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Édouard Louis: "Die Freiheit einer Frau"
Eine Frau tritt aus der Unsichtbarkeit

Erst Trennungen ermöglichen es oft, den Anderen zu erkennen. In "Die Freiheit einer Frau" entdeckt Édouard Louis den widerständigen Kern seiner Mutter und beschreibt, wie sie ihren Platz in der Gesellschaft findet. Auch wenn Louis der Literatur misstraut: Sein Schreiben wird immer poetischer.

Von Sigrid Brinkmann | 11.11.2021
Édouard Louis: "Die Freiheit einer Frau" Zu sehen sind der Autor und das Buchcover, auf dem das Gesicht einer Frau abgebildet ist.
Eine zufällig entdeckte Fotografie wurde zur Initialzündung für Édouard Louis‘ Erzählung (Cover: S.Fischer Verlag / Foto: picture alliance / dpa / Emilio Naranjo)
Über das unansehnliche, randständige Leben der Arbeiterklasse zu schreiben, das ist die Aufgabe, die Édouard Louis sich mit jedem Buch aufs Neue stellt. Er misstraut der Literatur und doch wird sein Schreiben immer literarischer. Sinnlicher und poetischer.
"Man hat mir gesagt, die Literatur dürfe niemals Gefühle zur Schau stellen, aber ich schreibe nur, um Gefühle hervorquellen zu lassen, die der Körper nicht ausdrücken kann."

Häusliche Gewalt und Entfremdung

In "Die Freiheit einer Frau" porträtiert Louis seine Mutter. Anfangs wollte er ihre Geschichte als "die Geschichte einer Frau" erzählen, so schreibt er. Doch während er Schlüsselmomente ihres gemeinsamen Lebens wachrief, begriff er, dass sie die längste Zeit daran gehindert worden war, eine Frau zu sein. Für den Ehemann war sie nur "eine dumme Kuh", ein "fettes Stück", ein "Trampel". Édouard Louis tritt an, die Mutter aus der Unsichtbarkeit zu befreien, und das ist ihm beispielhaft gelungen. Jedes Wort, mit dem er Szenen häuslicher Gewalt und die wachsende Entfremdung zwischen den Familienmitgliedern rekapituliert, erscheint zwingend.
Eine zufällig entdeckte Fotografie wurde zur Initialzündung für Édouard Louis‘ Erzählung. Das auf dem Cover des Buches abgedruckte Bild zeigt die Mutter mit Anfang zwanzig, ein paar Jahre vor Louis' Geburt. Mit zarten Worten vertieft sich der Autor in die Betrachtung dieser Momentaufnahme. Der glückliche Gesichtsausdruck wühlte ihn zutiefst auf.

Ohne Fürsorge aufgewachsen

"Als ich dieses Bild sah, spürte ich, wie die Sprache aus mir verschwand. Sie frei zu sehen, mit ganzem Körper in die Zukunft projiziert, rief meine Erinnerung an ihre mit meinem Vater geteilten Lebensjahre wach, die von ihm ausgegangenen Demütigungen, die Armut, zwanzig Jahre ihres Lebens versehrt und fast zerstört durch die männliche Gewalt und das Elend (…)."
Noch sehr jung hatte die Mutter davon geträumt, Köchin zu werden. Sie blieb ohne Ausbildung, war zwei Mal verheiratet und hat fünf Kinder geboren. Bei einem Dorffest, erinnert sich der Autor, lernten die Eltern eine jüngere Frau kennen, die an Liebeskummer litt. Sie trösteten sie und freundeten sich an. Nach ein paar Jahren brach die Frau die Beziehung abrupt ab. Die Zeilen, in denen Louis sich im Buch direkt an seine Mutter wendet, gehören zu den anrührendsten. Freundschaft, das spürt man, hat für ihn, der ohne Fürsorge aufwuchs, einen existenziellen Wert.
"Irgendwann dachtest du, die Freundschaft könnte dich aus diesem Leben befreien (…). Je häufiger Angélique kam, desto mehr übernahmst du von ihr, sie machte Friseurtermine für dich, nachdem du dir jahrelang die Haare selber mit der Küchenschere geschnitten hattest, sie brachte dir Wendungen bei, die dir mehr Selbstvertrauen gaben, jetzt sagtest du 'durchaus', wenn jemand etwas erzählt, weißt du noch? Dein ganzer Körper veränderte sich. Die Traurigkeit verschwand aus dir."

Die Fähigkeit, Glück zu empfinden

Mit 45 Jahren vollzieht Édouard Louis‘ Mutter den entscheidenden Schritt hin zu ihrer Befreiung: Sie setzt den Ehemann, der nicht müde wird, sie zu demütigen für all das, was das Leben ihm verweigerte, vor die Tür. Aus seinem Gesicht, so der Autor, sollte das Unglück nie mehr verschwinden. Die Mutter hingegen nimmt ihr Leben in die Hand. Sie zieht vom Dorf nach Paris. Sie hat einen neuen Partner. Die auffälligste Veränderung, so Louis, ist, dass sie "ihr Leben im Futur formuliert".
Und das, obwohl "die bourgeoisen Frauen aus ihrer Straße ihr voller Herablassung begegnen. Sie gibt zu, An manchen Tagen langweile ich mich, ich habe hier keine Freunde. Die Leute hier sind anders als wir. Ist eine Veränderung immer noch eine Veränderung, wenn sie in einem gewissen Maße von der Gewalt der Klassenordnung eingeschränkt wird?"
Édouard Louis weiß keine Antwort auf diese Frage. Die Mutter sagt, sie sei glücklich. Die Freimütigkeit, mit der er sich zu einer gewissen Ratlosigkeit bekennt, zieht einen ganz auf die Seite des Autors und lässt einen wünschen, dass er in einem nächsten Buch tatsächlich der angedeuteten Frage nachspürt, ob die Fähigkeit, Glück zu empfinden, nicht die wahre Grundbedingung sein könnte für individuellen wie gesellschaftlichen Wandel.
Édouard Louis: "Die Freiheit einer Frau"
aus dem Französischen von Hinrich Schmidt-Henkel
S. Fischer Verlag, Frankfurt a.M., 96 Seiten, 17 Euro.