression im Sport erst langsam ins Bewusstsein der Öffentlichkeit und auch der Wissenschaft gedrungen. Man hat sich am Anfang sehr stark auf die Doping-Problematik konzentriert, die ja auch auf der Hand liegt, und erst langsam kommt man dazu, zu erkennen, dass Themen wie Republikflucht oder politische Justiz eben auch in diesem Bereich eine große Rolle gespielt haben.

Wuttke: Kuratorin Jutta Braun vom Zentrum für Sportgeschichte über "Zentraler Operativer Vorgang "Sportverräter" - Spitzenathleten auf der Flucht". Die Ausstellung ist nun in Neubrandenburg zu sehen. Frau Braun, besten Dank!

Braun: Ich danke auch.


Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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